Wo werden Trends gemacht? Natürlich in den USA. Und wer entdeckt sie? Zum Beispiel die Einkaufstruppe des Zubehör- und Bekleidungsanbieters Polo. Ortstermin bei der größten US-Motorradmesse und beim Biketoberfest in Daytona.
Wo werden Trends gemacht? Natürlich in den USA. Und wer entdeckt sie? Zum Beispiel die Einkaufstruppe des Zubehör- und Bekleidungsanbieters Polo. Ortstermin bei der größten US-Motorradmesse und beim Biketoberfest in Daytona.
Es gibt Angebote, die kann man einfach nicht ablehnen. Erst recht nicht im nasskalten deutschen Herbst: „Wir müssen nach Florida, Messe in Orlando und dann noch zwei Tage Biketoberfest in Daytona Beach – willste mitkommen?“ Anselm (49), Bekleidungschef beim Filialisten Polo, lockt mit diesen magischen Worten. Ich habe Anselm mal vor vielen Jahren meine Harley verkauft, und er ist mit dem Schätzchen erstaunlicherweise immer noch glücklich. Anselm weiß also um meine Affinität zu US-Themen und will sich nun tatsächlich freiwillig antun, dass ihm ein MOTORRAD-Redakteur fünf Tage lang beim Arbeiten auf die Finger schaut. Und mit diesem Ansinnen ist er nicht allein: Zur illustren Polo-Truppe gehören noch Marketing-Leiter Dirk (43) und Sortiments-Supervisor Stefan (44).
Der Trip ins immer noch sehr sonnige Florida ist für die Jungs überraschenderweise keine Lustreise. „Einkaufstour“ trifft die Sache schon eher, wobei es nicht direkt darum gehen soll, neue Ware zu beschaffen. Neue Ideen – das ist das Ziel der Tour. Die altgedienten Polo-Mitarbeiter sollen sich als Trendscouts betätigen und erkunden, was auf dem nordamerikanischen Markt angesagt ist und was vielleicht für Europa interessant sein könnte. Eine ganz normale Geschäftsreise also. Ähnliche Reisen machen die Jungs auch regelmäßig nach Fernost.
Die Zeiten, in denen wirklich jeder Mist, der in den USA verzapft wurde, mit Zeitversatz auch in Europa landet, sind zwar längst vorbei, doch zum Beispiel in Sachen Customizing und Freizeitbekleidung ist der Markt in den Vereinigten Staaten der Old Europe-Szene oft immer noch ein Stück voraus. In Sachen Messekultur machen allerdings die Europäer den US-Amerikanern noch etwas vor. Und so ist unser Trip zur AIMExpo (American International Motorcycle Expo) nach Orlando bei aller Messeroutine ein Trip ins Unbekannte.
Die zum ersten Mal stattfindende Fünf-Tages-Veranstaltung wirbt zwar als „Nordamerikas größte Motorradmesse“, doch wer die US-Messegepflogenheiten kennt, ahnt, dass das ein sehr relativer Superlativ sein kann. Den für Europäer üblichen Mix aus Fachbesucher- und Endverbrauchermesse, wie wir ihn mit der deutschen Intermot und der italienischen Eicma haben, kannten die Amis bislang nämlich gar nicht. Händler und andere Fachbesucher trafen sich bisher meist in Indianapolis oder Las Vegas; für Endverbraucher zog eine Art kleiner Messe-Wanderzirkus durch die Staaten. Die Harley-Jungs machen traditionell ihr ganz eigenes Ding, und so ist die AIMExpo für alle Beteiligten echtes Neuland.
Die drei Polo-Jungs und ich stehen natürlich am ersten der beiden Fachbesuchertage auf der Matte. Besser gesagt: in einer riesengroßen Halle von den Ausmaßen mehrerer Hangars, in der sich 392 Aussteller aus 49 Ländern recht luftig verteilen.
