Motorradtour in Marken, Italien: Zwischen Adria und Apennin

Motorradtour in Marken, Italien
Zwischen Adria und Apennin

Veröffentlicht am 01.06.2023

Jesi bereitet uns einen sonnig-warmen Empfang. 22 Grad Anfang Oktober mögen für italienische Verhältnisse ganz normal sein, für Caro und mich sind sie nach einer kalten, regenreichen Anreise aus dem Norden ein Geschenk des Himmels. Als solches galt übrigens anno 1194 auch der kleine Federico, dem seine Mutter, mit 40 Jahren damals nicht unbedingt mehr im gebärfreudigsten Alter, in Jesi das Leben schenkte. Ob die Geburt, wie gerne erzählt wird, öffentlichkeitswirksam in einem Zelt auf dem Marktplatz stattfand oder nicht: Tatsache ist, dass aus dem Säugling der spätere Stauferkaiser Friedrich II. wurde.

Ein Who’s who der italienischen Architekturgeschichte

Ebenso sicher ist, dass die heutige Piazza Federico II im Zentrum von Jesi dich Bauklötze staunen lässt, buchstäblich: der barocke Palazzo Balleani, die Kathedrale von San Settimio, der Obeliskenbrunnen, das Kloster von San Floriano, das Teatro Pergolesi, der Palazzo Ghislieri Vecchio – ein Who’s who der italienischen Architekturgeschichte. Und wo gibt’s dort abends was zu futtern? In – oder besser noch vor – der "Rambaldus Cocktail Bar", an einem Tisch mit Blick auf all die romantisch erleuchtete Pracht drum rum! Ach, bella Italia. Längst vergessen und verziehen ist, dass sich Jesis Altstadt uns gegenüber anfangs doch etwas verschlossen gab, mit den Motorrädern kaum ein Durchkommen war in das von einem Mauerring umzingelte "centro storico". Dabei hätte sich gerade die V85 TT Travel mit ihrem "Beige Namib" farblich harmonisch ins Ensemble der ocker- und sandsteinfarbigen Häuser eingefügt. Aber dieses erkundet man ja eh nach erfolgreicher Quartiersuche am besten per pedes.

Von Jesi nach Ancona bis Sirolo

Von Jesi nach Ancona. Go, Guzzi, go! Wir schippern durch ein grün-braunes Weinberge-Felder-Mosaik entlang der Riviera del Conero bis Sirolo, 1996 gekürt zur "Königin der italienischen Strände". Nun, für Sandkastenspiele ist es zu früh – oder zu spät. Viel zu groß ist in den Marken auch die Anziehungskraft des Hügelmeers mit all den Wellenkämmen, gekrönt von Dörfern und spitzen Kirchtürmen. Aber selber schuld, wer sich von der Karte voller appetitlich kringeliger Sträßchen zwischen Osimo und Macerata, zwischen Montegiorgio und Venagrande verführen lässt – und dabei den Hals nicht vollkriegt, im übertragenen wie auch im eigentlichen Wortsinn. Denn so grandios das Gekurve ist, die Sehnsucht nach dem ultimativen "Dorfplatz mit Straßencafé bei Tag" erfüllt sich heute so wenig wie seit Jahren die des Guzzi-Fans nach einer kernig-sportiven 1000er, quasi einer modernen Le Mans. So ist es schon spät, als wir in Ascoli Piceno eintrudeln, uns durchschlängeln fast bis zur phänomenalen Piazza del Popolo – laut Reiseführer einer der lebendigsten öffentlichen Plätze Italiens, auto- und motorradfrei. Wohl denen, die sich hier von der Küche des historischen "Caffè Meletti" verwöhnen lassen können und es anschließend nicht weit zu ihren Betten haben. Tja, unsere sind heute leider nicht gerade fußläufig entfernt, und daher heißt es: Autostrada zurück nach Jesi, avanti, avanti! Apropos: Schnellster Sohn der Stadt ist Giancarlo Falappa, ehemals für Ducati in der Superbike-WM unterwegs und wegen seiner wilden Wheelies berühmt-berüchtigt als "il leone di Jesi", der Löwe von Jesi.

Zwei Hirsche aus Metall zieren die Umfriedung der Piazza Vittorio Emanuele II mit dem Palazzo Comunale in Cingoli. Davor der Adler aus Mandello – fertig ist das erste Bild des neuen Tages. Der bereits super begann, mit knallblauem Himmel und einer Morgensonne, die die scharf konturierten Schatten der Motorräder auf den frischen Asphalt der sich hoch nach Cingoli, zum "Balkon der Marken", schraubenden SP 502 malte. Irgendwo auch ein Schild zur Motocross-Strecke. Sosehr es Caro, begeisterte Hobby-Crosserin, in den Fingern juckt: Wir wollen uns nicht wie gestern erneut verzetteln, tippen lieber Treia als nächste Station ins Navi. Also über beinahe historisch zu nennenden Belag holterdiepolter hinab gen Avenale und vom trutzigen Treia mit seinen alten Stadttoren dann weiter nach Pollenza. Na bitte, geht doch: Auf der Piazza della Libertà finden wir im "Caffè Centrale di Sabina e Tania Verdolini" endlich das so lange Gesuchte: Stracciatella, Amarena und Limone – lecker Eis mit Dorfleben drum rum.

