Auf Achse: Gilera B 300, UT TS 252

Auf Achse: Gilera B 300, UT TS 252
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Musik liegt in der Luft

© Jahn

Die Luft bebt zwar nicht, aber sie schwingt schön: im Viertakt mit der Gilera B 300, im Zweitakt mit der UT TS 252. Die beiden Zweizylinder aus den 50er-Jahren laden zu einem Vergleich geradezu ein. Fahren Sie mit uns durch die schwäbischen Weinberge.

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Musik liegt in der Luft, wenn Gilera B 300 und UT TS 252 ihr Duett fahren. Italienischer Viertakt-Klang und deutsche Zweitakt-Musik machen Wälder und Fluren kurzweilig, die Motorräder sind dies beim Fahren sowieso. Im Hintergrund und -kopf erwacht das Schallarchiv mit klassischem Liedgut der 50er-Jahre und will, wie damals aus dem Röhrenradio, seinen Teil beitragen. Stark an Rudi Schuricke erinnert dabei die Gilera, zur UT würde die Stimme von Caterina Valente gut passen.

Die Gilera geht musikalisch in die Tiefe der vier Takte, tönt schwer, stark und gleichmäßig. Technisch am ehesten vergleichbar mit einem englischen Gleichläufer im Kleinformat. Die UT strebt klanglich in die höheren Zweitaktgefilde, lässt dabei einen durchaus selbstbewussten Unterton mitschwingen. Ungefähr so, wie man sich eine Zweizylinder-Yamaha der späten 60er-Jahre vorstellt, die zur TÜV-Vorführung sicherheitshalber mal zugestopft wurde. Zwei Zweizylinder stellen sich hier zum Vergleich, ein Einheimischer und ein von jenseits der Alpen Zugereister, ein Zweitakter und ein Viertakter. Beide sind Kinder der 50er-Jahre und repräsentierten damals die solide Mittelklasse des Zweiradmarktes. Auf den ersten Blick gehören sie in dieselbe Welt, auf den zweiten Blick liegen Welten zwischen ihnen.

Die Gilera B 300 sollte in Italien die Mittelklasse erobern. Dazu musste sie einerseits eigenständig auftreten, andererseits durfte sie sich nicht zu weit von ihren englischen Vorbildern entfernen. Also bekam sie einen hubraumstarken Zweizylinder. Sie verzichtete auf sportlichen Firlefanz, blieb klein, leicht, sparsam und erschwinglich. Letzteres verbot naturgemäß die Neuerfindung des Zweirads, aber da war ja bereits die erfolgreiche Ein­zylinder-150er. Aus eins mach zwei, fertig, und so einfach erklärt sich der ungewöhnliche Hubraum. Ein glattflächiger Blockmotor mit 360 Grad Hubzapfenversatz kam dabei heraus, äußerlich kaum als Viertakter zu erkennen. Stirnräder treiben die Nockenwelle an, Stoßstangen betätigen die beiden parallel im Kopf hängenden Ventile, eine Duplexkette und eine Ölbadkupplung übertragen das Drehmoment aufs Vierganggetriebe.

Auch der Rahmen ähnelt optisch dem der 150er, ist aber steifer und integrierte den Motor als tragendes Element. Zweiarmschwinge mit Federbeinen und Teleskopgabel markierten den Stand der Technik im Zweiradbau. Der Schwingsattel ist ein bequemes Relikt seiner Zeit. Im Frühjahr 1953 begann die Serienfertigung. Bereits 1955 kamen optische und technische Retuschen: geändertes Tankdesign, vor allem aber größere Bremsen, so wie am Testexemplar von MOTORRAD CLASSIC. Ab 1956 gab es das Modell Extra mit Doppelsitzbank, mit einem von 15 auf 19 Litern vergrößerten Tank und mehr Leistung. Eine von 6 auf 6,5 erhöhte Verdichtung, größere Ventile (Tellerdurchmesser um 1,5 auf 24 mm gewachsen) und ein 22er-Vergaser statt dem 20er steigerten die Leistung von 12,5 PS bei 5800/min auf 15 bei gleicher Drehzahl.

