Wer an der Ampel oder auf dem Drag Strip etwas reißen will, braucht gute Karten. Noch viel wichtiger aber: gute Nerven. Sonst nützt das beste Blatt nichts.
Gelb sehen und die Kupplung rauslassen ist praktisch eins. Nicht sanft, sachte, wohldosiert. Nein, einfach schnalzen lassen. Denn das gewaltige Drehmoment von 315 Newtonmetern reicht völlig aus. Und bis es über den monumentalen Primärantrieb und das spezielle Dragstergetriebe ans Hinterrad gelangt, der zehn Zoll breite und mit nur 0,4 bar Luft befüllte Reifen im eigens aufgetragenen Kleber hinter mächtigen Rauschschwaden Grip entwickelt und den G & R Dragster vorwärtskatapultiert, vergehen nur jene Bruchteile von Sekunden, in denen die Ampel von Gelb auf Grün springt. Es kommt aufs exakte Timing an beim Sprint auf der Quartermile. Hier, wo minimale Zeiteinheiten ausschlaggebend sind für Sieg oder Niederlage, ist Erfahrung gefragt. Und Coolness.
»Eigentlich entscheidet sich alles auf den ersten 60 Fuß«, erklärt Günther Sohn das Erfolgsrezept der Dragsterpiloten. Er muss es wissen, schließlich wurde er in der vergangenen Saison Zweiter in der TopGas Euroserie (siehe Seite ...). Und ist damit genau der Richtige, um zusammen mit MOTORRAD auf dem Hockenheimer Dragstrip ganz unterschiedliche Motorräder von der Suzuki GSX-R 1000 über die Kawasaki ZX-12R , die Harley-Davidson V-Rod , Yamahas Vmax und die KTM LC4 640 Supermoto maximal zu beschleunigen. Unmittelbarer Anlass der Sprint-Versammlung: die neue Harley V-Rod. Ein Motorrad mit Cruiseroutfit und Sportlerherz. Gebaut zum Beschleunigen. Ein ewig langer Radstand von rund 1,70 Metern, tiefer Schwerpunkt, fetter Hinterreifen. Ähnlichkeiten zu Sohns Dragster sind nicht zu übersehen.
Aber dann: gemessene 116 PS, rund 365 Kilogramm Lebendgewicht mit einem 80-Kilogramm-Fahrer. Hinsichtlich des Leistungsgewichts sehen andere besser aus. Eine Suzuki GSX-R 1000 zum Beispiel, mit echten 153 PS und 280 Kilo samt Fahrer. Das kommt der Sache doch schon näher. Oder das stärkste Serienmotorrad, die ZX-12R. 175 PS drückt sie auf die Prüfstandsrolle, wiegt allerdings auch deutlich mehr, während die bullige Vmax ähnlich ausgelegt ist wie die V-Rod und die quirlige KTM zwar nur 49 PS freisetzt, dafür aber mit 230 Kilogramm inklusive Fahrer das Leichtgewicht im Feld ist. So viel zu den Eckdaten.
Doch welche Faktoren spielen beim Run auf das letzte Zehntel denn nun die entscheidende Rolle? In der Theorie hat der Physiker Sir Isaac Newton bereits im 17. Jahrhundert mit der Formel F = m * a das Grundgesetz der Mechanik erkannt, nach dem die Beschleunigung eines Körpers von seiner Masse und der auf ihn einwirkenden Kraft abhängt. Folglich diktiert bei den Motorrädern das Fahrzeuggewicht und die Zugkraft am Hinterrad das Sprintvermögen. Die Zugkraft wiederum errechnet sich aus dem Drehmoment des Motors, der Übersetzung in den einzelnen Gängen und dem Halbmesser des Hinterreifens.
Doch das ist erst die halbe Miete. Im täglichen Spurt von Ampel zu Ampel schützt keine Wheeliebar vor Rückwärtssalti. Da mahnen steigende Vorderräder den erdverbundenen Piloten nicht nur beim Start, sondern auch beim Gangwechsel zur Besonnenheit. Die Dyna mische Radlastverlagerung, die dann das Beschleunigungsvermögen begrenzt, hängt von der Schwerpunkthöhe und dem Radstand ab. Letztlich spielen noch Kupplungsdosierung, Gasannahme und Schwungmasse des Motors eine Rolle. Aufgrund dieser Faktoren gelingt es Normalfahrern nicht, jene Werte zu reproduzieren, die Profis auf den Asphalt zaubern.
