Herr Gericke hat das Rad neu erfunden. Beziehungsweise zweckentfremdet als rudimentäres Testgerät für synthetische Textilien. Das Rad, entnommen aus einer Honda Monkey, montiert an der Beifahrerseite eines Porsche Cabriolets. Die Textilien: Gewebe aus Polyamid, Kevlar, Karbon und Teflon, die über das Rad gespannt wurden. Auf der Autobahn gab Hein Gericke dann Stoff. Ließ das mit den Textilproben präparierte Rad über den Asphalt schleifen und begutachtete anschließend die Materialien. Das war 1980.
Die erste Gericke-Textilkombi bestand aus für damalige Zeiten exotischen Kevlarfasern. »Und verkaufte sich miserabel«, erklärt Hein Gericke heute und merkt lachend an: »Im Grunde genommen war das alles Quatsch, Leder war einfach besser.« Versuche mit textiler Motorrad-Sicherheitsbekleidung hatte es freilich schon früher gegeben. Peter Fackelmann etwa brachte in den Siebzigern einen Polyesteranzug, der beim Sturz mittels mehrerer Verschiebeschichten die Haut schützen sollte. Doch auch dieses Projekt war nur mäßig erfolgreich. Zuvor setzten Motorradfahrer alternativ zu Leder auf Wachscotton. Für einen Sturz war man damit jedoch nicht gut gerüstet. Die seit Anfang der Achtziger ebenfalls von Hein Gericke angebotenen, ultrarobusten, aber sackschweren Synthetikjacken und -hosen des Schweizer Konfektionärs Bullson kamen mit ihrem akzeptablen Wetter- und Unfallschutz da schon besser an. Das Angebot an textiler Motorradbekleidung insgesamt war jedoch dünn. Heutzutage, rund 25 Jahre später, bestehen etwa drei von vier verkauften Kombis aus Textilgewebe.
Hans-Jürgen Hübner wundert der Siegeszug synthetischer Stoffe nicht. Der Geschäftsführer der Schoeller Textil AG im schweizerischen Sevelen hatte seinerzeit selbst Pionierarbeit geleistet und nimmt aktuell erneut eine Vorreiterrolle ein. Er und seine Firma haben in einem speziellen Nanotechnologie-Verfahren diverse gegen Schmutz unempfindliche Stoffe entwickelt, die ihre selbstreinigende Wirkung dauerhaft behalten sollen. An das Gericksche Rad, das Hübner einst mit eigenen Augen inspizierte, erinnert er sich gern. Wobei der Geschäftsmann grundsätzlich
lieber nach vorn schaut: »Geben Sie mir den Auftrag, und ich baue Ihnen eine Motorradjacke aus Mais. Oder aus Bambus, meinetwegen auch aus Seealgen. Wir können weg vom Öl.« Obwohl das alles noch eher Zukunftsmusik ist (siehe Interview Seite 84), geht Hübner fest davon aus, dass sich natürliche Rohstoffe irgendwann durchsetzen werden. Weil sich aus ihnen Fasern syntheti-sieren lassen, die ähnliche Eigenschaften besitzen wie die zurzeit üblichen auf Erdöl basierenden Kunstfasern aus Polyamid, Polyester und anderen Polymeren.
Diese Kunststoffe werden etwas vereinfacht dargestellt als Granulat in große Maschinen geschüttet, geschmolzen und kommen aus feinen Düsen als Fasern wieder heraus, die zu Garn versponnen werden. Insbesondere Garnhersteller aus Korea, Taiwan und Japan besitzen eine weit entwickelte Fertigungstechnologie, um massenhaft Garn zu produzieren. Auch bei der Weiterverarbeitung zu technischen Geweben blicken die Asiaten auf eine jahrzehntelange Tradition zurück. Abnehmer sind in der Regel Militärs sowie Konfektionäre von Berufs- und Sportbekleidung. »Motorrad war bei uns immer der Schlüssel«, sagt Schoeller-Chef Hübner, der als europäischer Spezialist für technische Webstoffe im Highend-Bereich ganz vorne mitmischt. Wer die dafür erforderlichen Eigenschaften zu verbinden verstehe, könne auch für andere Freizeitaktivitäten wie Skifahren oder Bergsteigen Funktionsstoffe herstellen. Denn Stoffe für Motorradfahrer müssen leicht, komfortabel und gleichzeitig extrem reißfest sein.
