Hier in Europa haftet dem Namen Royal Enfield stets der Nimbus des Exotischen an. Was hauptsächlich an der archaischen Bullet 350/500 liegt, die jahre-, ach was, jahrzehntelang weitgehend unverändert gebaut wurde beziehungsweise wird und als 350er bis heute im hiesigen Portfolio zu finden ist. Auch die anderen, modernen Einzylinder wie die Reiseenduro Himalayan wirken aus europäischer Sicht zumindest ein wenig skurril. 201 gemessene Kilogramm Gewicht in Verbindung mit 25 PS, wie soll das bitte funktionieren? Im Himalaja (und nicht nur da) funktioniert das hervorragend, und auch hierzulande fanden sich bislang immer zwischen knapp 400 und gut 600 Käufer per annum.
Auf dieser Himalayan basiert die jüngst präsentierte, deutlich straßenorientiertere Royal Enfield Scram 411. Motor und Hauptrahmen sind mit der Himalayan identisch, die Federwege leicht gekappt (vorn/hinten 190/180 statt jeweils 200 mm) zudem dreht sich vorn ein 19 statt 21 zölliges Speichenrad. Die Bestückung mit vom Pirelli MT 60 inspirierten CEAT-Gripp-XL-Gummis macht klar, dass hier nach wie vor Schlechtwegetalente vorhanden sind. Sieben Kilogramm soll die Scram leichter sein als die Himalayan; das passt zum ersten Eindruck beim Rangieren.
Single bollert voluminös und erwachsen
Auch der zweite Eindruck passt: Man sitzt sehr kommod hinter dem etwas niedrigeren Lenker. Zwar sind die Handhebel nicht einstellbar, die Spiegelausleger einen Tick zu kurz und die Kupplungshandkraft angesichts des zu übertragenden Drehmoments (32 Nm) recht hoch, doch das schmälert die Vorfreude kaum. Der massige Single der Royal Enfield Scram 411 startet prompt, läuft mechanisch sehr ruhig und bollert sehr voluminös und erwachsen, aber leise (Standgeräusch 85 dB(A)) vor sich hin. Nun flink im hakigen Getriebe den Ersten eingeworfen und in rascher Folge die restlichen vier Gänge nachgelegt. Denn schnell wird klar, Drehen ist die Sache des Langhubers nicht (78,0 x 86,0 mm), Ziehen schon. Zwar geht der Zweite, wenn er denn muss, bis rund 80 und der Dritte bis 110 km/h, doch wesentlich wohler fühlen sich Ross und Reiter, wenn es im hohen Gang und bei niedrigen Drehzahlen gemütlich durchs Gäu geht.
Oder durch den Großstadtdschungel. Mit etwas Gefühl in der rechten Hand geht der Fünfte ab 40, sonst ab 50 km/h. Schnell stellt sich ein Wohlfühltempo irgendwo zwischen 70 und 90 Sachen ein. Hypersensibles Ansprechen ist die Sache der Federelemente nicht, aber man spürt die Reserven. Schließlich werden in den Hauptmärkten der Royal Enfield Scram 411 mitunter ganze Familien oder Kleintransporterladungen auf ihr transportiert.
Royal Enfield Scram 411 ab 4.990 Euro
Theoretisch fehlt es der einfachen Bremse an Biss, praktisch kommt sie mit der zu verwaltenden kinetischen Energie locker zurecht. Ebenso ist die Schräglagenfreiheit der Royal Enfield Scram 411 größer als das Vertrauen in die etwas hölzern abrollende und mutmaßlich für das Aufstellmoment beim Bremsen in Kurven zuständige Erstbereifung. Dennoch rollt man tiefenentspannt dahin und fühlt sich in alte Yamaha-SR-500-Zeiten zurückversetzt. Schön war’s. Beziehungsweise ist’s. Zumindest so lange, bis außerorts zum Beispiel ein Lkw zum Überholen ansteht. Dann werden einem die endlichen fahrdynamischen Möglichkeiten der 24 PS deutlich vor Augen geführt. In den meisten Fällen bleibt da nur das Hinterherfahren. Aus der Sicht der im Vorspann erwähnten 125er ist die Scram zwar ein wahres Durchzugswunder, aus der Sicht der ebenfalls erwähnten Einsteiger-Bikes der bereits etablierten Hersteller jedoch eher nicht. Wen das nicht weiter stört, der kann die Scram 411 in Uni-Rot, Blau oder Gelb für 4.990 oder in bunt, ergo Rot/Weiß beziehungsweise Grau/Schwarz, für 5.190 Euro ab sofort beim Händler abgreifen.
Fazit
Die Scram 411 ist ein wunderbares Statement gegen die immer absurderen Auswüchse der Schneller-höher-weiter-Manie. Im Großstadtgewühl oder auf kleinen, verkehrsarmen Nebenstraßen fühlt sie sich am wohlsten. Der Fahrdynamik und somit Souveränität sind mit 24 PS aber spürbare Grenzen gesetzt. Darüber muss man sich im Klaren sein.