Selbst Günther Sohn, der unter Wettkampfbedingungen mit seinem infernalisch lauten G & R-Geschoss die 100 km/h nach 1,0 bis 1,2 Sekunden erreicht, kämpft bei ZX-12R und Co. mit den Tücken der Großserientechnik, obwohl diese in der gleichen Zeit gerade mal rund 40 km/h schnell sind. Beispiel Suzuki GSX-R 1000: Die Kombination aus viel Leistung und wenig Gewicht wird beim heißen Ritt auf dem Dragstrip zur Gratwanderung. »Die Kupplung kommt sehr ruppig, das Vorderrad steigt ständig.« Superzeiten sind so auf Anhieb nicht zu machen. Und auch Karsten Schwers, bei MOTORRAD für die Beschleunigungsmessungen verantwortlich, hat mit der GSX-R jedes mal aufs Neue seine liebe Mühe. »Wegen der relativ kleinen Schwungmasse ist die Dosierung der Kupplung immer ein Problem. Sie rupft gerne oder rutscht durch. Dazu kommt, dass du das Vorderrad einfach nicht am Boden halten kannst. Im ersten Gang nicht, und beim Wechsel in den zweiten steigt die GSX-R noch mal. Wer das nicht kennt, kriegt Angst und dreht das Gas zu.«
Dass Karsten die leichte 1000er trotzdem in 2,8 Sekunden auf 100 km/h beschleunigt, ist aller Ehren wert. Mit 9,9 m/s2 liegt er im Bereich des mit normalen Motorrädern physikalisch Machbaren. Das beweist auch Kawasakis Powerbike ZX-12R, das exakt die gleiche Zeit hinlegt. »Und die«, so Karsten, »ist wesentlich einfacher zu beschleunigen. Mehr Gewicht auf dem Vorderrad und vor allem mehr Schwungmasse!« Die verlangt weniger Anfahrdrehzahl, erleichtert die Kupplungdosierung, während aufgrund der günstigeren Gewichtsverteilung das Vorderrad »zwar steigt, aber bei weitem nicht so wie bei der GSX-R«. Einmal den Start geschafft, gilt es nur noch, den optimalen Schaltzeitpunkt nicht grob zu verpassen. Eine Einschätzung, die Dragster-Pilot Sohn uneingeschränkt teilt. Der Grund für das rasch steigende Vorderrad der beiden: Ab etwa 60 km/h, darunter wird sowieso nicht eingekuppelt, bis über 120 km/h schieben im ersten Gang über 3400 Newton Zugkraft mehr als die Gewichtskraft, und nur die kann der Hinterreifen übertragen. Ein schmaler Grat also.
Wie auch bei der KTM. Einmal richtig in Fahrt, ist bereits bei 40 km/h die maximale Zugkraft von 3080 Newton erreicht, ebenfalls weit mehr, als das Hinterrad auf den Asphalt übertragen kann. Kurz danach aber schrumpft die Zugkraft dramatisch. Trotzdem gilt es, den kurz übersetzten ersten Gang bis ans Drehzahllimit auszudrehen, um im Zweiten beim Maximum von 1900 Newton Anschluss zu finden. Gegen ein weiteres Problem hingegen kämpfen selbst die Profis vergeblich: das vehemente Steigen des Vorderrads, das nur mit sorgsamer Dosierung am Gasgriff zu beherrschen ist und eine bessere Zeit von null auf 100 km/h vereitelt. 4,7 Sekunden mehr ist nicht drin. Es klingt paradox, aber mit einem deutlich länger übersetzten ersten Gang und engeren Stufen ginge wesentlich mehr.
Genau der richtige Moment also, um V-Rod und Vmax zu schieben: stark, lang, schwer. Zu schwer. Die alte Dragster-Weisheit, dass jedes Kilo Zeit kostet, kommt hier signifikant zum Tragen. In absoluten Zahlen: 3,6 Sekunden für die V-Rod, 3,3 Sekunden für die Vmax. An die Topzeiten von GSX-R 1000 und ZX-12R reichen sie also nicht heran. Die 1200er, der V2 der Harley und der V4 der Vmax, besitzen aufgrund der kurz übersetzten ersten Gänge und des bulligen Drehmoments im ersten Moment zwar enorme Zugkraft am Hinterrad. Doch beim Schalten bei 96 (Harley) respektive 80 km/h fallen beide im gegensatz zur erheblich leichteren Kawasaki und Suzuki schlagartig in ein tiefes Loch.
Eine spezielle Qualität haben beide trotzdem: Mit keiner anderen Motorradgattung ist es so einfach, auf Anhieb gute Zeiten zu fahren und diese auch zu reproduzieren. Aufsteigen, Gas geben, wohlfühlen. Statt mit dem Vorderrad gen Himmel zu streben, scharren beide wegen ihres günstigen Verhältnisses von langem Radstand und tiefem Schwerpunkt zunächst mit den Hufen. Und Schlupf am Hinterrad sieht nicht nur gut aus, sondern ist des Dragsterfahrers täglich Brot, weil das weit vorn plazierte Vorderrad in der flach angestellten Gabel die Fuhre zuverlässig geradeaus laufen lässt. Jonglieren mit der Kupplung ist kaum erforderlich.
