Genug der Gerüchte und Mutmaßungen: Endlich lüften die japanischen Motorradhersteller den eisernen Vorhang, hinter dem sie ihre Neuerscheinung für das Jahr 1998 eifersüchtiger denn je versteckt gehalten hatten.
Die mit Fingerabdrücken übersäten Glaskugeln können in den Abwasch wandern, die Schalen mit dem Kaffeesatz ebenfalls; die Erlkönigjäger dürfen sich den Staub aus ihren Tarnanzügen klopfen, die Presseabteilungen der Motorradimporteure haben wieder einmal ein Jahr Ruhe vor den lästigen Fragen neugieriger Journalisten.
Die Schlacht um die Neuheiten 1998 ist - zumindest was die japanischen Motorradhersteller angeht - im wesentlichen geschlagen. Ob sich das zähe Hin und Her zwischen den Angriffs- und Verteidigungslinien gelohnt hat, ist eine Frage der Sichtweise. Einerseits fehlen die ganz großen Aha-Erlebnisse, wie sie vor Jahresfrist beispielsweise von Honda (VTR 1000 F und F6C) und Suzuki ( TL 1000 S) geboten wurden, andererseits zeichnen sich positive Tendenzen ab, die einer breiteren Basis zugute kommen. Zum einen erfährt die Mittelklasse durch sportlich orientierte, pfiffig designte Naked Bikes und ansehnlich verpackte Tourer erfreuliche Bereicherungen, zum anderen scheint der Trend zur katalytischen Abgasreinigung endlich einen deutlichen Anschub zu bekommen, zum dritten zeichnet sich - zumindest im Sportsegment - ein löblicher Trend zu leichtgewichtigeren Konstruktionen ab.
Ein anschauliches Beispiel, wie gut eine Diät anschlagen kann, wenn sie nur konsequent genug betrieben wird, ist Kawasakis runderneuerte ZX-9R . Wobei »runderneuert« wörtlich zu nehmen ist. Der Rahmen des 1998er Modells kondensiert den Radstand auf nurmehr 1415 Millimeter, das Vorderrad steckt zwischen den Holmen einer konventionellen (weil leichteren) Telegabel, die Federwege wurden neu vergeben - hinten etwas mehr, vorn etwas weniger. Weniger - nämlich Gewicht - hat auch der Motor zu bieten: Reduzierte Gehäusewandstärken und Deckel aus Magnesium machen`s möglich. Mehr - nämlich Leistung - hat der Vierzylinder natürlich auch zu bieten. Dank verbesserter Atemtechnik - größere Ventile über größerer Bohrung - darf in der offenen Version mit über 140 PS gerechnet werden. Die haben es mit nurmehr 207 respektive 209 Kilogramm (fahrfertig) zu tun, wobei sich der höhere Wert auf die »D«-Version mit Edelstahlschalldämpfer und ungeregeltem Kat, der niedrigere Wert auf die »C«-Variante mit Kat-losem Titan(!)auspuff bezieht.
Mit der YZF-R1 zielt Yamaha in die selbe Richtung wie die grüne Konkurrenz mit der ZX-9R. Die Eckdaten der R1 geben hinsichtlich der zu erwarteten Fahrdynamik zu den schönsten Hoffnungen Anlaß: Mit allen Lebenssäften an Bord soll der Supersportler an der 200-Kilogramm-Grenze kratzen - da werden die kolportierten 152 PS buchstäblich leichtes Spiel haben. Angesichts dieser Zahlen kann nicht verwundern, daß die R1 mit der YZF 1000 R außer konstruktiven Grundzügen nichts gemein hat: neuer Motor, neues Fahrwerk mit ultrakurzem Radstand (1390 Millimeter), neues Erscheinungsbild mit böse blickendem Doppelscheinwerfergesicht.
Als brauchte es ein Gegengewicht zu soviel Sportlichkeit, springt Yamaha mit einer Classic-Variante der Drag Star auf den Bummel-Zug. Mit verschalten Gabelholmen, knuffigem Vorderrad und dicken Kotflügeln kniet sie sich tief ins Cruiser-Thema.
