Motorradsicherheit gestern und heute
Vorsprung durch Technik

Ein Motor und zwei Räder, Tank, Sitzbank und Lenker: In seiner Silhouette hat sich ein Motorrad in über einem Jahrhundert Bauzeit kaum verändert. Auch von Nahem wirkt so manches Motorrad von heute wie der Scheunenfund vom Urgroßvater. Doch lassen wir uns nicht täuschen: Unterm Kleid hat sich nahezu alles geändert! Motorräder von heute sind vor allem eins: sehr, sehr sicher geworden! Schauen wir uns dazu die Technik im Detail an.

Motorradsicherheit gestern und heute
Foto: Arnold Debus

Licht

Für Motorräder ist es seit Jahrzehnten Pflicht, zur besseren Wahrnehmung auch bei Tag mit Abblendlicht unterwegs zu sein. Diese "Alleinstellung" ist aber durch den zunehmenden Einsatz von Tagfahrleuchten bei Pkw und Lkw ins Hintertreffen geraten. Dank LED-Technik können sich neue Motorradmodelle allerdings wieder auffälliger in Szene setzen. Zum Teil werden inzwischen sogar Blinker in die "Tagfahrschaltung" integriert, um die schmale Frontsilhouette stärker zu betonen. Tagfahrlichter lassen sich auch an älteren Bikes nachrüsten – dabei aber die Konformität nach StVZO im Blick haben! Um den rückwärtigen Verkehr zu warnen, gibt es auch bei Motorrädern dynamische Bremslichter, die bei Notbremsungen mit dem Warnblinker im Stakkato blitzen. Auch diese Funktion gibt es als Nachrüstlösung für ältere Typen. Der Fahrer selbst profitiert von einer besseren Lichttechnik, die gerade bei Nacht die Straße effizient ausleuchtet und den Gegenverkehr weniger blendet. Zunehmend kommen aktive Scheinwerfer zum Einsatz, die je nach Schräglage inzwischen auch Kurven ausleuchten können – auch hier gibt es Nachrüstkits!

Rücksicht hat Vorfahrt

Connectivity

Motorräder reagieren besonders sensibel auf falsche Fülldrücke in den Reifen, und im Worst Case ist der Sturz unvermeidbar. Gut, dass sich die auch aus dem Auto bekannten Reifendrucksysteme (RDS) inzwischen bei Zweirädern etabliert haben und dem Fahrer über das Cockpit sofort die Warnung vor einem zu niedrigen Druck mitgeteilt wird. Gute Nachricht für Besitzer älterer Schätzchen: Dieses Tool lässt sich bei schlauchlosen Reifen ohne Weiteres nachrüsten. Ebenso als Nachrüstlösung, aber auch bei manchen Herstellern als Extra ab Werk erhältlich (u. a. BMW) ist ein automatisches Notrufsystem, welches auslöst, wenn alle Parameter auf einen Sturz oder Unfall hindeuten. Diese fest am Motorrad installierte Lebensversicherung ab rund 300 Euro ist im Ernstfall unbezahlbar. Inzwischen gibt es auch preiswertere Lösungen, die sich als App auf dem Smartphone installieren lassen.

Bremsen

Bereits seit Ende der 1980er-Jahre ist das Antiblockiersystem auf dem Vormarsch. Großer Vorreiter war BMW, allerdings blieb das ABS lange Zeit ein aufpreispflichtiges Extra. Der große Durchbruch erfolgt um die Jahrtausendwende, als das ABS zwar zögerlich, aber zunehmend auch von den großen japanischen Herstellern bei Einsteiger und Mittelklasse-Bikes angeboten wird. Aber erst seit 2016 (Euro 4) gehört das ABS zur Pflichtausstattung von Neufahrzeugen. Der technische Fortschritt ist spür- und messbar: Aus sackschweren, klobigen Bauteilen mit zehn Kilogramm Mehrgewicht sind kleine, kompakte, rund ein Kilo schwere Einheiten geworden, die immer feiner regulieren. Gegenüber einem ABS der ersten Generation hat sich der Bremsweg mit heutigen Systemen um über 30 Prozent verkürzt. Seit rund sechs Jahren ist als weiterer bedeutsamer Fortschritt das Kurven-ABS auf dem Vormarsch, das vor allem bei Schreckbremsungen in Schräglage das Sturzrisiko beträcht­lich minimiert – hieb- und stichfest auch bestätigt in vielen MOTORRAD-Tests.