Was sofort auffällt: Die in Europa üblichen Protz-Stände mit VIP-Lounge und Show-Bühne gibt’s hier so gut wie gar nicht. Einige wenige – vornehmlich europäische – Aussteller treten zwar mit recht professionellen Midsize-Messeständen an, doch das Gros der Anbieter bevorzugt den in Deutschland üblichen Provinzmessen-Auftritt: Tapeziertisch mit Flaggen-Tischdecke plus drei Stellwände, Raufaser, weiß. Kleiderständer und Schaufensterpuppen gehören bereits zur gehobenen Ausstattung.
Doch das etwas rustikale Auftreten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier absolute Zubehör- und Bekleidungsprofis am Werk sind: Auf klare Fragen gibt’s klare und fundierte Antworten – Amis brauchen keine Förmlichkeiten, Amis kommen schnell und direkt zur Sache. Und haben für ihre Messegäste leider so gut wie nie Getränke im Ausschank. Alkoholische schon gar nicht, was der Bayer und Handschuhexperte Edgar Held, den wir an seinem Stand besuchen, ganz besonders bedauert.
Die Polo-Jungs wuseln meist getrennt voneinander durch die Gänge, jeder widmet sich seinem Spezialgebiet. Bekleidungsfachmann Anselm fühlt sich in seiner Einschätzung bestätigt, dass der „Urban Style“ boomt, dass Café Racer-Outfits mehr denn je angesagt sind und dass rein praktische Ausstattung eigentlich immer unwichtiger wird. Cool und chic soll es aussehen. Zweckmäßig? Kann sein, muss aber nicht. Helmexperte Stefan wird derweil auf dem Stand der wiederauferstandenen US-Kultmarke Bell bespaßt. Ganz böse und ganz klassische Helme werden 2014 in den USA der Renner sein. Und mit „klassisch“ ist nicht Opas Halbschale gemeint, sondern die erste Generation der Integralhelme aus den frühen 70er-Jahren oder auch der klassische Jethelm mit fiesem „Bubble-Visier“.
Dirk sucht sortimentsübergreifend und landet immer wieder bei Produkten, die mit den beiden Lieblingsthemen der US-amerikanischen Zubehörbranche zu tun haben: Licht und Wärme. Die Amis beleuchten und beheizen wirklich alles und jedes. Helme und Jacken mit Bremslicht-Funktion; Griffe, Handschuhe und Unterwäsche mit Heizelementen in teilweise aberwitziger Ausführung, gern auch mit Fernbedienung – hier wird deutlich, dass die US-Szene neben den ausschließlich auf modischen Chic achtenden Kunden auch sehr viele Kilometerfresser und Ganzjahresfahrer zu bedienen hat.
Und jede Menge mehr oder weniger füllige Sozias – das Angebot an Zubehör, das den Mitfahrer-Komfort steigern soll, ist gigantisch. Und findet seinen Höhepunkt in einer fast schon seuchenartigen Ausbreitung von Dreirädern. Oder Vierrädern, denn wenn der Motorrad fahrende US-Senior Lust auf ein Mehrspurfahrzeug verspürt, kann er sich den Komplettumbau seiner Maschine durchaus sparen. Einfach das Stützräder-Komplettpaket übers Bike stülpen, und schon kann nichts mehr umkippen. Sieht doof aus, funktioniert aber.
Die Drei-/Vierrad-Seuche fordert auch ihre Opfer, als wir zwei Tage später die Erkundungstour ins knapp 90 Kilometer nordöstlich von Orlando gelegene Daytona Beach verlagern. Messe-Theorie ist die eine Sache, Treffen-Praxis manchmal eine ganz andere. Und so wollen die Polo-Trendscouts auch mal in freier Wildbahn erkunden, was bei nordamerikanischen Motorradfahrern angesagt ist: Drei- und Vierräder. Aber gottlob nicht nur. Beim sehr techniklastigen Swap Meet rund um den Daytona International Speedway beherrschen immer noch die Bagger das Bild. Also die mit gigantischen Vorderrädern, megahohen Lenkern und wilden Kofferkonstruktionen gepimpten Tourer, meist natürlich auf Harley-FL-Basis. Doch zu den Über-Koffern gesellen sich noch vereinzelt, aber durchaus auffällig sehr nackte, fast schon filigrane Konstruktionen, deren Hinterrad den Bagger-Vorderrädern in nichts nachsteht: sehr groß, sehr schmal – ein neuer Trend? Vermutlich nur eine Spielart des bekannten Old School- und Bopper-Looks, aber durchaus bemerkenswert.