Das tut auch Suzuki mit der VL 1500. Auf dem Triebwerk der VS 1400 fußend, bläht sich ihr V2 mit mehr Hub und erweiterter Bohrung auf imagefördernde 1,5 Liter Hubraum. Fahrwerksseitig fußt die VL 1500 vorn auf einem 150/80-16er Reifen, dem der hintere 180/17-15er auf weltrekordverdächtigem Abstand von 1700 Millimeter zu folgen versucht. Die genretypische Anhäufung von lackierten und verchromten Stahlblechteilen schlägt sich in einem fahrfertigen Gewicht jeseits der 300-Kilogramm-Marke nieder - kein leichtes Spiel für prognostizierten 70 PS.
Erheblich leichter tut sich da der Motor der TL 1000 R. Mit dezent erhöhter Verdichtung - 11,7 statt 11,3 - und Modifikationen an Drosselklappen und Motormanagement trennt er sich von äußerst respektablen 136 PS, die bei einem Maschinengewicht von 197 Kilogramm (trocken) und mit Hilfe einer ganz auf Aerodynamik getrimmten Außenhaut für mehr als respektable Fahrleistungen sorgen werden. Deren angstfreie Umsetzung wird einem komplett neu gezeichneten Rahmen anvertraut, der mittels Kastenprofilen die Brücke zwischen Lenkkopf und Schwingenlagerpartie schlägt. Sechskolben-Bremszangen an 320er Scheiben versuchen ein übriges, die Kraft der TL 1000 R unter Kontrolle zu halten.
Unter der Kontrolle leistungshungriger Ingenieure ging es bei der GSX-R 600 vorwiegend ans Eingemachte. Eine Reihe konzertierter Maßnahmen an Einlaßtrakt und Ventilsteuerung - größere Airbox, geänderte Ansauglängen, verschärfte Nockenwellen - sollen die Lebensfreude im mittleren Drehzahlbereich steigern und ganz nebenbei die Spitzenleistung auf 110 PS hieven. Als flankierende Maßnahmen sind eine verstärkte Kupplung und eine kürzere Übersetzung des zweiten Gangs zu sehen. Fahrwerksseitig erhält die 600er dickere Bremsscheiben vorn, eine geänderte Gabelabstimmung und das Federbein der 750er Schwester. Die wiederum darf sich über einen Lenkungsdämpfer und - mehr noch - über eine Einspritzanlage freuen, die das Leistungsangebot auf 135 PS erweitert.
Erweiterte Einsatzmöglichkeiten verspricht die neu eingekleidete GSX 600 F. Eine fülligere Verkleidung mit markantem Doppelscheinwerfer dürfte die touristischen Qualitäten der »F« aufwerten, ohne daß deren sportliche Anlagen beeinträchtigt würden - schließlich ist unter dem »Blech« alles beim alten geblieben: stählerner Brückenrahmen, muntere 86 PS.
Für Puristen, die sich ungeschützt den Elementen aussetzen wollen, hält Suzuki neben den beiden Bandits künftig die GSX 750 parat. Mit rundlichem Tank und »Stereofederbeinen« an der Hinterradschwinge ein bißchen mehr auf »retro« getrimmt, mit dem altgedienten luft-/ölgekühlten Vierzylinder gut und schön motorisiert, ist sie Suzukis Antwort auf Kawasakis Zephyr 750 und Hondas CB 750.
Was zumindest Honda nicht auf sich sitzen läßt: Die CB 600 Hornet (Hornisse) - besondere Kennzeichen: fette Bereifung und hochgezogene Auspuffanlage - tritt an, gegen die Bandit 600 mehr als nur einen Stich zu machen. Mit ihrem Angriffslust signalisierenden Styling, vor allem aber mit ihrem hochmodernen, von der CBR 600 entliehenen Vierzylinder, der leistungsmäßig nur geringfügig eingebremst sein wird - man munkelt von mehr als 90 PS -, hat sie jedenfalls das Zeug dazu.
Gewissermaßen außer Konkurrenz tritt dagegen die NT 650 V Deauville an, denn wo sonst findet man einen Zweizylinder-Tourer mit Kardanantrieb und Verkleidung mit integrierten Gepäckfächern. Daß die NT 650 V technisch weitestgehend mit der NTV 650 identisch ist , wird niemenden grämen, der um die Zuverlässigkeit und Anspruchslosigkeit dieser Brot-und-Butter-Maschine weiß. Warum sich dieses Motorrad allerdings ausgerechnet den Namen eines mondänen französichen Seebads ans Revers heftet? Wer weiß.
Dieser Artikel kann Links zu Anbietern enthalten, von denen MOTORRAD eine Provision erhalten kann (sog. „Affiliate-Links“). Weiterführende Informationen hier.