Fahrzeugelektronik

Der Motor ist weiterhin das Herz, doch der Taktgeber moderner Motorräder heißt IMU, das Kürzel für Inertial Measurement Unit – eine Hightech-Schaltzentrale mit inzwischen Sechsachsen-Sensorik, die für das reibungslose Zusammenspiel aller Assistenzsysteme an Bord sorgt. Neben dem ABS helfen vor allem Fahrprogramme dabei, die Leistung gut und sicher auf die Straße zu bringen. So gibt es bereits bei Mittelklasse-Bikes diese Form der Traktionskontrolle mit einem speziellen Regenmodus, der Leistung und Drehmoment kappt und so das gefährliche Wegrutschen des Hinterrads beim Beschleunigen auf rutschigen Straßen verhindert. Beim Runterschalten kann eine Schleppmoment oder Motorbremsregelung wertvolle Hilfe leisten. Auf PS­starken Powerbikes oder den neuesten High-End-Sportlern wachsen die Einstellmöglichkeiten mit zum Teil individuell programmierbaren Fahrmodi mit Wheelie-, Stoppie- und Launch Control nahezu ins Unermessliche. Natürlich ist immer noch der vorausschauende Fahrer, der mit viel Gefühl am (inzwischen elektronisch gesteuerten) Gasgriff zieht, die entscheidende Instanz an Bord, doch er profitiert durch die kleine Blackbox namens IMU von einem gewaltigen Plus an Sicherheit.

Fahrwerk

Was nützt der bestabgestimmte Motor, wenn die Leistung nicht sicher auf die Straße gebracht werden kann? Auch in der Fahrwerkstechnik haben sich inzwischen Quantensprünge vollzogen. Immer sensibler ansprechende Federelemente, die zum Teil semiaktiv elektronisch gesteuert werden und sich innerhalb eines Bruchteils von Sekunden an veränderte Streckenverhältnisse anpassen. Bei großen Tourern und Reiseenduros lassen sich die verschiedenen Beladungszustände (solo oder mit Sozius und Gepäck) inzwischen per Knopfdruck anpassen. Stellmotoren sorgen für die korrekte und damit sichere Fahrwerksabstimmung. Noch ein wenig Zukunftsmusik, aber bereits auf der Zielgeraden für die Serienreife ist die nächste Evolutionsstufe eines aktiven Fahrwerks, die bei drohendem Sturz per Rückstoß aus einer Gaskartusche das Motorrad wieder stabilisieren kann.

Reifen

Power is nothing without control … so der bekannte Werbespruch einer bekannten Reifenmarke aus bella Italia. Tatsächlich könnte einem Angst und Bange werden, wenn man überlegt, dass die Kontaktfläche eines 200-PS-Motorrads zur Straße nur wenige Quadratzentimeter beträgt. Umso erstaunlicher ist es, was Motorrad-reifen-Entwickler Jahr für Jahr aufs Neue an haftstarken wie ultrastabilen Gummimischungen anrühren und in runder Reifenform ausbacken. Das Beste: Von diesen Entwicklungsschüben profitieren nicht nur Neumotorräder. Selbst ein Motorrad mit H-Kennzeichen lässt sich mit einer modernen Reifenpaarung in puncto Sicherheit auf ein komplett anderes Niveau heben – vor allem in kritischen Situationen wie z. B. einer Notbremsung auf regennasser Fahrbahn. Gibt es einen Safety-Tuningtipp für alle Biker? Ja – neue Reifen!

Airbag

Interessanterweise hat sich der im Auto allgegenwärtige Airbag auf bzw. im Motorrad noch nicht etablieren können. Nur Honda bietet bei der Gold Wing ein in der Tankkonsole integriertes System als Extra an. Wie sicher der Airbag gerade beim Seitenaufprall in ein Auto schützen kann, hat ein MOTORRAD-Tester (unfreiwillig) am eigenen Leib erfahren. Dafür aber haben sich verschiedene Airbagsysteme in der Fahrerausstattung (Textiljacke, Lederkombi) etablieren können. Es gibt einfache Reißleinensysteme, viel effektiver schützen elektronisch gesteuerte Systeme, die sich per Pyrotechnik in Sekundenbruchteilen entfalten können. Kostenpunkt einer E-Airbag-Jacke: rund 1.000 Euro.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023