Größtes Problem: die Hitzebeständigkeit. Bei einem Unfall um die 100 km/h kann durch Reibung auf dem Asphalt an der Kleidung punktuell eine Temperatur von über 200 Grad Celsius entstehen. Herkömmliche Polyamid- und Polyestergewebe sind zwar sehr abriebfest, schmelzen jedoch bei solch einer Hitze und brennen sich schon nach wenigen Sekunden in die Haut des Fahrers. Aramidfasern, die vom amerikanischen Chemiekonzern Du Pont unter dem Handelsnamen Kevlar entwickelt wurden, schmelzen hingegen nicht, sondern verkohlen lediglich, und das erst ab etwa 400 Grad Celsius. Mit diesen Eigenschaften eignen sich die typischerweise honigfarbenen, extrem zähen Fasern etwa für schusssichere Westen oder eben als Bestandteil von synthetischen Mischgeweben hervorragend für Motorradschutzkleidung. Teilweise werden in einem aufwendigen Verfahren die einzelnen Polyamidfasern mit Aramid ummantelt.
Aber auch ohne Sturz sollte sich die Kleidung nicht durch Wind und Wetter in Wohlgefallen auflösen und mitunter auch Attacken von verspritztem Benzin oder Motoröl standhalten. Die Gewebe müssen dementsprechend dauerhaltbar präpariert sein. Was eine Wissenschaft für sich ist. Mit welcher Webart, welchen Chemikalien und bei welcher Temperatur die Stoffe entstehen, gehört zum Feintuning des Webers, denn er legt die gewünschten Funktionen fest. Die Rohmaterialien sind meist dieselben, aber wie beim Kochen der Chef de Cuisine über die Zubereitung
entscheidet, ist es hier der Chemiker oder Textilingenieur. Das
genaue Rezept der Veredlung ist natürlich Geheimsache, daraus schlägt der Entwickler und Hersteller sein Kapital.
Rund 30 Euro pro Kilogramm kostet allein das Garn für ein aufwendiges Kevlar-Gewebe. Ein hochwertiges Polyamidgarn, das zum Beispiel für ein Cordura-Gewebe benutzt wird, liegt bei knapp zehn Euro das Kilo. Bereits um die 25 Euro verkaufen hingegen chinesische Billig-Konfektionäre auf dem globalisierten Weltmarkt bei entsprechender Stückzahl komplette Motorrad-Textilanzüge einfachster Machart. Teilweise verhökern knallhart kalkulierende Trader in Hongkong diese Ware weiter gen Europa. Dort bieten auf Sportbekleidung spezialisierte Handelskontore die Jacken, Hosen sowie Handschuhe Supermärkten und Discountern an zu Spottpreisen und ohne genaue Kenntnisse über die Herkunft der Klamotten. Letztlich landen diese zum Dumping-Kurs als Wochenaktion auf den Wühltischen. Dass bei diesen Geschäften Entwicklungsarbeit und Qualitätsprüfungen eher nebensächlich sind, liegt auf der Hand.
Auf Motorradbekleidung spezialisierte Großanbieter und Filialisten wie Polo oder Hein Gericke lassen zwar ebenfalls ausschließlich in Fernost fertigen und vertreiben vergleichsweise große Stückzahlen, aber die Entwicklung bis zur Serienreife läuft am Firmensitz in Düsseldorf. Und um etwaige Fertigungsmängel aufzuspüren, werden unabhängige Prüfstellen wie der TÜV Rheinland beauftragt, Stichproben aus dem Handel herauszuziehen. Außerdem arbeiten diese Unternehmen lediglich mit asiatischen Zulieferern und Konfektionären zusammen, zu denen sich über Jahre ein Vertrauensverhältnis entwickelt hat. Vor allem in Indonesien haben sich viele Konfektionäre in der Herstellung von Funktionskleidung einen guten Namen gemacht. Von einer guten Reputation eines Produkts wollen manchmal allerdings auch zuvor erwähnte Billigstanbieter profitieren, indem sie bestimmte Artikel stumpf kopieren. Allein Polo ließ unter Androhung von Rechtsmitteln in der Vergangenheit rund ein Dutzend auffällig gewordener Fremdprodukte vom Markt nehmen.