Thermische Probleme am Motor und an der Elektrik begleiteten die B 300. Der Regler wanderte unter den Tank, Kolben und Zylinder erfuhren eine Überarbeitung. 1961 wurden Zylinder, Kolben und Zylinderköpfe komplett umgestaltet sowie die Kurbelwelle verstärkt. Einfach zu erkennen ist diese letzte Version an der Lage der Zündkerzen: Sie sind jetzt seitlich angeordnet. Die Leistung stieg auf 20 PS, das Gewicht leider um 15 kg. Ende 1969 stellte Gilera die B 300 ein.

© Nöll
Auf Achse: Keller-Gilera dohc Keller-Kind

Markenhistorie, Technik

© Jahn

Gilera B 300.

Die Marke Gilera zu kennen, weist niemanden als besonderen Motorradkenner aus. Die Frage nach dem Namen UT ließe sich schon eher in der Sendung "Wer wird Mil­lionär" ansiedeln. Gilera gab's ab 1909, UT ab 1922. Das Kürzel stand für die Stuttgarter Vorstadt Untertürkheim. UT baute nie eigene Motoren, sondern setzte als Konfektionär auf Motorenzulieferer: Bekamo, JAP, Blackburne, Bark, Küchen und Ilo, in zeitlicher Abfolge. Mit Ilo und eben auch der TS 252 baute UT in den 50er-Jahren seine Geschäfte aus, war aber nicht einfach nur Konfektionär, wie es sie in Deutschland zu Dutzenden gab. UT war immer mehr, bot technisch Solides, vor allem Qualität. Wenn etwas nicht auf Anhieb klappte, bekam der Kunde Nachbesserungen, meist auf höchstem Niveau.

Sogar Sensationelles stellte UT auf die Räder: Die 1951 vorgestellte TS 250 war das erste deutsche Motorrad mit Hinterradschwinge und ölgedämpften Federbeinen. Die erlaubten hinten satte 12 Zentimeter Federweg, die UT-eigene, von Jan Friedrich Drkosch kon­struierte Teleskopgabel glänzte gar mit 14 Zentimetern. Ein Fahrwerk, von der Papierform her richtungsweisend für den modernen Fahrwerksbau – und zudem stellte es seine Qualitäten auch in der Praxis unter Beweis.

Das Chassis der TS 250 war deutlich schneller als ihr 250er-Einzylinder-Zweitakter von Motorenbauer und -zulieferer Ilo mit Sitz in Pinneberg. Also geradezu prädestiniert für deren letzte Schöpfung: der Ilo-Zweizylinder, Typ M2-125. UT präsentierte die TS 252 im Jahr 1953 auf der IFMA. Die Typenbezeichnung lässt es ahnen: Ähnlich wie bei Gilera stand ein Einzylinder Pate. Heraus kam ein sauber gezeichneter kompakter Zweizylinder mit der üblichen Umkehrspülung und 1:25er-Mischungsschmierung. Eine Simplex-Kette übertrug das Drehmoment auf die Ölbadkupplung und das Viergang-Getriebe.

Die ersten Motoren waren nicht das Gelbe vom Ei, UT musste erst einmal die Kunden vertrösten. Duplex- statt Simplexkette, Schrägdüsenvergaser und andere Kolben machten den Motor standfest. UT ersetzte den Bowdenzug zur Hinterradbremse durch ein stabiles Gestänge und vergrößerte den Tank bereits 1954 – das Jahr, in dem es richtig losging; vermutlich gingen 1953 nur wenige Ur-TS in den Verkauf. Ebenfalls 1954 verbesserte der Konstrukteur die Ansaug- und Geräuschdämpfung und änderte die Übersetzungen des 2. und 4. Ganges. Wie bei unserem 54er-Testexemplar.

Was im Stand zunächst auffällt, gehorcht der Schublade, vulgo Vorurteil: Die Gilera sieht aus wie ein italienischer Sportler in der Trainingspause. Man denkt sofort an Lenkerstummel, schmale Schutzbleche, vor allem aber an ein Rennbrötchen, der Schwingsattel stört die sportliche Linie. Beim Schieben setzt sich der italienische Eindruck fort: leicht und wendig, offensichtlich geschaffen fürs Kurvenräubern. Ein kurzer, kräftiger Tritt auf den nicht klappbaren Kickstarter lässt tönen, siehe oben.

