So fährt der neue Scrambler von Enfield
Mit der Bear erweitert Royal Enfield die 650er-Familie um einen Scrambler. Auf der EICMA wurde sie präsentiert, wir haben bereits eine erste Testfahrt gemacht.
Den letzten legendären Big Bear Run, eine Wüstenrallye, die ab 1921 bis 1960 in der Nähe ausgetragen wurde, gewann Eddie Mulder auf einer 500er Royal Enfield. Der damals gerade mal 16 Jahre alte Schüler und Rookie ging durch eine Panne als letzter an den Start, pflügte sich während der drei Runden à 56 Kilometer Wüste durch 765 Starter und ließ sich den Sieg selbst dann nicht nehmen, als einer der hinteren Stoßdämpfer brach. Dieses Rennen hatte nicht nur das Zeug zur Legende, es verhalf "Fast Eddie" auch zu einer erfolgreichen Karriere als Stuntman.
Royal Enfield Interceptor Bear 650 für Fast Eddie
Als der mittlerweile 81-jährige Unruheständler am Abend der Präsentation eine neue Royal Enfield Interceptor Bear 650 mit seiner alten Startnummer als Hommage überreicht bekommt, ist der Kettenraucher sichtlich gerührt. Und die gesamte Journaille ebenso. Was für eine Story! Was für ein Haudegen! Und – was für ein Glück, dass das alles beim Big Bear Run passierte. Der Kreis schließt sich. Und Royal Enfield schiebt das mittlerweile sechste Derivat mit dem luftgekühlten 650er-Motor in die Schaufenster.
Zwar basiere die Royal Enfield Interceptor Bear 650 auf der Interceptor, doch mit kleinen Änderungen sei es nicht getan gewesen, erklärt Projektleiter Glen Corbett. Zwei Drittel der Bear sei neu gegenüber der Interceptor. Der Rahmen habe ein geändertes Rahmenheck, die Auspuffanlage sei nunmehr ein Zwei-in-Eins-System, die Räder wären leichter und stabiler und das Fahrwerk sei eine Neuentwicklung. Derart gespannt schwingt sich der Autor auf die Sitzbank, die mit 830 Millimetern um 15 Millimeter höher ausfällt als die der Interceptor.
Was ist überhaupt ein Scrambler?
Erster Gedanke: Was ist überhaupt ein Scrambler? Die Bezeichnung wird abgeleitet vom Verb "scramble", auf Deutsch "kraxeln". Der gemeine Scrambler ist ein Zwitterwesen zwischen Enduro und Straßenmotorrad, ein Kompromiss aus beiden. Natürlich braucht man dafür auch die richtigen Reifen. Royal Enfield setzt hier auf leicht grobstollige Pneus von MRF, einem indischen Hersteller. Diese sehen dem bekannten Pirelli STR zum Verwechseln ähnlich.
MRF habe die Reifen extra für die Royal Enfield Interceptor Bear 650 entwickelt, heißt es auf Nachfrage. Dass man nicht einfach auf bewährte europäische Ware setzt, ist schnell erklärt: Eine indische Verordnung besagt, dass Motorräder, die in Indien produziert werden, auch mit Reifen aus indischer Produktion ausgerüstet werden müssen. Beim verbauten ABS klingt der Name hingegen vertrauter – das System kommt von Bosch. Um die Reifenfrage abzuhaken: Die Mischung ist etwas härter als die des Pirelli, aber ob sich die MRF im Regen oder Winter bewähren, ließ sich vor Ort nicht ausloten.
Bear 650 handlich und wendig
Während die ersten Kilometer unter den Rädern verschwinden, muss man sich erst einmal mit der Sitzgeometrie auf der Royal Enfield Interceptor Bear 650 anfreunden. Im Vergleich zur Interceptor sind die Fußrasten 25 mm tiefer und 84 mm weiter vorn montiert und der Tank ist im Kniebereich etwas schmaler. Der Stahlrohr-Lenker mit obligatorischer Mittelstrebe dürfte für Kurzarmige ruhig näher am Körper sein. Auch der breite Motorrumpf spreizt die Füße recht weit auseinander. Für mehr Freiheit beim Fußeln hat man den Kupplungsausrücker am Gehäusedeckel gegenüber den anderen 650er-Modellen 30 Millimeter weiter vorn positioniert.
Die Royal Enfield Interceptor Bear 650 gibt sich handlich und wendig, wenngleich die Werksangabe von 214 Kilo Gewicht nicht dem Begriff Leichtgewicht zugeordnet werden kann. Damit wiegt die Bear nur drei Kilo weniger als die Interceptor, was sehr wahrscheinlich der Tatsache geschuldet ist, dass hier ein Auspuff mit nur einem statt zwei Endschalldämpfern zum Einsatz kommt. Statt wie bei der Interceptor (Gussfelgen) setzt man bei der Bear auf Speichenräder. Naben sowie Felgen sind aus Aluminium.
Großzügiger Lenkeinschlag
Dass einem die neue Royal Enfield Interceptor Bear 650 beim Erstkontakt recht schwer vorkommt, liegt an dem Winkel des Seitenständers, die Maschine steht recht schräg und fordert etwas Kraft, um sie in die Gerade zu stellen. Kaum in Fahrt, fühlt sich die 650er sofort beschwingt, leicht und wendig an. Der Lenkeinschlag ist großzügig bemessen und das Handling der Maschine ist easy.
