Fahrbericht Yamaha YZF-R1 (2004)

Fahrbericht Yamaha YZF-R1 (2004)
:
Nummer eins lebt

© Foto: Künstle

Sie war die Erste einer neuen Art. Dann kamen andere, zuletzt auch schnellere. Doch nun schlägt die R1 zurück.

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Die ehrenwerten Mitglieder des »Eastern Creek Raceway Clubs« müssen bisweilen allerhand einstecken. Vor Jahren verloren sie den Motorrad-Grand-Prix an Phillip Island – und nun
degradiert Yamaha-Cheftester Jeffry de Vries die schnelle Strecke nahe Sydney gar zur Go-Kart-Bahn. Die zweite Kurve sei auf der neuen R1 im ersten Gang zu nehmen, referiert er beim morgendlichen Briefing. Ebenso Turn neun. Dazwischen kämen immerhin die Gänge zwei und
drei zum Einsatz, Nummer vier und fünf hätten bis zur Start-Ziel-Geraden Pause. Den Sechsten, erklärt Jeffry lapidar, würde man auf diesem Kurs nicht benötigen.
Die Tatsache, dass am Ende der
Geraden Tempi weit jenseits der 260 km/h auf der Uhr stehen, macht dann selbst abgebrühten Gasgriffjongleuren nochmals eindringlich deutlich, was die Stunde in diesem Super-Supersportlerjahr geschlagen hat. Es ist die Auseinandersetzung auf einem Leistungsniveau, das weder Rennstreckenbauer noch Technikpropheten voraussehen konnten.
172 PS – damit ging Yamaha selbstbewusst in Vorlage. 172 Kilogramm Gewicht. Ohne Treibstoff – Benzin oder Sprit klingt in diesem Zusammenhang zu lapidar. Das ist unglaublich. Das ist Furcht einflößend. Und es ist – machen wir uns nichts vor – auch die Auseinandersetzung mit uns selbst.
Damit die nicht schon beim Vorgeplänkel in einem mentalen Waterloo endet, bietet die neue R1 beste strategisch-taktische Voraussetzungen zur Attacke. Die Sitzposition hinter dem kurzen Tank ist, wie mittlerweile in diesen Kreisen
üblich, irgendwo zwischen sportlich und relaxed anzusiedeln, weil weder Tankkanten noch irrwitzig tief angeklemmte Lenkerhälften stören und die Fußrasten einen menschenwürdigen Abstand zum Sitzpolster halten. Auch ist es wegen der im Vergleich zur Vorgängerin nun über den Motor führenden und damit schmaleren Rahmenprofile nicht mehr notwendig, die Schenkel über Gebühr zu spreizen. Sprich: Es passt, man fühlt sich wohl. Der Blick schweift anerkennend über das edle Cockpit, bei dem sich Designer und Kaufleute zum Glück den digitalen Drehzahl-Hokuspokus verkniffen haben. Wandert weiter, bewundert die breite, geduckte Verkleidungsfront, verfolgt den geschwungenen Verlauf der Ram-Air-Kanäle – und ist schlagartig zurück in der brutalen Wirklichkeit. Ram-Air, jetzt auch bei der R1! 180 PS sollen es sein, wenn der anstürmende Fahrtwind mit Macht in die stattliche Airbox hinter dem Lenkkopf drückt. Bei Vollgas im sechsten Gang.
Angesichts dessen kommt beinahe so etwas wie Glück auf, dass hier der Fünfte reicht. In den ersten verhaltenen Einführungsrunden würde es auch der Vierte tun. Oder der Dritte, denn eines lernt man auf der Geraden ganz schnell über die neue R1. Ihr moderner Hochleistungs-Tausender fängt da, wo früheren Hubraum-Protzen die Luft ausging, gerade erst an. Endgültig vorbei sind die Zeiten der Ur-R1, die brutal aus der Tiefe des Drehzahlkellers anriss, aber schon diesseits der 11000/min geschaltet werden wollte. 77 Millimeter Bohrung, deren 53,6 Hub, Verdichtung 12,4 zu eins, entsprechende Steuerzeiten der zierlichen drei Einlassventile (MOTORRAD 3/2004): Es darf gedreht werden bis zum Ich-glaub-es-nicht. Wer sich traut, kann erleben, wie der Motor locker bis zu atemberaubenden 14000/min dreht. Dabei reißt es Mensch und Maschine derart fulminant nach vorne, dass man an den angegebenen 172 PS bei 12500/min keine Zweifel hegt. Das Ding hat Dampf, und der kommt über die Drehzahl. Ein echter Sportmotor eben, aber unverändert ein 1000er.
Das wird spätestens dann deutlich, wenn man ins Winkelwerk von Eastern Creek eintaucht. Verzwickte Kehren, Kuppen, blinde Einlenkpunkte: Gelobt sei die fehlerverzeihende Kraft des Hubraums. Keine Zeit zum Runterschalten, falsche Linie, nichts passt mehr, wie
komme ich hier raus? Auf der neuen R1 kein Problem. Einfach Gas anlegen. Denn erstens geht die jetzt mit elektronisch gesteuertem Doppel-Drosselklappensystem ausgerüstete Yamaha immer noch sehr weich ans Gas. Und zweitens reicht der nach wie vor linear einsetzende Schub locker aus, um das Leichtgewicht mit Macht, aber fein kontrollierbar voranzutreiben. Trotz des geringeren und 2000 Umdrehungen später anfallenden Drehmomentmaximums.
Daran ändert sich auch nichts, wenn die Linie exakter und das Tempo höher werden. Der Übergang von berechenbarem Schub zu brachialem Druck verläuft angesichts des immensen Drehzahlbands so fließend und kontrollierbar, dass er kaum auffiele, wäre da nicht ein zuverlässiger, auf den Kuppen von Eastern Creek besonders signifikanter Indikator. Es ist die leicht werdende Frontpartie, die an den gewaltigen Vortrieb erinnert. Und es ist der beim 2004er-Modell serienmäßige Lenkungsdämpfer, der an diesen Stellen Schlimmeres verhindert. Immer wieder rührt es um den Lenkkopf, ganz böse Zucken tut es jedoch nie. Macht eher Spaß als Angst, und das ist gut so.
Gut ist ab sofort auch das Getriebe, denn mit dem Dogma, dass sich Gangwechsel speziell in den unteren Gängen lautstark artikulieren müssen, hat Yamaha bei der jüngsten R1-Generation gebrochen. Geschmeidig flutschen selbst die Zahnradpaare der Gänge eins, zwei und drei ineinander, stören nicht den harmonischen Fluss, zu dem sich Drehzahl und Drehmoment, Fahrer und Fahrzeug mittlerweile zusammengefunden haben.
Wozu das gelungene Fahrwerk seinen Teil beiträgt. Welche Rolle dabei zwei oder drei Kilogramm mehr oder weniger Gewicht spielen, sei einmal dahinge-
stellt. Wichtig ist, dass alle Komponenten Hand in Hand arbeiten, und in dieser
Hinsicht haben die Yamaha-Ingenieure saubere Arbeit geleistet. Neutral, doch nicht ganz so handlich wie eine Kawasaki ZX-10R fällt die R1 von einer Schräglage in die andere, hält zielgenau den Kurs, lässt sich dabei sogar von üblen Bodenwellen nicht aus der Ruhe bringen. Setzt rüden Brems- oder Beschleunigungsmanövern hochwertige Federelemente mit nicht übertrieben harter Abstimmung und breitem Einstellbereich entgegen. Erlaubt, dank der neuen Radialpumpe genaue Kontrolle, wenn sich die radial verschraubten einteiligen Vierkolben-Bremszangen nachhaltig, jedoch keineswegs aggressiv in 320-Millimeter-Bremsscheiben verbeißen. Und rollt mit den neuen Michelin Pilot Power auf Reifen, die im Alltag wunderbar mit dem Supersportler harmonieren und jederzeit satte Reserven bieten, wie ein Ausflug in das Umland von Sydney belegte.
Dass dieser Eindruck für den Rundkurs von Eastern Creek nur mit Abstrichen in Sachen Haftung galt, mag an zwei Faktoren gelegen haben. Zum einen wurde noch am Morgen vor der Präsentation der Rasen rund um den Kurs gemäht, was wegen der anfallenden Staubentwicklung der Traktion nicht dienlich war. Zum zweiten wurde am Nachmittag der nervösere, aber nochmals deutlich griffigere Rennbruder Pilot Race aufgezogen. Und der ist von seiner Bestimmung her viel näher dran an dem, was der neuen R1 unmissverständlich ins Stammbuch geschrieben wurde: »Own the racetrack!« Oder waren das die anderen? Egal, Ring frei zur nächsten Runde.

