Die MOTORRAD-Studie Enduro 2002, ein sportliches Offroad-Modell, ließe sich schnell und einfach an den Einsatzzweck anpassen. Jetzt bräuchte sie nur noch einen Bauherrn.
Jahr für Jahr erfreuen die japanischen Konstrukteure uns Motorrad-Fans mit immer neuen Maschinen. Den Supersportlern wird immer höhere Leistung eingehaucht, Chopper werden mehr aufgemotzt. Bessere Fahrwerke, weniger Gewicht, dazu allerlei nette technische Gimmicks, Fortschritt und Innovation schaffen Kaufanreize und beleben den Markt. Dabei wird jede noch so schmale Nische bedient. Big Bike, Super-Sportler, Sport-Tourer, Touren-Sportler, Tourer, Naked Bike, Chopper, Cruiser - es gibt nichts, was es nicht gibt.
Nur der Enduro-Bereich wird sträflich vernachlässigt. Wirklich neue Modelle, die die Bezeichnung Enduro im ursprünglichen Sinn verdienen - also nicht die plastikverschalten, übergewichtigen Reisedampfer -, kamen in den letzten Jahren aus Japan praktisch gar nicht mehr. Honda Dominator, Africa Twin oder Yamaha XT 600 sind zwar Dauerbrenner, aber mittlerweile echtes Alteisen, sowohl was die Technik als auch das Design betrifft. Und das, was den Enduristen als sensationelle Neuentwicklungen präsentiert wurde, haut potentielle Interessenten bestimmt nicht vom Hocker. Zum Beispiel die Suzuki DR 650 SE: Ein Gewicht von 166 Kilogramm ist vielleicht nicht ganz schlecht, aber auch nicht gerade eine Glanzleistung, wenn man es mit kaum mehr als 200 Kilogramm bei einer CBR 900 RR vergleicht. Und knapp über 40 PS aus 644 cm³ sind eher ein Offenbarungseid als ein Kaufargument, solche Literleistungen schaffte ja schon eine offene XT 500 vor 20 Jahren mit nur zwei Ventilen.
Irgend etwas ist da ziemlich schiefgelaufen in den letzten Jahren, zumindest bei den japanischen Herstellern. Klammheimlich konnten sich ehemals unbedeutende europäische Firmen, allen voran KTM, mit kernigen Einzylinder-Enduros eine Nische schaffen, in der sie sich unbehelligt austoben durften. Vom Enduro-Kuchen haben die sich eine prächtiges Stückchen herausgeschnitten, die LC 4-Baureihe gehört zu den meistverkauften Enduros der letzten Jahre. Deren Erfolg beweist auch, daß trotz zurückgehender Einsatzmöglichkeiten für Off-Road-Motorräder Interesse da ist. Boomende Starterfelder bei Amateur-Enduro-Rennen zeugen ebenso davon, innovative Entwicklungen würden diesen Trend noch verstärken.
Das Erfolgsgeheimnis der Mattighofener ist prinzipiell, daß sie aus der Not eine Tugend machten. Da neue Motoren oder Fahrwerke nur alle Jubeljahre finanzierbar sind, bleibt einem kleinen Werk wie KTM gar nichts anderes übrig, als rund um einen Motor möglichst viele Modellvarianten anzubieten und Schwachpunkte im Laufe der Evolution systematisch auszumerzen.
Das Baukastenprinzip nach Vorbild der Österreicher steht auch bei der Konzept-Studie Enduro 2002 im Vordergrund, die sich die frustierten Erdarbeiter in der Redaktion MOTORRAD ausgeheckt haben. Die Zielrichtung ist klar: sehr sportlich, kompakt, leicht trotzdem universell einsetzbar. Eine Enduro, mit der man im Gelände herumtollen kann, die aber ebenso in der Stadt oder für die Alpentour einzusetzen ist. Vor allem jedoch sollte sie kein Phantasiegespinst, sondern mit machbarer, größtenteils bewährter Technik jederzeit realisierbar sein.
Rahmen - Günstige Rahmenbedingungen
Honda hat die Richtung vorgegeben: Der Trend geht auch im Off-Road-Bereich zum steifen Brücken-Rahmen aus Aluminium. Bei Straßenmaschinen längst Standard, wurde er von Honda bei den Crossern erstmals 1997 verwendet. Gerade für Viertakt-Motoren macht das ausladende Tragwerk Sinn: Der Steuerkopfbereich bietet reichlich Platz für den hoch bauenden Zylinderkopf, bei der Studie Enduro 2002 verbirgt sich die Einspritzanlage und Airbox zwischen den kräftigen Rahmenprofilen. Die Ansaugwege könnten dabei in die hohlen Gußteile integriert werden, so daß um den Lenkkopf herum von vorn hinter der Lampenverkleidung beziehungsweise dem Startschild angesaugt wird, damit sich möglichst wenig Dreck und Staub in den Luftfilterkasten verirrt. In der Straßenversion ist in die breitere Verkleidung ein nach vorn hin offenes Ansaugsystem integriert.