»Eine vernünftige Motorradjacke wird kaum unter 150 Euro zu bekommen sein«, befindet Textilexperte Ralf Killmer von Polo, wenn er alle Posten bis zum Endprodukt zusammenrechnet. Top-Seller im Polo-Portfolio sind momentan Mittelklasse-Kombis um 400 Euro, die sich hierzulande tausendfach verkaufen. Außerdem favorisieren immer mehr Motorradfahrer die Anschaffung eines zusätzlichen Sommeranzugs. »Bei einem voll ausgestatteten Ganzjahreszeiten-Anzug haben die Kunden wegen der vielen Reißverschlüsse, Druckknöpfe et cetera häufig Bedienungsprobleme. Eine Eier legende Wollmilchsau ist eben doch nur ein Kompromiss«, erläutert Hein-Gericke-Produktmanager Hermann Först und ist erfreut, dass die Kunden offensichtlich zu Extra-Ausgaben für eine zweite Kombi bereit sind.
Alleskönner-Kleidung steht dennoch im Fokus der meisten Anbieter. Der finnische Hersteller Rukka mit Firmensitz in Lahti etwa forscht zusammen mit der Universität in Tampere nach der perfekten Fahrerausstattung und investiert dafür rund ein Drittel des Produktionsetats. Immerhin bringen die Finnen ihren in Portugal geschneiderten Highend-Anzug mit dem werberisch griffigen Namen »Smart Rider Outfit« (SRO) nun schon im fünften Jahr für fast schon sagenhafte 2200 Euro an den Mann oder die Frau wenn auch nur in überschaubaren, jährlich maximal dreistelligen Stückzahlen. »Unsere Kunden erwarten Innovation. Das ist unsere einzige Chance im harten Wettbewerb«, erklärt Matthias Kroner, Geschäftsführer von Rukka Deutschland. Demnächst wird eine Jacke mit integrierten, besonders komfortablen Gewebe-Protektoren auf den Markt gebracht. Entwicklungszeit laut Hersteller: zwei Jahre. Anvisierter Preis: 1500 Euro.
Schneller und günstiger muss es für Mittelklasse-Anbieter Haveba von der Schwäbischen Alb gehen: Von der ersten Idee bis zum fertigen Kleidungsstück im Einzelhandel vergeht höchstens ein Jahr, und eine Jacke darf selten über 300 Euro kosten. »Wir müssen bei Schnitten und Farben stets am Ball bleiben, sonst hat sich der Geschmack bereits wieder geändert«, glaubt Geschäftsführer Gaspare DAngelo, der Mode und Funktion unter einen Hut bringen möchte. Während zum Beispiel in Italien ein aggressiver Aufdruck »2 fast for u« gut ankommt, verzichtet er im modisch eher nüchternen Deutschland lieber darauf. Inspirationen für Trends, neue Materialien und Schnitte holt sich DAngelo auf Fachmessen in Europa. Fertigen lässt er in Pakistan. Der einzige Hersteller, der Textil-Motorradbekleidung in Deutschland schneidert, ist Stadler im bayerischen Aidenbach. Allerdings nur die exklusive Kleinserien, der Großteil wird in Osteuropa konfektioniert. Seit über dreißig Jahren hat Stadler durch seine Motorrad-Klientel viele Erfahrungen gesammelt. Eine davon: Mit technischer Bekleidung verhält es sich wie mit einer Kette sie ist nur so stark wie das schwächste Glied. Mangelhaftes Material könne im Härtefall mitunter die gesamte Funktion von Jacke, Hose oder Handschuh lahmlegen, heißt es bei Stadler.
Das sieht man beim Membran-Spezialist W. L. Gore genauso, der ausschließlich an Lizenznehmer liefert. Letztere werden bei der Auswahl der Materialien und bei deren Produktion kontrolliert und unterwerfen sich festgelegten Standards. Die Strenge ist verständlich, schließlich garantiert der Membranhersteller dem Kunden Wasserdichtigkeit und steht letztlich dafür gerade. Und eine mangelhafte Verarbeitung oder minderwertige Stoffe zwingen auf Dauer selbst die beste Membran in die Knie. Ein gutes Zeichen ist daher, wenn ein Hersteller auf seine Ware längere Garantien als die gesetzlich vorgeschriebene Gewährleistung von zwei Jahren gibt.