Technische Daten – YAMAHA YZF-R1

Motor: wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, zwei oben liegende, kettengetriebene Nockenwellen, fünf Ventile pro Zylinder, Tassenstößel, Nasssumpfschmierung, elektronische Saugrohreinspritzung, Ø 42 mm, Motormanagement, geregelter Katalysator mit Sekundärluftsystem, E-Starter, Drehstromlichtmaschine 560 W, Batterie 12 V/9 Ah.
Bohrung x Hub 77,0 x 53,6 mm
Hubraum 998 cm3
Verdichtungsverhältnis 12,4:1
Nennleistung
126,4 kW (172 PS) bei 12500/min
Max. Drehmoment
107 Nm (10,9 kpm) bei 10500/min

Kraftübertragung: Primärantrieb über Zahnräder, mechanisch betätigte Mehrschei-
ben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette, Sekundärübersetzung 45:17.
Fahrwerk: Brückenrahmen aus Aluprofilen, Upside-down-Gabel, Ø 43 mm, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Zweiarmschwinge mit Unterzügen aus Aluprofilen, Zentralfederbein mit Hebelsystem, verstellbare Federbasis, Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 320 mm, Vierkolben-Festsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 220 mm, Zweikolben-Festsattel.
Alugussräder 3.50 x 17; 6.00 x 17
Reifen 120/70 ZR 17; 190/50 ZR 17
Fahrwerksdaten: Radstand 1395 mm, Lenkkopfwinkel 66 Grad, Nachlauf 97 mm, Federweg v/h 120/130 mm.
Maße und Gewichte: L/B/H 2065/720/
1105 mm, Sitzhöhe 815 mm, Trockengewicht 172 kg, zulässiges Gesamtgewicht 395 kg, Tankinhalt/Reserve 18/3,4 Liter.
Garantie zwei Jahre ohne
Kilometerbegrenzung
Farben Blau, Rot, Silber
Preis 13295 Euro
Nebenkosten zirka 180 Euro

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