Auf Achse: Keller-Gilera dohc

Auf Achse: Keller-Gilera dohc Keller-Kind

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Ein Privatmann, der Schweizer Jakob Keller, steigerte mit einem Doppelnocken-Zylinderkopf das Potenzial der Gilera Saturno San Remo ganz erheblich und schrieb damit Geschichte.

Keller-Kind Nöll
Nöll

Motorsport ist seine große Leidenschaft – ganz gleich, ob es sich um Rennwagen oder Motorräder handelt. So erkennt der Schweizer Jakob Keller schon beizeiten das Potenzial, das in den mächtigen Ein­zylinder-Motoren der italienischen Gileras steckt, deren Konzeption noch auf die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht. Bereits bei ihrem ersten Renneinsatz im Jahre 1947 in San Remo errangen Carlo Bandirola und Oscar Clemencigh auf den aus der Serien-Saturno abgeleiteten Gilera-Rennmaschinen einen Doppelsieg und unterstrichen eindrucksvoll, dass Gilera durchaus in der Lage war, den dominanten Moto Guzzi-Rennern Paroli zu bieten.

Um die Rennerfolge zu würdigen, erhielten die neuen Saturno Competizione-Modelle den klangvollen Namen „San Remo“. Dank geringem Gewicht, der außerordentlichen Handlichkeit und dem guten Durchzug des ohv-Motors bereits aus dem Drehzahlkeller eignet sich die San Remo besonders für Rennen auf engen und kurvenreichen Strecken. Selbst als 1948 die ersten Vierzylinder-Gilera zum Einsatz kommen, sieht man Italiens Spitzenfahrer Nello Pagani, Umberto Masetti, Libero Liberati und Carlo Bandirola gelegentlich noch immer auf den Singles.

Irgendwie gelingt es Keller, eine dieser San Remo-Rennmaschinen an Land zu ziehen. Dem Schweizer, der in Zürich eine Kfz-Werkstatt mit Tankstelle betreibt, ist klar, dass das Potenzial dieses Motors noch lange nicht ausgeschöpft ist. Mehr Drehzahl braucht er, doch die ist mit dem Stoßstangenmotor trotz erleichtertem Ventiltrieb und verstärkten Ventilfedern nicht zu erreichen. Einzig der Umbau auf eine oben liegende Nockenwelle, der Stößel und Stoßstangen erübrigt, würde höhere Drehzahlen erlauben. Noch effektiver wäre es, zwei Nockenwellen nach dem Vorbild der Doppelnocken-Vierzylinder im Zylinderkopf zu platzieren, also den ohv- zum dohc-Motor umzufunktionieren.

Obwohl ein Antrieb per Steuerkette einfacher zu realisieren ist, entscheidet sich Keller für Zahnräder. Kurbelgehäuse, Kurbelwelle und Zylinder behält er bei, an der rechten Motorseite montiert er ein T-förmiges Zahnradgehäuse. Die Kaskade besteht aus 7 gerade verzahnten Rädern plus der beiden auf den Nockenwellen. Jedes Zahnrad ist kugelgelagert, das unterste treibt über ein weiteres Rad auf derselben Welle die selbst konstruierte Ölpumpe an. Sie ist für eine größere Fördermenge ausgelegt, mit feinen, gefrästen und gedrehten Kühlrippen versehen und von außen an das Steuergehäuse angeflanscht.

Bei den Nocken handelt sich um Spezial­anfertigungen Jakob Kellers mit sorgfältig ausgearbeiteten Anlauframpen. Dadurch ergibt sich eine erstaunliche Laufruhe. Die Nockenwellen lagern in eigens angefertigten, auf dem originalen Zylinderkopf verschraubten Leichtmetallgehäusen. Dazwischen sitzt ein Träger, der gleichzeitig das T-förmige Steuergehäuse aufnimmt. Die Achsdistanzen sind fix und sorgen für minimales Zahnflankenspiel. Einstellplättchen direkt auf den Ventilschäften justieren das Ventilspiel. Die Nockenwellen betätigen die beiden Ventile via Rollenstößel. Ein 35er-Dell’Orto SSI-Vergaser bereitet das Kraftstoff-/Luftgemisch auf. Der dohc-Motor wiegt etwa 5 Kilogramm mehr als die ohv-Basis, der Leistungszuwachs macht das Mehrgewicht aber mehr als wett.

