Superbike-WM Technik
Öhlins-Fahrwerkselektronik

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Das neue, elektronisch gesteuerte Fahrwerk des schwedischen Spezialherstellers Öhlins trug wesentlich zum Höhenflug der beiden Werks-Yamaha in der zweiten Saisonhälfte der Superbike-WM bei. Aber die Regelhüter der Rennserie wittern Unheil und wollen die elektronischen Setup-Hilfen gleich wieder verbieten.

Öhlins-Fahrwerkselektronik
Foto: 2Snap

Öhlins-Fahrwerkselektronik

Martin Lugnberg und Anders Andersson wissen nicht mehr so recht, ob sie stolz sein sollen auf ihren jüngsten Geniestreich: Der Entwicklungsingenieur und der Renndienstleiter von Öhlins haben viel Arbeit in eine Neuentwicklung mit dem unscheinbaren Namen "Öhlins EC" gesteckt, welche die Fahrwerkstechnik von Renn- und Serienmotorrädern revolutionieren könnte. "Mit unserem neuen System können wir die Abstimmung von Gabel und Federbein variabel gestalten", erklärt Lugnberg. "Präziser: Wir können das Setup so programmieren, dass es bis zu 20-mal pro Runde seine Einstellung ändert. Damit steht dem Fahrer in fast allen Situationen das annähernd perfekt abgestimmte Fahrwerk zur Verfügung."

Die genaue Arbeitsweise des Systems, das auf den bekannten Öhlins-Fahrwerkskomponenten TTXL basiert, will Lugnberg nicht enthüllen. Im Höcker von Noriyuki Hagas und Troy Corsers Werks-Yamahas sitzt das Steuergerät des Fahrwerks jedoch unmittelbar neben dem Steuergerät der 2D-Data-Recording-Anlage. Man kann also spekulieren, ob zum Beispiel die Fahrwerkselektronik mit GPS-Daten gefüttert wird. Beim Auftritt der Superbike-WM im Miller Motorsports Park/USA Mitte der Saison hat Öhlins das neue System erstmals eingesetzt. Lugnberg wird sehr deutlich: „Wir reden beim EC-gestützten Fahrwerk noch nicht von einem vollaktiven oder adaptiven Fahrwerk. Ich würde es als semiaktiv bezeichnen. Wir sind derzeit lediglich in der Lage, mit dem Fahrer zusammen ein Programm für die betroffene Rennstrecke zu erstellen, das dann abgerufen wird und dem Piloten die Arbeit erleichtert, weil das Setup feiner ist. Interessant dabei: Haga und Corser spürten zunächst kaum Unterschiede zum konventionellen Fahrwerk. Dann aber erkannten sie, dass sie einige Zehntel schneller fuhren."

Genau an diesem Punkt verstehen die Schweden die Aufregung der Superbike-WM-Agentur FGSport und des internationalen Motorradsportverbandes FIM nicht, die schon 2009 zum Verbot der neuen Helferlein führen könnte. "FGSport-Chef Paolo Flammini will unser System verbannen, weil er Angst vor einer Kostenexplosion hat", weiß Anders Andersson. "Davon kann aber keine Rede sein. Selbstverständlich wollen wir das EC-System verkaufen, wenn die Entwicklungsphase abgeschlossen ist. Die von Flammini und der FIM kolportierten Summen im sechsstelligen Bereich, dazu ein hochbezahlter Spezialingenieur pro Team, das ist doch alles Unsinn. Wir gehen davon aus, dass das fertige System für nicht viel mehr als 5000 Euro pro Einheit verkauft und von jedem Daten-Spezialisten eines Teams leicht bedient werden kann."

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Pandoras Box?

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Ex-Superbike-WM-Fahrer Anders Andersson will seine Fahrwerkselektronik weiter entwickeln, erstaunlich günstig verkaufen und bald auch in Serienmaschinen einsetzen.

Die Superbike-WM-Regelwächter allerdings vermuten in der leuchtend orangen "Blackbox" eine Büchse der Pandora, die, einmal geöffnet, nie wieder unter Kontrolle zu bringen ist. Auch die niederländische Fahrwerksfirma WP und das Ten-Kate-Honda-Werksteam arbeiten gemeinsam an einem ähnlichen System. Außerdem künden die Informationen aus dem kommenden BMW-Superbike-Projekt ebenfalls von hochkomplexen Elektronik-Systemen. "Die Superbike-WM ist derzeit in einem sehr guten Zustand", kommentiert FGSport-Geschäftsführer Paolo Flammini. "Wir haben sehr spannende Rennen, ein volles Startfeld und ab 2009 sieben Hersteller mit sehr konkurrenzfähigen Maschinen. Das sollten wir nicht mit kaum zu überwachenden elektronischen Extremlösungen gefährden. Außerdem ist die Superbike-WM eine Rennserie mit Maschinen, die aus der Serienproduktion stammen."

Genau hier allerdings haken die Öhlins-Spezialisten ein. Martin Lugnberg fasst es so: "Wir sehen unser EC-System nicht nur im Rennsport. Parallel arbeiten wir an elektronisch gesteuerten Fahrwerken für Straßenmaschinen. Vor allem die großen Tourenmotorräder sind ein großes Potenzial für EC-Fahrwerke, denn dort geht es um maximalen Fahrkomfort unter ständig wechselnden Bedingungen. Wir sehen einen bedeutenden Markt für derartige Systeme im Serienbereich, und es sollte nicht passieren, dass die Superbike-WM-Maschinen bald technische Rückstände gegen über Serienmotorrädern haben." Die Öhlins-Techniker wären unter Umständen bereit, über eine zentral überwachte Fahrwerks-ECU zu reden, möchten aber nicht zurückgeworfen werden in die konventionellen Zeiten. Ein bisschen stehen die Fahrwerkselektroniker jetzt auch als Sündenböcke da, denn antriebsseitig ist Pandoras Büchse weit offen: Traktions- und Startkontrolle sowie ein Drehmoment-manipulierendes Motormanagement gehören in der Superbike-WM längst zum Alltag.

Und wie stehen die Fahrer zum EC-Fahrwerk? Troy Corser findet echte Vorteile derzeit "nur beim Bremsen. Da ist die ganze Fuhre wesentlich ruhiger und stabiler. Du kannst später, feiner und weiter in die Ecke reinbremsen als mit dem Standard-Fahrwerk. Ansonsten würde ich den Unterschied als nicht so schwerwiegend bezeichnen." Aber auch Corser setzte das EC-System regelmäßig ein und zeigte gegen Saisonende klar aufsteigende Form. Der australische Altmeister kommt also mit Vorwissen in Sachen Fahrwerkselektronik bei seinem neuen Arbeitgeber BMW an, wo er an der S 1000 RR ebenfalls Öhlins-Technik vorfindet. Nicht nur die Schweden, sondern auch die Bayern haben demnach großes Interesse an einem Elektronik-Kompromiss statt dem pauschalen Bannstrahl von FIM und FGSport.

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Erscheinungsdatum 10.05.2023