Motor - Aufwendige Kanalarbeiten
Alles schon einmal da gewesen - das gilt auch für das Apfelbeck-Prinzip, bei dem die Ansaugkanäle zwischen den beiden Nockenwellen nach oben geführt werden. Das schafft gerade Ansaugwege und gute Verwirbelung des Gemischs durch die diagonal gegenüber angeordneten Einlaßventile, somit effiziente Verbrennung und hohe spezifische Leistung. Bei SoS-Straßenrennen wird ein solchermaßen aufgebauter Motor vom BRM-Team (MOTORRAD 11/1993) schon seit Jahren eingesetzt, auch KTM hat damit experimentiert. Für den Einsatz in der MOTORRAD-Studie gibt es noch ein weiteres Argument: Ansaugbereich und Tank können die traditionellen Plätze tauschen, das reduziert die Sitzhöhe, senkt den Schwerpunkt und führt zu einer sehr kompakten Bauweise.
Fahrwerk - Auf Biegen ohne Brechen
Der etwa zehn bis zwölf Liter große Tank nimmt unter der Sitzbank viel Platz in Anspruch. Daher muß nicht nur der Luftfilterkasten, sondern auch das herkömmliche Federbein weichen. Statt dessen kommt die von Öhlins entwickelte Hinterradfederung zum Einsatz, die vom französischen Yamaha-Werksfahrer Yves Demaria bereits 1996 einige Male erfolgreich in der Cross-Weltmeisterschaft eingesetzt wurde. Die Federung übernimmt dabei ein in der Schwinge untergebrachter Kunststoffstab, der von einem Rahmenausleger betätigt und über eine gekrümmte Rampe gebogen wird. Durch Tausch des Biegestabs und/oder der Rampe läßt sich die Federungs-Charakteristik blitzschnell und beliebig verändern. Der über einen Hebel betätigte Rotationsdämpfer versteckt sich fast vollständig zwischen den Schwingenholmen.
Getriebe - Doppeldeutige Übersetzung
Jeder Geländewagen hat einen zweiten Schalthebel, mit dem je nach Einsatzbedingungen zwischen Gelände- und Straßenübersetzung umgeschaltet werden kann. Enduristen müssen hingegen zeitaufwendig Ritzel oder Kettenrad, eventuell sogar die Kette tauschen, wenn sie im Gelände eine kürzere oder auf der Straße eine längere Übersetzung wünschen. Dabei ließe sich ein zweistufiger, klauengeschalteter Primärtrieb, der vom Lenker aus hydraulisch oder mechanisch betätigt werden kann, auch in einem Motorrad unterbringen, ohne die Baubreite des Motors allzu sehr anwachsen zu lassen. Noch simpler wäre die Betätigung per Schalthebel direkt am Motor.
Kommentar von Gert Thöle - »Biedere Hausmannkost, null Faszination
Selbst neue Enduro-Kreationen sind heute technisch veraltet, wo bleiben die Appetithäppchen für Off-Road-Fans?
Man glaubt es kaum, exakt zwanzig Jahre ist es nun schon her, als ich meine XT 500 kaufte. 1977 war Yamahas Dampfhammer die Sensation. Die XT war robust, ehrlich, kernig, unkompliziert, sogar ein kleines bißchen sportlich. Arnulf Teuchert fuhr zum Beispiel Cross-Rennen damit, Cyril Neveux nach Dakar, die XT war damit auch Ursprung für die heutige Rallye-Szene. Eine eierlegende Wollmilchsau war der japanische Vibrator aber bestimmt nicht, auch wenn viele Biker sie für praktisch jeden erdenklichen Unfug mißbrauchten. Leider wurde die XT durch die modernen Entwicklungen im Fahrwerks- wie Motorenbereich schon nach ein paar Jahren zum veralteten Eisenhaufen, nur Nostalgiker konnten sich noch für sie erwärmen. Was aus Fernost folgte, war weniger Fortschritt als kontinuierlicher Abstieg. Ob XL, NX, KLR, KLX, DR, XT oder XTZ - alles biedere Hausmannskost, die auf sportlich orientierte Enduristen null Faszination ausstrahlt. Kein Wunder, daß der Enduro-Szene heute der Kick fehlt. Die Zeit ist reif für moderne Supersport-Enduros .