Zu guter Letzt spendiert Keller seiner dohc-Gilera noch einen Seitenwagen, und schon bald mischt er mit seinem einzigartigen Renngespann kräftig mit. Die Leistung des Motors lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit von Zeitschriften wie DAS MOTORRAD oder Die Motor Rundschau auf sich, die 1950, 1951 und 1952 über den tollen Eigenbau berichten. Selbst bei Gilera im oberitalienischen Arcore ist man mächtig beeindruckt: Da arbeitet ein Stab von Technikern und Inge­nieu­ren mit enormem Einsatz an der Entwicklung aufwendiger Vierzylindermotoren, und ein Bastler namens Keller macht ihnen vor, wie ein Einzylinder fast die gleiche Leistung mobilisiert. Tatsächlich fährt der unter all den Werksmaschinen munter an der Spitze des Feldes mit.

Keller und das Gilera-Werk

Mit größter Genugtuung nimmt der Eidgenosse eines Tages eine Anfrage von Gilera zur Kenntnis. Man bittet ihn, seinen Einzylindermotor im Werk zerlegen und vermessen zu dürfen. Nicht ohne Stolz willigt Keller ein und erhält im Gegenzug einen der berühmten Vierzylinder-Rennmotoren. Doch diese Kostbarkeit hält nicht etwa Einzug in das nun verwaiste, ohne Motor in der Ecke stehende San Remo-Gespann.

Keller konstruiert ein neues Gespann; ein Fahrzeug, das eigentlich eher als Rennwagen auf drei Rädern zu bezeichnen ist, aber dennoch exakt die Vorgaben des internationalen Reglements für Rennmaschinen einhält. Das bezeichnet generell jedes Fahrzeug mit Motorantrieb und weniger als 4 Rädern als Motorrad. Kategorie A sind Solomaschinen mit 2 Rädern, Kategorie B Gespanne und sogenannte Cyclecars – das heißt Dreiradfahrzeuge beispielsweise mit zwei gelenkten Vorderrädern. Zwei Sitzplätze, neben- oder hintereinander, sind vorgeschrieben, ebenso eine Spurweite von mindestens 80 cm. Und anstelle eines Beifahrers ist die Verwendung eines Zusatzgewichts von mindestens 60 Kilogramm möglich.

All diese Kriterien erfüllt die Keller'sche Konstruktion. Um die Leistung des Vier­zylinders besser auf den Boden bringen zu können, hat er statt der 60 Kilogramm sogar zusätzlich 107 mit an Bord. Mit diesem Dreirad fährt er schließlich die völlig verdutzte Konkurrenz in Grund und Boden. Den in Monza von den BMW-Werkspiloten Noll/Cron aufgestellten Rekord von ca. 190 km/h überbietet Keller mit sagenhaften 208 km/h. Von allen Seiten hagelt es Proteste, die aber abgeschmettert werden: Sein Cyclecar ist schließlich regelkonform. Am Ende gipfeln die Proteste bei einem Rennen in Regensdorf in einem Fahrerstreik.

Und wieder ist es ein genialer Schweizer – dieses Mal nämlich Rolf Biland – der zwei Jahrzehnte später erneut mit einem Renngespann besonderer Bauart für Furore sorgt, die Konkurrenz schockiert und haufenweise Proteste hinzunehmen hat. Zufall? Duplizität der Ereignisse? Vielleicht beides. Jakob Keller hat zu diesem Zeitpunkt längst Helm und Rennoverall an den Nagel gehängt. Seine Fahrzeuge werden verkauft, einzig den Einzylinder-Motor hat er behalten und zuhause in eine Vitrine gestellt. Zuletzt hatte der Gilera-Motor als Antriebsquelle für einen Eigenbau-Rennwagen gedient, nachdem im Automobilrennsport die Formel 500 entstanden war - eine Klasse für Kleinst-Rennwagen, meist von luftgekühlten Halbliter-Motorradmotoren angetrieben. Auch damit war der Schweizer immer wieder für einen Platz in den vorderen Rängen gut.

Nach Jakob Kellers Tod in den 70er-Jahren wird sein Motor an einen Sammler verkauft, der ihn wieder in ein San Remo-Fahrwerk einbaut und perfekt restauriert. 2005 gelangt das Motorrad schließlich in die Hände seines heutigen Besitzers Jo Kaufmann. Der bringt es anlässlich eines Rennmaschinen-Sonderlaufs des Veteranen-Fahrzeug-Verbandes (VFV) nach Hockenheim, um es nach vielen Jahren erstmals wieder rennmäßig zu bewegen. Dieses Mal jedoch nicht als Gespann, sondern als Solomaschine. Auch hier, im Feld von Rennmaschinen bis in die 70er-Jahre, ist die Keller-Gilera ganz vorne mit dabei. Sechs Jahrzehnte nach ihrer Konstruktion hat sie noch nichts von ihrem Leistungsvermögen und ihrer bestechenden Schönheit verloren.

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