An der UT ist alles anders. Solide und schwer steht sie da, niemand denkt an sportliches Zubehör. Der Hauptständer mit seinen zwei Druckfedern (!) wirkt wie eine Zugbrücke, das Motorrad schiebt man nicht so luftig leicht durch die Gegend wie die Gilera. Nach Klappen des massiven Kickstarters genügt in der Regel ein kräftiger Tritt, und der Zweitakter ist am Leben. Ton: wie besprochen. Doch Vorsicht: Der Zweitaktmotor säuft schnell ab. Wenn er nicht sofort anspringt, dann nie mehr, jedenfalls via Kickstarter.

Im Sattel der Gilera fühlt man eine 50er unter sich, die Kupplung benötigt Handkraft, die Schaltwippe fürs Vierganggetriebe verlangt Nachdruck und Gefühl. Der Kickstarter stört das rechte Bein, links ist es die Kupplungsbetätigung, die an der Wade zupft. Die Italienerin zieht sehr gleichmäßig los: Wohlwollend kann man so etwas als ausgewogenen Drehmomentverlauf zu Protokoll geben: unten nichts und oben nichts. 12,5 PS sind eben 12,5 PS. Vibrationen? Wenig.

Auf der UT sitzt man oben drauf, die Bank ist angenehm. Kupplung normal, Schaltung ginge eigentlich exakt und leicht. Wäre da nicht der auf Schuhgröße 59 zugeschnittene Schalthebel. Normalwüchsige müssen ihre Füße von der Raste nehmen und nach vorn bewegen, die Präzision bleibt so natürlich auf der Strecke. Doch erst einmal in Fahrt zieht die UT im Vergleich zur Gilera los wie entfesselt, die 15,1 PS fühlen sich plötzlich nach mehr an. Vibrationen? Kaum. Und im Schiebebetrieb verzichtet die UT sogar auf das nervige Ruckeln vieler Zweitakter.

Fahreindruck

© Jahn

UT TS 252.

Zum kräftigeren Motor der treudeutschen 250er gesellt sich ein höchst komfortables Fahrwerk mit einer soften Hinterradfederung. Deutlich straffer, aber keineswegs unkomfortabel ist hingegen die Gilera, Teleskopgabel und Federbeine arbeiten – irgendwie. Sie sind anwesend, sonst nichts weiter. Auch ein paar PS mehr würden das Fahrwerk nicht überfordern, denn es kommt mit seiner klaren Rückmeldung selbst auf unebenen Pisten immer bestens zurecht. Die Italienerin giert regelrecht nach Schräglagen, um dann frühzeitig mit dem Ausleger des Hauptständers aufzusetzen.

Anders die UT. Sie wirkt schwerfälliger als die Gilera, mit deutlich mehr Eigenbewegung im Fahrwerk. Man spürt förmlich, wie Tele­skopgabel und Federbeine arbeiten und letztere mehr Dämpfung vertragen könnten. Trotzdem würden hier ebenfalls ein paar PS mehr nicht schaden. Schräglagen erfordern mehr Einsatz, der Ständer gebietet Einhalt. Aber auch mit ihr macht von Kurve zu Kurve zu schwingen einfach riesigen Spaß.

Die UT bremst richtig gut. Hier hat einer die Bremse optimal restauriert. Nicht so die Gilera: Deren Hebel muss man ziehen wie ein Ochse, um halbwegs ordentlich zu verzögern.  Der Gerechtigkeit halber sei gesagt, dass sich das durch pflegerische Arbeiten bestimmt verbessern ließe, schließlich war die Gilera ja auch schon mal jünger und frischer.
Nicht alles, was rot ist und aus Italien kommt, muss also bedingungslos sportlich sein – siehe den Motor der Gilera B 300. Und nicht alles, was schwarz ist und aus Deutschland kommt, muss zwingend unsportlich sein – siehe den Motor der UT TS 252.

Aber eine Sportlerin wollte die Gilera auch nie sein, sondern eine auf Komfort und Laufkultur ausgelegte Tourenmaschine. Der Erfolg gab diesem Konzept recht: Sie blieb bis 1968 im Programm. Die Polizia Stradale verfolgte auf ihr Verbrecher, in die USA gingen ordentliche Stückzahlen, woran der Veglia-Tacho mit Meilenskalierung erinnert. Dan Blocker alias Hoss Cartwright zum Beispiel bewegte eine B 300. Allerdings nicht im Bonanza-Tempo.

