Wenn MOTORRAD und die Messer von 2D zugange sind, geht es nur um eins: Daten, Daten, Daten. Denn die Sensoren sezieren ein Sportmotorrad scheibchenweise. Und zeigen, wie viel vom Potenzial wirklich genutzt wird.
Kennen Sie den? Sitzen sechs Biker am Stammtisch, und keiner gibt an! Oder anders ausgedrückt: Warum verklärt sich eine gemütliche Kaffeefahrt im Nachhinein häufig zur Heldenprosa? Klaffen subjektive Wahrnehmung und tatsächliche Gegebenheiten zwangsläufig weit auseinander?
Die Antworten gibts, wie so oft, nur auf der Piste. Dieses mal sogar Schwarz auf Weiß. Weil Spezialisten wie Dirk Debus und Rainer Diebold (2D) im GP-Zirkus schon seit Jahren Daten erfassen und auswerten und sich auch für die Landstraße nicht zu schade sind.
Die Aufgabenstellung ist einfach: Eine Yamaha YZF-R6 , eine Suzuki GSX-R 750 , eine Honda CBR 900 RR und eine Kawasaki ZX-12R sollen derart verdrahtet werden, dass die positive und negative Beschleunigung (umgangssprachlich Beschleunigen und Bremsen), Drehzahl, Geschwindigkeit und Drosselklappenstellung aufgezeichnet werden. Außerdem wird an der Honda stellvertretend für alle die Oberflächentemperatur der Reifenschultern ermittelt (siehe Kasten Seite 24).
Nach zwei Tagen sind alle Strippen gezogen, alle Sensoren verbaut und alle Logger das sind die Datenspeicher an Ort und Stelle auf den Tanks. Los gehts Richtung Südfrankreich. Ziel: das verträumte Örtchen Ledenon, in herrlicher Landschaft mit wunderbar geschwungenen Asphaltbändern gelegen, das zudem über einen winkeligen und sehr selektiven Rennkurs verfügt. Als Referenz. Doch zunächst gilt die sport-touristische Variante. Jeweils 32 Kilometer, gespickt mit engsten Ecken, schnellen Bögen, kurzen und langen Geraden. Jeder Fahrer auf jedem Motorrad. Auf der quicklebendigen Yamaha YZF-R6. Auf der formidablen Suzuki GSX-R 750, auf der ausgewogenen Honda CBR 900 RR und auf der brachialen Kawasaki ZX-12R.
Halt, stopp! Schon haben wir es wieder. Alles richtig. Aber alles Empfindungen, Gefühle! Ganz wichtig. Beim Kradeln und auch sonst. Und was sagen die unbestechlichen Sensoren? Schiebt die Kawa wirklich so unerbittlich an? Tut sie. Auch auf der Landstraße. Zu Spitzenzeiten mit bis zu 8,3 m/s2. Physikalisch korrekt ausgedrückt. In gängigen Größen: in 3,3 Sekunden von null auf Hundert. Oder bildlich: etwas mehr, nämlich 9,81 m/s2 das ist die Erdbeschleunigung, der freie Fall. Konkret heißt das: Selbst dieser Brocken lupft dann das Vorderrad. Im zweiten Gang. Im Dritten schiebt sie kaum weniger. Und im Vierten auch nicht. Merkt doch jeder. Braucht man dafür Sensoren?
Nicht wirklich. Aber dafür: Im Mittel pendelt sich die Beschleunigung der Kawa bei runden drei m/s2 ein (siehe Grafik Seite 19). Knapp dahinter landet die Honda. Ebenso Suzuki und Yamaha. Eigentlich alles ein Level. Werden hier Hubraum, PS wird hier Prestige nivelliert?
Nein, sicher nicht. Schließlich geht es auch um Drehzahl, ums Schalten (siehe Grafik). Doch der Reihe nach: Der Drehzahl-Spitzenwert der ZX-12R liegt bei gut 6500/min, gefahren im dritten Gang. Voll geöffnete Drosselklappen vorausgesetzt, stehen dann schon 109 PS zur Verfügung. Im Durchschnitt hingegen liegt die Drehzahl eindeutig am unteren Ende des verfügbaren Bandes bei sittlichen 3700/min. Das entspricht rund 50 PS und nicht einmal 30 Prozent der möglichen Leistung. Aber auch satten 100 Newtonmetern. Ein Wert, den die R6 nicht einmal in ihrer Drehmomentspitze (67 Nm) erreicht.