Royal Enfield Bear 650 mit max. 167 km/h
Da der Test-Tross auf einen Highway abbiegt, kann auch kurz voll durchgeladen werden. Ruck, zuck stehen 160 km/h an. Ein klein wenig mehr geht noch, die Höchstgeschwindigkeit ist mit 167 km/h angegeben. Der kurzhubig ausgelegte Antrieb dreht ohne Leistungsloch willig, bis der Begrenzer dem Treiben bei 7500/min ein Ende setzt. Angeblich hat man durch die geänderte Krümmerführung rund acht Prozent mehr Drehmoment gefunden. 56,5 Newtonmeter bei 5.150/min werden angegeben. Das sind vier mehr als bei der Interceptor. Klingt nach nichts.
Im Fahrbetrieb ist das allerdings spürbar. Der Paralleltwin hängt satter am Gas und wirkt kräftiger als in seinen Schwestermodellen, obwohl die Endübersetzung nahezu identisch ist. Auch das Getriebe erledigt seinen Job richtig gut, es lässt sich sauber und sogar sehr gut ohne Kupplung schalten, ist kurz gespreizt und der sechste Gang ist kein Overdrive, sondern ein Fahrgang. Im Sechsten rotiert die Kurbelwelle übrigens bei 100 km/h rund 4.100 Mal.
Kleine Schnitzer beim Fahrwerks-Setup
Endlich in den Bergen angekommen, heißt es Kurven surfen mit der Royal Enfield Interceptor Bear 650. In den USA sind doppelt durchgezogene Linien oft mit Ausfräsungen im Asphalt gekoppelt, um dösende Fahrer beim Überfahren aufzuschrecken. Wer hier zügig ums Eck donnert und in Schräglage in diese Rillen gerät, ist sofort alarmiert. Denn beim Fahrwerks-Setup haben sich die Inder einen kleinen Schnitzer geleistet. Im Vergleich zur Interceptor hat die Royal Enfield Interceptor Bear 650 mit nur 115 Millimetern Federweg hinten sogar fünf weniger.
Der Grund dafür: Aufgrund der größeren Räder sollte die Sitzhöhe der Royal Enfield Interceptor Bear 650 nicht übermäßig ansteigen. Trotzdem erklärt es nicht, dass die von Showa stammenden Federbeine selbst bei geringstmöglicher Vorspannung keinen Negativfederweg aufweisen und schlecht ansprechen. Sie stehen im krassen Gegensatz zur verbauten 43er-USD-Gabel (ebenfalls Showa), die sensibel anspricht, aber letztlich sehr soft abgestimmt ist. Nachgefragt erklärt sich das Ganze damit, dass man in Indien quasi nie allein fährt, oft sogar drei Personen plus Gepäck auf einem Motorrad unterwegs sind.
Bear 650 auch offroad easy zu handeln
Irgendwo im Kurvengeschlängel der San Jacinto Mountains biegt der Test-Tross vom Asphalt ins leichte Gelände ab. Über den breiten Lenker ist die Royal Enfield Interceptor Bear 650 auch offroad easy zu handeln. Die grobstolligen Reifen sorgen für Traktion, doch die hart ansprechenden Federbeine trüben den Spaß ein wenig.
Auf der anderen Seite glänzt der Scrambler mit Bescheidenheit: Die Traktionskontrolle erfolgt oldschool über den Dreh per Handgelenk, das ABS lässt sich hinten für offroadige Anforderungen über einen leichten Knopfdruck an der rechten Lenkerarmatur deaktivieren. Über zwei Knöpfe an der linken wird das Vier-Zoll-Display bedient, das über eine Handyverbindung per Bluetooth zum Navi mutieren kann und in dieser Form auch in der Himalayan und Guerrilla 450 verbaut wird.
Gut dosierbare Bremskraft
Wer Offroad-Passagen im Stehen fahren möchte, sollte kein Riese sein, denn der Abstand zwischen Fußrasten und Lenker ist nicht Enduro-like und schreit förmlich nach einer Lenkererhöhung. Wieder zurück auf asphaltierten Wegen fühlt sich die Royal Enfield Interceptor Bear 650 sichtbar wohler. Gegenüber den anderen 650er-Derivaten kommt hier zum ersten Mal eine neue Bremsscheibe vorn zum Einsatz. Nicht nur das Design, auch das Material hat sich geändert. Auch die Übersetzung der Bremspumpe ist anders. Fakt ist: Die Bremskraft der vorderen 320er-Einzelscheibe lässt sich gut dosieren. Sie agiert nicht zu bissig, sodass ein Anfänger im Gelände keine Schnappatmung bekommt, aber dennoch effektiv. Die Verzögerung passiert linear zum Fingerdruck und passt hervorragend für ein Motorrad dieser Kategorie.
Also alles gut? Jein. Die Bear ist Royal Enfields erstes Bike mit rundum LED-Beleuchtung. Die Verarbeitung ist viiiiel besser als bei den Bikes, die vor einigen Jahren den Weg nach Europa fanden. Das gilt für Lackqualität wie für Schweißnähte. Dass die beiden Farben gelb/blau und weiß/orange jedoch nicht nach Europa kommen, ist verdammt schade.
Was kostet die Royal Enfield Interceptor Bear 650?
Die Royal Enfield Bear 650 kostet ab 7.640 Euro (Petrol Green). Die Lackvariante Golden Shadow kostet 7.790 Euro, die Farbe Two Four Nine 7.890 Euro. Ab Februar 2025 soll sie bei den Händlern verfügbar sein.
Fazit
Wer einen coolen, luftgekühlten Scrambler sucht, der neu und technisch auf dem Laufenden ist, kommt an der Royal Enfield Bear 650 kaum vorbei. Ihre 47 PS sind ausreichend für Alltagsabenteuer jeglicher Couleur. Und wer die Federbeine noch tauscht, wird mit der Maschine wahrscheinlich rundherum glücklich. Überdies hat die Bear den charmanten, hemdsärmeligen Charme eines luftgekühlten VW Käfer oder VW T1. Was will man mehr?
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