Ein paar Kilometer weiter Richtung Küste erreichen wir die Main Street, auf der das ganz große Schaulaufen angesagt ist. Wer sich etwas Zeit nimmt und vom Bürgersteig aus und inmitten der zwischen T-Shirt-Läden und Freiluft-Kneipen pendelnden Masse stehend dem Treiben zuschaut, erkennt sehr schnell ein klares System. Erstens: Das auf der Straße im Schritttempo defilierende Poser-Angebot wiederholt sich spätestens nach einer halben Stunde. Zweitens: Alte und meist dicke Weiße fahren Harley. Oft mit okkupiertem Soziusplatz. Zweitens: Etwas jüngere und oft auch sehr dicke Schwarze fahren Hayabusa. Oder Doppel-X. Gern auch mit einer nicht minder übergewichtigen, fast immer selbst fahrenden Frau/Freundin im Schlepptau. Ganz wichtig: Die Hayabusa-/Doppel-X-Schwinge muss megamäßig verlängert und verchromt sein. Was nicht weiter stört, in Florida geht’s eh meist sehr lange geradeaus.
Der Erkenntnisgewinn für unsere Trendscouts hält sich beim Main Street-Gucken in Grenzen, doch dafür werden die Polo-Mitarbeiter in den unzähligen T-Shirt-Läden fündig. Jede Menge Graphics finden den Weg in ihre Digitalkameras; Sonnenbrillen, Stiefel und Modeschmuck ergänzen die auf Speicherkarte gebannten Design-Anregungen. Es bleibt uns noch etwas Zeit, und so besuchen wir ein paar Kilometer außerhalb von Daytona Beach „Bruce Rossmeyer’s Harley-Davidson“, den nach eigenem Bekunden größten Harley-Händler der Welt. Ein wahrlich eindrucksvolles Erlebnis, und damit sind noch gar nicht mal der Sieben-Tage-pro-Woche-Werkstattservice oder das hauseigene Outlet-Center gemeint. Noch beeindruckender sind die Zubehör- und vor allem Bekleidungspreise: Harley-Jeans für schlappe 39 Dollar – nicht im Sonderangebot und nur in XXS, sondern der ganz normale Tarif. Lederjacken für 300 Euro – für mich das Paradies, für die US-erfahrenen Polo-Jungs nicht wirklich überraschend. Die greifen lieber mal wieder zur Kamera und halten hier und etwas später beim benachbarten J&P Cycles – einem Zubehör-Eldorado für V2-Jünger – fest, was amerikanische Kunden in die Brieftasche greifen lässt. Unser Florida-Trip endet mit einer gepflegten Bierverkostung. Mein persönlicher Trend-Tipp: Samuel Adams Octoberfest.
Wie lange dauert es eigentlich, bis aus der schrillen Messe-Idee ein verkaufsfähiges Produkt geworden ist? Und wer muss dafür was tun? Am Beispiel Polo erklären wir mal, wie das alles funktioniert.