Die Leistung hingegen schon. Sie toppt sie sogar. 12200/min registrieren die Sensoren. Mit erhobenem Vorderrad gefahren im zweiten Gang. Mehr geht nicht, denn der Leistungszenit des kleinen 600ers liegt bereits 50/min vorher an. 113 PS werden dann mobilisiert. Im Schnitt aber belässt es auch die R6 trotz des guten Willens aller Piloten bei rund 5600/min. Dann liegen etwa 41 PS und 52 Nm an. Für die Landstraße reicht das.
Der GSX-R und der CBR reichen, wenn es um Spitzendrehzahlen geht, sogar weniger. 10500/min der Suzuki, 9000/min bei der Honda. Macht jeweils über 120 PS bei einem Drehmoment von 83 beziehungsweise 99 Nm. Kurzfristig, sehr kurzfristig. Im Mittelwert pendelt sich das Drehzahlniveau bei 5300/min (GSX-R) und 4500/min (CBR) ein. Und die abgerufene Leistung bei 48 und 53 PS, womit sich Kawa und Yamaha in bester Gesellschaft befinden. Nämlich ziemlich exakt auf dem Leistungsniveau eines motorenseitig am Limit bewegten Mittelklassemotorrads. Ende der Durchsage?
Nein, schließlich gibt es ja noch den Circuit de Ledenon. Wenn das Leben eine Achterbahn ist, komprimiert dieser Kurs Jahre zu Sekunden. Hoch, runter, rechts, links, Kuppe, Kurve, uuiiiiiiuiui. Fahren am Limit, hier ist richtig was los. Hier sind Mensch und Maschine voll gefordert. Subjektiv. Und was sagen die Sensoren? Richtig Gas geben ist auch hier nicht so einfach. Einmal, am tiefsten Punkt der Strecke Richtung Start/Ziel, sonst geht´s eher bedächtig zu, weil man ständig schräg unterwegs ist. Gut für die Oberflächentemperatur der Reifen, schlecht für die Beschleunigung. Man wagt es kaum zu sagen: Im Mittel liegen die erreichten Werte sogar unter den Landstraßenwerten. Aber puhh es gibt Entschuldigungen: Nur geradeaus kann man immer richtig am Quirl drehen. Egal, ob Landstraße oder Rennstrecke. Und auf der Landstraße geht es einfach mehr geradeaus. Außerdem: Da man selbst auf dem verwinkelten Kurs durchschnittlich deutlich schneller unterwegs ist als in der freien Wildbahn, fällt die Beschleunigung zwangsläufig nicht so prall aus. Weil mit steigender Geschwindigkeit die Beschleunigung aufgrund des überproportional ansteigenden Luftwiderstands abnimmt.
Trotzdem: Zur Ehrenrettung muss ein anderer Faktor herhalten. Kurz gesagt: Hier dreht was. Beispiel R6: Auf der Landstraße noch auf der Standgasdüse unterwegs, muss die Yamaha auf dem Circuit de Ledenon ans Eingemachte gehen. Im Schnitt 10500/min. Bei dieser Drehzahl mobilisiert der kleine Reihenvierer immerhin 100 seiner 113 PS. Nach oben ist nicht mehr viel Luft.
Bei GSX-R und CBR verhält sich das anders. Nicht, was die durchschnittlich abgerufenen Pferdestärken angeht (rund 90 bei 8200/min die Suzuki, rund 108 bei 7700 die CBR), sondern bei der Spitzenleistung. Kurzfristig stürmen nämlich beide auf ihren Leistungszenit. Das gilt auch für die Kawa, die auf der Zielgerade bei 10000/min ihre gewaltigen 171 PS einsetzt sich im Schnitt aber bei 5800/min und 95 PS sauber ins Feld einfügt. Also: im Verhältnis zum statistischen Landstraßengebummel Sturm und Drang.
Der wiederum will auch eingebremst sein. Auf der Straße und auf der Piste aber auf letzterer angesichts der eingesetzten Leistung doch viel energischer. Selbst wenn auf der Landstraße mit maximalen Verzögerungswerten zwischen sechs und sieben m/s2 ordentlich hingelangt wird, gilt: Die durchschnittlichen Werte fallen mit 3,0 bis 3,2 m/s2 deutlich niedriger aus. Der Vergleich zur Rennstrecke macht dann klar: Es geht auch deutlich mehr. Hier lassen sich Werte bis zu 12,1 m/s2 erzielen, im Schnitt sind es immerhin zwischen 4,5 und 4,7 m/s2.