Die UT schrieb leider keine Erfolgs­geschichte: Zweizylinder-Zweitakter hatten in Deutschland Adler zu heißen. Die Firma war zu klein, es fehlten die Möglichkeiten, das Können ihrer Motorräder ins rechte Licht zu rücken. Wer weiß, wie lange Gilera allein vom Mythos der Vierzylinder-Renner zehrte.

Wenig glückliches Management, nichts wirklich Neues mehr nach der TS, technischer Rückschritt, aber vor allem der unaufhaltsame Niedergang des Zweiradinteresses ließen UT dem Ende entgegendümpeln. Ein Moped mit sportlich-italienischer Linienführung sollte die Wende bringen, ein Flop. 1961 gab's eine UT nur noch auf Bestellung, bis 1968 Ersatzteile, dann war Schluss.

Etwas Sentimentalität ist also angebracht; und was dazu und zu den Motorrädern sowieso schön passen würde: ein gemeinsamer Auftritt von Rudi Schuricke und Catarina Valente. Rudi Schuricke bringt "O mia bella Napoli" oder "Heimat, deine Sterne" zu Gehör, Catarina Valente "Wo meine Sonne scheint" oder "Tschau, Tschau, Bambina". Und als Zugabe im Duett die Capri-Fischer: "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt..."

© Archiv/Ducati
Ducati Apollo V4 im Test Der erste V4-Motor von Ducati

Technische Daten

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Gilera B 300.

Gilera B 300

Motor: Luftgekühlter Zweizylinder-Viertaktmotor, eine unten liegende Nockenwelle, je zwei Ventile, über Stoßstangen und Kipphebel betätigt, Nasssumpfschmierung, Graugusszylinder, Leichtmetallköpfe und -Ventildeckel, Bohrung 60 mm, Hub 54 mm, Hubraum 305 cm³, Verdichtung 6 : 1, 12,5 PS bei 5800/min, Dell'Orto-Rundschiebervergaser, Typ MB 20 B

Elektrische Anlage: Kickstarter, Batterie 6 V/7 Ah, Unterbrecherzündung, Carello-Zündlichtmaschine

Kraftübertragung: Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Vierganggetriebe, Primärtrieb: Duplexkette, Sekundärantrieb Kette

Fahrwerk: Rohrrahmen aus Stahlrohr, unten offen, vorn Teleskopgabel, hinten Zweiarmschwinge aus Stahlrohr, zwei Federbeine, Drahtspeichenräder mit Leichtmetall-Hochschulterfelgen, Reifen vorn 3.00-18, hinten 3.25-18, vorn Simplex-Trommelbremse, Ø 185 mm, hinten Simplex-Trommelbremse, Ø 150 mm

Maße und Gewicht: Gewicht 142 kg, Tankinhalt 15 Liter

Fahrleistungen: Höchstgeschwindigkeit 110 km/h

Preis: 330000 Lire (1954)

Hersteller: Gilera, Arcore, Italien

© Künstle
Auf Achse: Honda VFR 750 R Die Spitze des Olymps
© Jahn

UT TS 252.

UT TS 252

Motor: Luftgekühlter Zweizylinder-Zweitaktmotor mit Umkehrspülung, Grauguss-Zylinder, getrennte Zylinderdeckel aus Leichtmetall, Gemischschmierung 1:25, Bohrung 52 mm, Hub 58 mm, Hubraum 244 cm³, Verdichtung 6,3 : 1, 15,1 PS bei 6000/min, Bing-Rundschiebervergaser 1/24//61

Elektrische Anlage: Kickstarter, Batterie 6 V/5 Ah, Unterbrecherzündung, Noris-Lichtmaschine

Kraftübertragung: Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Vierganggetriebe, Primärtrieb: Duplexkette, Sekundärantrieb: Kette

Fahrwerk: Einschleifenrahmen aus Stahlrohr, geschraubtes Rahmenheck, vorn Teleskopgabel, hinten Zweiarmschwinge aus Stahlrohr, zwie Federbeine, Drahtspeichenräder mit Stahlfelgen, Reifen vorn 3.00-19, Reifen hinten 3.00-19, vorn und hinten Simplex-Trommelbremse,Ø 160 mm

Maße und Gewicht: Gewicht 155 kg, Tankinhalt 16 Liter

Fahrleistungen: Höchstgeschwindigkeit 110 km/h

Preis:
1860 Mark (1955)

Hersteller:
UT-Motorradfabrik Schwenk & Schnürle K. G. Stuttgart-Möhringen

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