Technische Daten
MotorWassergekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, zwei obenliegende Nockenwellen, vier über Tassenstößel betätigte Ventile, Naßsumpfschmierung, Einspritzanlage, kontaktlose Zündung, E- und Kickstarter, eine Ausgleichswelle, Abgasreinigung mit Dreiwege-KatalysatorBohrung x Hub 94 x 72 mmHubraum 499 cm3Verdichtung 11Nennleistung 55 bis 65 PS(je nach Auspuff und Motormanagement)KraftübertragungSechsganggetriebe, zweistufiges Vorgelege, mechanisch betätigte ÖlbadkupplungFahrwerkBrückenrahmen aus Aluminium-Gußteilen und - Profilen mit angeschraubten Unterzügen, angeschraubtes Rahmenheck aus Kohlefaser/Kevlar-Verbund-Werkstoff; Telegabel, o 50 Millimeter, Hinterradfederung über Biegestab aus Kunststoff im rechten Schwingenholm, Rotations-Dämpfer, über Hebel betätigt, Schwinge aus Aluminium-ProfilenGewicht 135 Kilogramm (straßentaugliche Version)
Front und Heck - Vielseitige Angebote
Variabilität ist das Schwerpunkt-Thema der MOTORRAD-Studie. Der Endurist soll das Motorrad ohne große Schraubereien für seine Zwecke umbauen können. Daher stehen verschiedene Cockpit-Verkleidungen, Rahmenhecks oder Auspuffanlagen zur Wahl. Für die Cross-Piste wird Startschild, Cross-Heck sowie ein weitgehend offener Auspuff angeschraubt, für die Wochenend-Tour kommt das Straßen-Cockpit mit Info-Panel und Tripmaster dran. Alle Teile können in Windeseile getauscht werden. Komplette Kits für Touren, Enduro-Sport oder Cross können beim Kauf der Maschine en bloc erworben oder je nach Wunsch einzeln nachgeordert werden.
Wechselsystem - Der Einfachheit halber
Jede Enduro kann nur Kompromiß sein, optimale Straßentauglichkeit läßt sich mit sportlichen Gelände-Eigenschaften nicht unter einen Hut bringen. Die Lösung ist das Baukastenprinzip: Der Kern bleibt praktisch unverändert erhalten, mit wenigen Handgriffen kann die Peripherie den individuellen Wünschen vom Cross-Einsatz in der Kieskuhle bis zur Wochenendtour in die Alpen angepaßt werden. Alle Verbindungen sind so konstruiert, daß nur wenig Werkzeug nötig ist. Der Auspuff wird zum Beispiel nur am Rahmenheck in Zapfen eingehängt. Beide Schalldämpfer sind mitsamt Vorschalldämpfer zu einer U-förmigen Einheit verschweißt, das spart Gewicht. Integriert sind in der Straßenversion zwei Katalysatoren. Für den Endurosport gibt es eine etwas freier atmende Alternative, für freies Blasen auf der Cross-Strecke steht ein leichter, einzelner Schalldämpfer aus Kohlefaser zur Verfügung. Auch Tank und Luftfilterkasten sind in Gummilagern aufgehängt und mit Spannriemen fixiert, so daß der Striptease für Inspektionen oder Umbauten eine Sache von Minuten ist. Das selbsttragende Rahmenheck ist aus einem leichten Verbundwerkstoff und nimmt die Elektronik auf. Zentrale Steckverbindungen schaffen flinken Anschluß. Der sportlichen Ausrichtung entspricht auch die Motorcharakteristik: Der Antrieb soll leicht, kompakt und kräftig sein. Literleistungen von 120 PS/Liter sind mit moderner Technik überhaupt kein Problem, die aktuellen Sport-Zweizylinder machen es vor. Eine sportliche Enduro muß daher keineswegs 650 cm³ Hubraum haben. Aus 500 cm³ ließen sich locker 55 bis 60 PS holen, mehr Power braucht selbst durchtrainierte Cross-Profis nicht. Über den Auspuff und das Motormanagement ließen sich dem Motor einsatzgemäße Manieren anerziehen. So könnte er mit offenem Schalldämpfer und ohne Katalysator bei entsprechender Auslegung von Einspritzung und Zündung kräftiger und giftiger zu Werke gehen, während er sich mit Enduro-Auspuff und zahmer von der Charakteristik her weicher und kultivierter verhalten kann. Entscheidend für das gute Handling vor allem im Gelände ist zunächst einmal ein niedriges Gewicht. Trotz E-Starter und Ausgleichswelle dürfte eine Vorgabe von 40 Kilogramm für den Motor nicht unrealistisch sein. Je nach Bestückung der Anbauteile sind 115 (Cross-Version) bis 135 (Straßen-Enduroversion) Kilogramm Trockengewicht kein utopisches Ziel. Dabei ist besonders wichtig, daß der Schwerpunkt niedrig liegt und die Massen möglichst zentral um den Schwerpunkt versammmelt werden. Das Konzept mit dem tiefliegenden Tank, dem nach oben verlegten Luftfilter und der leichten Hinterradfederung kommt diesem Ziel entgegen.
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