Schluchtenflitzen in den Sibillinischen Bergen

Zum nächsten Schmankerl. Dazu zweigt in Santa Maria di Pieca von der SP 78 ein Schlängelsträßchen ab nach San Lorenzo. Eine andere Welt, die Einladung zum Schluchtenflitzen in den Sibillinischen Bergen. Aber was ist dann das: Als hätte jemand einen Cocktail gemixt aus Blue Curaçao und Waldmeisterbrause, taucht der Lago di Fiastra auf, badetauglicher Stausee und Anglerparadies. Forellen fischen? Serpentinen sammeln! Erst zum Skigebiet Bolognola empor, kurzer Abstecher zum Schotterspielplatz zu Füßen des Monte Sibilla, dann Slalom auf der SP 157 nach Sarnano. Es muss eben nicht immer das Stilfser Joch sein, um die Reifen rund zu fahren.

Urbino ist ein Muss

Und wo muss man in den Marken sonst noch unbedingt hin? Mal abgesehen davon, dass unsere drei Tage vor Ort eigentlich viel zu wenig sind für das kaum entwirrbare Knäuel von Spaghettisträßchen mit all den Bergnestern, die wie Parmesanstückchen das Ganze würzig abrunden. Wie auch immer: Absolutes Muss ist Urbino. Die alte Renaissance- und Universitätsstadt, zudem Geburtsstadt des Malers Raffael, liegt im Nordwesten der Marken. Getrennt von unserer Basisstation Jesi, man ahnt es schon, durch ein Knäuel von Spaghettisträßchen. Mahlzeit, wieder die lustvolle Qual der Streckenwahl.

Los geht’s über Staffolo, wo zwischen mittelalterlichem Kirchturm und klassischen Zylinder-"Türmen" der V85 trotz gewisser Ähnlichkeit doch Welten liegen. Nachdem wir endlich bei Serra San Quirico den Einstieg zum Passo Poggio San Romualdo gefunden haben, dürfen die Motorräder auf der SP 14 Achterbahn durch viel Wald fahren, bis uns schließlich kurz vor Genga die Grotte di Frasassi in Versuchung führt. Die Tropfsteinhöhle zählt zu den spektakulärsten Naturmonumenten Italiens und ist, so man brav der Ausschilderung folgt, vom Besucherparkplatz aus per Shuttlebus und für 18 Euro Eintritt zu bewundern. Wir widerstehen, scusi, lassen statt Stalaktiten in der Höhle nur Eis aus dem Hörnchen tropfen, am Kiosk in der bunten Boxengasse. Zeit und Reifenprofil schmelzen weiter auf schluchtigem Geläuf gen Arcevia, ummauerte "Perle der Berge" auf dem Monte Cischiano, die mit ihren beiden Türmen aussieht wie ein Schachspiel aus lauter weißen Figuren. Und während die Goldenen Bronzen von Cartoceto di Pergola, eine Reitergruppe mit zwei Pferden und zwei Damen, Fundstücke aus der Römerzeit, die Herzen kunstsinniger Museumsgänger erfreuen, kriegen auf der kurvigen SP 43 nach Fermignano die Cavalli unserer Motorräder ordentlich Puls.

Zeit für Koffein und Pizza in Urbino. Nicht so einfach. Fast wie ein Keuschheitsgürtel, der den Verkehr draußen hält, umschließt eine Mauer das Schmuckstück der italienischen Renaissance. Da braucht es wohl schon ein wenig Chuzpe, um mit dem Moto einen Weg zu suchen zum Dom Santa Maria Assunta und Palazzo Ducale. Aber wer in Italien kann so einer dezent blubbernden Moto Guzzi wirklich böse sein? Erst recht an einem Tag wie diesem, als wir auf der Piazza Rinascimento mitten hineinplatzen in die feuchtfröhliche Feier frischgebackener Absolventen der Universität Carlo Bo. Salute! Ein obligatorisches Hallo auch, außerhalb des Altstadtrings, an der Piazzale Roma für Raffael. "Endlich mal ein großer Italiener", grinst Caro beim Blick auf das Denkmal mit der überlebensgroßen Figur des Künstlers. Koffein und Pizza finden wir dann doch noch an der Borgo Mercatale, tief unterhalb der ganzen Hochkultur von Urbino. Die Rückfahrt? Erst auf der SP 51 durch die Monti della Cesana Richtung Fossombrone, bis uns schließlich das Navi durch die Nacht wieder zurück zu unserer Basis lotst. Nach Jesi, einer der bezaubernden "schönsten Orte Italiens".