Denn Motorradfahrer, die sich für eine Textilausstattung entscheiden, legen in der Regel großen Wert auf langfristig hohen Komfort zu allen Jahreszeiten. Anders als zu den Anfängen von synthetischer Motorrad-Textilbekleidung werden Käufer mit diesem Anliegen bei der heutigen riesigen Auswahl an Multifunktionskleidung problemlos fündig. Und auch in Sachen Unfallschutz hat sich seit den Gerickschen Radversuchen eine Menge getan: In einer cleveren Zusammenstellung verschiedener Stoffe erreicht aktuelle Textilkleidung inzwischen hervorragende Werte. Noch immer nicht so gut wie die von Leder, aber nahe dran. Warm anziehen müssen sich bei diesen günstigen Aussichten also allenfalls Leder-Fans, für die ein Stoffwechsel ein absolutes Tabu ist.
Interviw mit Jan Beringer, Hohensteiner Institute - interview
Dr. Jan Beringer, 34, von den Hohensteiner
Instituten im württembergischen Bönnigheim
(www.hohenstein.de), ist Experte für Funktions-
bekleidung. Spezialgebiet: Nanotechnologie.
Ist Nanotechnologie der neue Trend bei Motorradbekleidung?
Unter diesem Begriff wird zurzeit vieles gehandelt. Wobei
damit lediglich gemeint ist, dass durch aufgebrachte Kleinstteile die Oberflächenstruktur geändert wird.
Damit sich Schmutz von vornherein nicht festsetzen kann. Für Motorradfahrer doch eine tolle Sache, oder?
Klar, im Prinzip schon. Allerdings einfach irgendwelche Substanzen aufzusprühen und dies dann als Nanotechnologie anzusehen so wie es einige Hersteller machen , das kann jeder. Ob
und vor allem wie lange die gewünschte Wirkung einsetzt, steht dagegen auf einem anderen Blatt. Unter dem Mikroskop sollte bei entsprechend beworbenen Artikeln eine so genannte bionische Mikrostruktur zu erkennen sein. In der Praxis kann häufig bereits der erste Waschgang zum Killerkriterium werden. Dann ist oftmals bereits der spezifische Abperl-Effekt dahin, und auch Laien erkennen, wo »Nano« nur draufsteht und wo es auch wirklich drinsteckt.
Also letztlich doch eine überflüssige Technologie?
Nur wenige etablierte Hersteller erreichen gute Resultate durch eine aufwendige Textilveredlung. Wenn die Technologie funktioniert, bringt sie große Vorteile. Nässe und Schmutz werden vom Obermaterial abgewiesen, dadurch können sich Motorradfahrer ohne erhöhten Pflegeaufwand in hellen Farben kleiden. Und zukünftig werden mittels Nanotechnologie sicherlich noch weitere Funktionen möglich sein. Im Moment forschen wir beispielsweise an einer klimatisierenden Faser mit einer Infrarot-
Erkennung, die sich je nach Sonneneinstrahlung selbständig der Temperatur anpasst.
Und was sind weitere Trends bei Schutzbekleidung?
Gewebe, die anschmiegsam am Körper liegen, jedoch unter Einfluss von kinetischer Energie, etwa beim Aufprall auf der Straße, sich selbst verhärten und auf diese Weise dem Fahrer einen besseren Unfallschutz bieten.
Könnte Funktionsbekleidung auch aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden?
Theoretisch ja, momentan ist das allerdings noch Zukunftsmusik. Solange Erdöl für die Hersteller vergleichsweise günstig zu bekommen ist, sehe ich diesbezüglich keine Entwicklunsansätze.
Klimamembranen: verschiedene Bauarten
Die Grundfunktion ist immer gleich: Das Gefälle von Körper- zu Außentemperatur leitet Schweiß und Feuchtigkeit durch Verdampfung nach außen, Wind und Regenwasser können jedoch durch das dichte Material nicht nach innen. Als lose Folie (Liner) oder als Laminat wird die Membran mit dem Ober- und Trägermaterial verbunden, welche vor mechanischen Einwirkungen schützen sollen. Außerdem sollte der Oberstoff wasserabweisend sein und sich keinesfalls komplett vollsaugen, ansonsten funktioniert die beste Membran nicht. Mikroporöse Membranen lassen Wasserdampfmoleküle durch mikroskopisch kleine Öffnungen (bei Gore 1,4 Milliarden pro Quadratzentimeter) passieren. Kompaktmembranen hingegen erreichen ihre Atmungsfähigkeit auf chemischem Weg. Sie leiten mittels Transportmolekülen den Wasserdampf nach außen, sind in der Regel weniger atmungsaktiv als mikroporöse Membranen, dafür aber leichter zu pflegen, da keine Poren durch Schmutz oder ungeeignete Waschmittel verstopfen können.