Dass die V-Rod den alten Kämpfer Vmax weder im Sprint bis 100 km/h noch darüber hinaus schlagen kann, lässt Harley-Mann Sohn aber keine Ruhe. Eine von ihm mit Big-Bore-Kit aufgepeppelte Dyna Super Glide Sport soll es richten. 132 PS verspricht Sohn, und zwar am Hinterrad. Und satte 183 Newtonmeter schon bei 4250/min. Mit Gebrüll stürzt sich die Dyna auf die Waldgerade und zeigt, welch diffizile Gratwanderung diese Beschleunigungsexzesse sind, weil sich die Kupplung diesem Drehmomentansturm nicht gewachsen zeigt und durchrutscht. 3,5 Sekunden bis 100 km/h mehr ist unter diesen Bedingungen nicht drin. Potenzial beweist die Dyna aber bis zur 180er-Marke. Sie distanziert die V-Rod (10,6 Sekunden) mit 9,5 Sekunden und verliert auf die Vmax trotz der Kupplungsprobleme nur 0,2 Sekunden.
Welchen Einfluss jenseits der 100 km/h Leistung und Aerodynamik haben, zeigen die Werte von GSX-R sowie ZX-12R und noch deutlicher die Zeiten, die zum Beispiel Max Biaggi mit seiner 500er-Yamaha erreicht. 6,1 beziehungsweise 6,2 Sekunden vergehen, bis die zivilen Sportler 180 km/h erreicht haben, während der Italiener in 5,9 Sekunden auf 200 km/h beschleunigt. Der aber man höre und staune startet im zweiten Gang, weil auch er das steigende Vorderrad im ersten nur schwer kontrollieren könnte. Und braucht so satte 3 bis 3,2 Sekunden von Null auf Hundert. Selbst wenn er im Spiel mit der Kupplung ganz hoch pokert.
Der Vollgas-Bazillus
Immer größer, immer stärker, immer schneller: Bereits seit seinem ersten Rennen 1994 bei den All American Days auf dem Nürburgring ist Günther Sohn, Jahrgang 1956, vom Dragrace-Bazillus infiziert. Damals startete der begeisterte Harley-Fahrer, der sich ein Jahr zuvor mit seiner Firma G & R (Telefon 06341/960117, www.gr-sohn.com) selbständig gemacht hatte und seitdem Technik für Harley und Buell (zum Beispiel Big-Bore-Kits mit TÜV) anbietet, mit einer 80-PS-Harley.»Und dann willst du zwangsläufig immer mehr«, beschreibt er die typische Dragster-Karriere. Zum Glück gibt es in der Szene neben der Klasse Super Street Bikes, in der sich vor allem japanische Vierzylinder tummeln, auch ein spezielles Harley-Pendant. Bei den »Modified Harleys« (Hubraumbeschränkung auf 2065 Kubikzentimeter) fuhr Sohn einige Jahre erfolgreich mit und schaffte als Erster die Viertelmeile unter zehn Sekunden. Grund genug, um 1999 in die Super Twin TopGas-Klasse aufzusteigen, das Höchste, was mit einem entfernt nach Harley aussehenden Dragster zu machen ist. Dementsprechend stellt sich sein Renngerät dar. Der Rahmen, von Kosman gebaut und in Eigenleistung modifiziert, verbindet auf 1,70 Meter eine nur 1,85 Zoll breite Vorderradfelge mit dem gewaltigen neun Zoll breiten Hinterrad, die Gesamtlänge (mit Wheeliebar) beträgt 3,70 Meter, das Gewicht mit »randvollem Zweilitertank« 205 Kilogramm. Beschleunigt wird die Fuhre von einem 2730 Kubikzentimeter großen V2, in dem die 117-Millimeter-Kolben 127 Millimeter Hub zurücklegen, während sich die 41er-Mikuni-Rennvergaser um die Gemischbildung kümmern. Ergebnis: 265 PS bei 5850/min und ein maximales Drehmoment von 315 Nm bei 4600/min.Wer nun meint, die seien mit der Gashand schwer zu dosieren, liegt vollkommen falsch, weil die Gashand eines TopGas-Piloten digital arbeitet. »Es gibt nur Vollgas«, erklärt Sohn. »Beim Start und auch danach. Bei gezogener Kupplung ist die Drehzahl über einen Kontakt automatisch begrenzt. Erst wenn die Kupplung schnalzt, läuft der Motor auf vollen Touren. Danach wird mit dem Knopf am linken Lenkerende bis in den fünften Gang hochgeschaltet, und zwar unter Vollast per Luftdruck. Nicht einmal die Zündung wird unterbrochen.«Notwendig für diesen Kraftakt ist ein spezielles Dragstergetriebe, dessen Zahnräder extrem hinterschliffen sind. Mit der Folge, dass Sohn nicht einfach auskuppeln kann, sondern sein Gerät nach dem Zielstrich ausrollen lässt. Und es damit weitaus gemütlicher hat als so mancher Pilot in der Dragster-Königsklasse, bei den Top-Fueler. Die nämlich verzögern nach dem Zielstrich so vehement per Bremsfallschirm, dass sich bisweilen die Netzhaut vom Auge löst. Und das ist dann die Infektion höchsten Grades mit dem Vollgas-Bazillus.
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