Messen und Treffen sind zwei Quellen, um Ideen zu bekommen. Rückmeldungen von Kunden- und Verkaufsseite sowie Informationen durch Lieferanten („Wir haben ein ganz neues Material entwickelt!“) sind weitere. Die Mitarbeiter des Polo-Sortimentmanagements entscheiden, ob die Idee weiterverfolgt wird. Erste Frage, die geklärt werden muss: Passt das angedachte Produkt ins Programm, ersetzt es also ein ausgelistetes Produkt, oder ist es eine Neueinführung? Nächste Frage: Soll es unter dem Hersteller-Markennamen oder unter Eigenmarke laufen? Nun wird ein Rahmenplan erstellt, in dem in Textform beschrieben wird, wie das Produkt in den Markt kommen soll. Der Rahmenplan dient den Designern und Produktentwicklern dazu, die Sache zu visualisieren und eine Produktionsmappe zu erstellen, in der jedes Detail (Knöpfe, Nähte etc.) haarklein beschrieben wird. Die Produktionsmappe geht an mehrere potenzielle Lieferanten, die dann das Produkt im Rahmen einer Ausschreibung bemustern dürfen. Dabei geht es um einen ersten, meist noch weit vom Serienstand entfernten Prototyp. Nun wird entschieden, wer als Lieferant zum Zuge kommt, und der erhält eine Korrekturmappe mit allen Änderungswünschen. Es folgen in der Regel noch zwei weitere Muster, bevor das Produkt in die Fertigung geht. Dann folgen sechs Wochen Seeweg aus Fernost, und schon ist aus der Idee nach einem halben Jahr (Produktübernahme) oder einem Jahr (komplette Neuentwicklung) ein Produkt im Laden geworden.
Das Konzept, Hersteller, Händler, Endverbraucher und Medien auf einer gemeinsamen Messe zusammenzubringen, ist in den USA neu. Die AIMExpo 2013 war eine Premiere und mit nur 13 219 Besuchern an fünf Tagen (davon die beiden ersten für Fachbesucher reserviert) für europäische Verhältnisse recht klein – publikumsmäßig. Die rund 400 Aussteller zeigten allerdings einen sehr guten Querschnitt des nordamerikanischen Zubehör- und Bekleidungsmarkts. Reine Motorradhersteller waren aber eher Mangelware. Von den ganz Großen waren nur Suzuki und Yamaha (mit der Cruiser- und Chopper-Untermarke „Star“ und einem sehenswerten XV 950/Bolt-Umbauwettbewerb) vor Ort. Auf dem riesigen Außengelände konnten jede Menge Testfahrzeuge (überwiegend Quads und ATVs) im Rahmen von Demo Rides kostenlos bewegt werden. Unterm Strich gilt die AIMExpo als Erfolg und soll im Oktober 2014 wiederholt werden. Infos: www.aimexpousa.com.
Für Motorradfahrer gab es von 1937 bis 1991 eigentlich nur einen Grund, die eher hässliche und langweilige 60 000-Einwohner-Stadt Daytona Beach zu besuchen: die alljährlich im Frühjahr zelebrierte Daytona Beach Bike Week, bei der neben dem traditionellen (Harley-)Treffen auch auf dem legendären Daytona International Speedway und am befahrbaren Strand das Leben tobte. Seit 1992 gibt es für die zahlreichen T-Shirt-Läden und Saloons mit dem Biketoberfest (ursprünglich „The Daytona Fall Tour“) nun eine zweite Möglichkeit, sich gepflegt die Taschen zu füllen. Das Programm besteht im Wesentlichen aus „sehen und gesehen werden“ sowie „rumstehen und rumfahren“. Die recht rigide Überwachung durch die Polizei sorgt dafür, dass Alkoholexzesse und zu viel nackte Haut praktisch nicht zu sehen sind – wer einschlägige europäische Treffen kennt, wird eher enttäuscht sein. Als netter (und warmer!) Saisonausklang ist das Biketoberfest aber okay. Infos: www.biketoberfest.org.
Nach fünf Tagen geballter US-Zubehör- und Bekleidungsszene bleibt die Erkenntnis, dass uns die Amis zwar nicht viel, aber eine ganz wesentliche Sache voraus haben: Sie nehmen das Motorradfahren und das dafür erforderliche Drumherum deutlich lockerer als wir. Da wird nicht jedes Zubehörteil frühzeitig auf TÜV-Konformität abgeklopft, da muss nicht jeder Biker-Fummel protektorengesichert sein. Der spielerische Umgang mit dem Thema und die oft herrlich simple Umsetzung verrückter Ideen faszinieren. Bitte an Polo (und andere): Übernehmen!