Und was lernen wir daraus? Dass es ein Skandal ist, angesichts der durchschnittlichen Drosselklappenstellung, der durchschnittlichen Drehzahl, der durchschnittlichen Verzögerung mehr zu fordern. Denn: Egal, in welcher Klasse, auf der Landstraße wird nicht einmal das Gebotene annähernd ausgeschöpft. Erst die Rennstrecke zeigt, was möglich ist. Aber auch, dass selbst hier noch Leistungsreserven vorhanden wären. Und dass es am Fahrer liegt, jene auszuschöpfen. Hugh, die Sensoren haben gesprochen.
So, und jetzt haben eben jene Fahrer das Wort. Sprechen über den unglaublichen Schub einer ZX-12R schon bei niedrigen Drehzahlen. Interpretieren 22 Prozent durchschnittliche Drosselklappenöffnung als souverän. Da gehen die fein dosierbaren Bremsen der Honda CBR 900 RR als Komfortausstattung und nicht als Techikfeature durch und die Drehfreude einer Yamaha R6 nicht als lebensnotwendig, sondern als angenehmer Kick zwischendurch. Und alle sind sich einig: Mehr fordern wäre vermessen, mehr haben hingegen befriedigt durchaus. Mehr einsetzen jedoch wäre in der Tat ein Tanz auf des Messers Schneide.
Reifentemperatur
Der Reifen, das unbekannte Wesen. Was macht er, was kann er und wo sind seine Grenzen? Auch in dieser Beziehung hilft Data-Recording weiter. Zumindest, wenn es darum geht, die Oberlflächentemperatur zu ermitteln. Im Fall der CBR 900 wurden rechts und links auf der Schwinge Infrarotsensoren angebracht, die die Flankentemperatur des Pilot Sport überwachen. Ergebnis: Bei gleichen äußeren Bedingungen (ca. 10 Grad Außentemperatur) werden im Renneinsatz weitaus höhere Werte erreicht. Beispielhaft hierfür die Temperaturentwicklung der linken Flanke. Auf der Landstraße. Und auf der Rennstrecke, die weil gegen den Uhrzeigersinn gefahren deutlich mehr Links- als Rechtskurven hat.Auf der Landstraße reicht die Temperaturen von 27 bis 40 Grad, auf der Rennstrecke von 38 bis 68 Grad. Und liegen damit laut Auskunft von Michelin fast vollständig in dem Bereich, in dem dieser Reifen uneingeschränkt funktioniert. Wobei nach unten selbst bis in einstellige Temperaturbereiche Luft wäre, es oben bei 68 Grad für den Straßenreifen Pilot Sport aber langsam eng wird.
Data-Recording
Data-Recording: Das sind bunte Linien auf schwarzem Grund. Abstrakte Kunst, schwarze Magie, deren Interpretation nur Eingeweihten möglich ist. Erdacht, um zu verifizieren, was sonst nur vermutet werden kann. Weil Sensoren objektiv sind. Immer nur registrieren, nie kommentieren. Aber auch nie sortieren. Sie liefern eine Flut von Daten. Jede Kurve, jede Schikane, jede Gerade.Das will gespeichert und ausgewertet werden. Nach jedem Turn ist Erich Schöbel da. Unser 2D-Mann vor Ort überspielt die Daten aus dem Logger in sein Notebook. Checkt, ob alle Sensoren funktionieren. Wenn alles passt, gehts weiter. Allein 50 Ausdrucke (Beispiele rechts) lieferte 2D für diese Geschichte ab, und es hätten noch viele mehr sein können. Jeder noch so kleine Streckenabschnitt, jede Kurve, jeder Fahrer hätte so bis ins kleinste analysiert werden können. Nicht nur nach den hier angelegten Kriterien. Welche Gasgriffstellung in welchem Gang in welcher Kurve? Kein Problem. Wo passt welche Getriebeabstufung am besten? Aber bitte! Doch das würde den Rahmen sprengen. Weil es um den Unterschied zwischen Landstraße und Rennstrecke geht. Darum, wie viel Potenzial wo genutzt wird. Und da ist Vergleichbarkeit erst nach vielen Kilometern, vielen Runden und vielen Fahrern garantiert. Da müssen Mittelwerte her. Nach vielen Stunden der Analyse.
Beschleunigung
Geht es um die positive Beschleunigung, liegen die Werte für Landstraße und Rennstrecke Kopf an Kopf. Beispiel Honda: Die durchschnittliche Beschleunigung liegt bei 3 m/s2. Trotzdem markiert sie mit 9 m/s2 auf der Rennstrecke den absoluten Spitzenwert. Aber nur an einer Stelle, an der die Übersetzung des zweiten Gangs perfekt passt. Anders bei der ZX-12R: Die Macht des Motors schiebt die Grüne in jedem Gang nach vorn, während die R6 speziell auf dem Rundkurs an ihrer Leistungsgrenze fährt.Beim Bremsen verkehrt sich die Sache. Zumindest, wenn es um den Spitzenwert auf der Landstraße geht. Hier liegt die R6 mit 6,9 m/s2 vorne, gefolgt von CBR, ZX-12R und GSX-R. Im Mittel verzögern alle annähernd gleich mit 3,0 bis 3,3 m/s2. Auf der Rennstrecke liegen alle Werte deutlich höher. 12,1 m/s2 legt die Kawa mit langem Radstand und günstiger Gewichtsverteilung vor, die CBR immerhin noch 10 m/s2, während es die Fahrer bei der schlecht dosierbaren Anlage der GSX-R bei nur 8,5 m/s2 belassen. So verliert die Suzuki auch beim Mittelwert, der mit 4,5 m/s2 aber immer noch deutlich über dem Landstraßenwert liegt.
Gang und Drehzahl
Von Honda bis Yamaha: Es stehen jeweils sechs Gänge zur Verfügung. Und sie werden ganz unterschiedlich genutzt. Beispiel YZF-R6 und ZX-12R: Während der Yamaha-Pilot jeden Gang braucht und die Gänge weit ausdreht, kommt der erste bei Honda, Kawa und Suzuki nicht zum Einsatz. Unterschiede auch beim Schaltzeitpunkt: Der Kawa-Pilot legt den nächsten Gang ein, bevor es richtig losgeht. Denn schon der Dampf zwischen 2000/min und 6000/min reicht völlig aus. Die Folge: Der Kawa-Pilot schaltet nur 49-mal, der Yamaha-Treiber 58-mal. In dieser Hinsicht schiedlich-friedlich in der Mitte treffen sich mit 52 Schaltvorgängen die Honda und Suzuki. Auch dort werden die Gänge zwei bis sechs benutzt. Der Unterschied: trotz vergleichbarer Spitzenleistung ist die hubraumschwächere Suzuki generell mit höheren Drehzahlen unterwegs.Das gilt für die Rennstrecke sowieso. Dabei sinkt die Zahl der benutzten Gänge. Den Sechsten braucht hier nicht einmal die R6, den Ersten schon, während die CBR und GSX-R mit den Gängen zwei bis fünf auskommen. Der starken und am längsten übersetzten ZX-12R reicht selbst auf der Zielgeraden der Vierte.
Drehzahl und Gasstellung
Wenig überraschend: Die R6 jubelt im Schnitt in den höchsten Tönen, die ZX-12R mit dem doppelten Hubraum dreht am niedrigsten. GSX-R 750 und CBR sortieren sich ordentlich nach Hubraum gestaffelt in der Mitte. Dabei liegt das Drehzahlniveau auf der Landstraße deutlich unter dem der Rennstrecke, die Rangfolge bleibt aber in jedem Fall gewahrt.Viel überraschender, weil hier subjektive Wahrnehmung und objektive Messwerte weit auseinanderklaffen: der Prozentsatz, zu dem die Drosselklappen im Schnitt geöffnet sind. Und dieser Wert bezieht sich nicht auf den gesamten Turn, sondern lediglich auf die Beschleunigungsphasen. Dass die Rennstreckenwerte durch die Bank unter den Landstraßenwerten liegen, hat zwei Gründe. Erstens: Außer der Zielgeraden ist Vollgas auf dem engen Kurs praktisch nicht möglich, weil man sich entweder in Schräglage befindet oder schon die nächste einleitet. Zweitens: Durch das deutlich höhere Drehzahlniveau liegt beim Öffnen der Drosselklappe in jedem Fall mehr Leistung an, während auf der Landstraße im hohen Gang selbst ein beherzter Zug am Kabel relativ wenig Vortrieb bedeutet.
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