Wir wollen wieder ein Teil Ihrer Träume werden." So lautete die wichtigste Aussage bei der Präsentation einer aufsehenerregenden Honda-Studie auf der Intermot in Köln. "V4 Concept Model" heißt die Studie, die eine dreißigjährige Geschichte an die Zukunft knüpfen soll.
Sie wird diese Zukunft nicht selbst als Serienmotorrad bestimmen, denn sie ist nicht fahrbereit und kann es ohne Reifenaufstandsflächen auch nicht werden. Zudem ist an vielen Stellen dieser Skulptur Technik skizziert, die noch gar nicht entwickelt ist. Man beachte nur die nabenlosen, verdeckt laufenden Räder oder die Längslenkerführung des Vorderrads, deren Federungssystem sich jeder selbst vorstellen muss. Oder vorstellen darf.
Honda
Das V4 Concept Model ist eine technische Skulptur, deren Linien zugleich futuristisch und anheimelnd wirken.
Darin zeigt sich die Intention und besondere Qualität der Studie. Sie spornt die Fantasie ihrer Betrachter mächtig an. Wer konzentriert in sie hineinsieht, beginnt unwillkürlich, Detaillösungen zu erdenken, die an vielen Stellen bestenfalls angedeutet sind, häufig nicht einmal das. Tragen die hebellosen Lenkerenden vielleicht Drucksensoren, die analog zum Zupacken des Fahrers den Bremsdruck regeln? Würden drei Lagerstellen am Außenrand der Felge reichen, ein nabenloses Rad sicher zu führen? Beinhaltet das trommelförmige Gebilde hinter dem Motor ein Automatikgetriebe à la DN-01? Genau dies, das Ziel, die technische Imagination zu befeuern, war der eigentliche Ursprung aller Honda-V4.
"1977, zehn Jahre nach dem Rückzug aus dem Rennsport, fehlte es bei uns an neuen Ideen und am Willen, ungewöhnliche und schwierige Aufgaben zu meistern." So sprach Takeo Fukui, damals Direktor der Honda Racing Corporation (HRC), Anfang 1985 in einem Interview mit MOTORRAD. Als Gegenmittel beschloss Honda, wieder in den Rennsport einzusteigen und mit einem Viertakter gegen überlegene Zweitakter anzutreten. Fukui dazu: "Die Anforderungen an unsere Ingenieure konnten gar nicht hoch genug sein."
Die Herkunft
Honda
Ein einseitiger Längsträger nimmt das Hinterrad auf. In seiner hinteren Spitze.
Was als Reaktion der Ingenieure entstanden war, präsentierte er erstmals MOTORRAD im Detail: den Ovalkolben-V4 der revolutionären NR 500. Sie wurde 1985 schon nicht mehr bei WM-Rennen eingesetzt, hatte horrende Entwicklungskosten verschlungen, an haarsträubenden technischen Problemen gelitten und keinen einzigen Grand Prix gewonnen. Dennoch war sie der Keim vieler erfolgreicher Renn- und Serienmotorräder. In den 30 Jahren seit ihrem ersten Einsatz, bei dem sie wegen eines geplatzten Motors in Flammen aufging, hat Honda alle Tiefen und Höhen der V4-Entwicklung durchschritten, alle Aspekte dieser Motorbauart erforscht und für unzählige Detailprobleme praktikable Lösungen gefunden. Stets boten die Honda-V4-Modelle ungewöhnliche Technik; die seit 2006 unverändert gebaute, aktuelle VFR besitzt eine Einarmschwinge, eine Verbundbremse mit ABS und die auch in Automotoren verwendete VTEC-Ventil-steuerung. Noch immer einzigartig.
Trotzdem, die Zeit für eine Erneuerung ist reif. Sonst droht das stets vom Streben nach Hightech getragene V4-Konzept ausgerechnet am ältesten und primitivsten Tuning-Mittel zu scheitern, das die Geschichte des Verbrennungsmotors kennt: am Hubraumvorteil der Konkurrenz, eventuell sogar aus dem eigenen Haus. Denn ganz gleich, welche Art von Motorrad die nächste Serien-V4 wird, ob Sporttourer wie die aktuelle VFR oder Supersportler, Tourer oder Naked Bike, mit knapp 800 cm³ und 107 PS ist bei der leistungsverwöhnten Oberklasse-Klientel kaum mehr Staat zu machen. Und für weniger als Oberklasse kommt ein V4 in der Fertigung zu teuer.
Die Studie jedenfalls legt ein ziemlich sportliches Motorrad nahe, schlank verkleidet, ohne Soziussitz mit dem zierlich geschnittenen Heck der aktuellen MotoGP-RC 212 V oder Fireblade. Die Linien von Tank – oder Tankattrappe – und Sitzbank wirken futuristisch und einladend zugleich; man kann sich gut vorstellen, in die Sitzmulde zu gleiten und wie von selbst die richtige Position zu finden. Ein großflächiger Monitor füllt das Cockpit aus. Er könnte als Rückspiegel und Anzeigeinstrument dienen, seine Oberfläche wäre aber auch eine bequeme Auflage für das Kinnteil des Helms, wenn der Fahrer sich hinter der Verkleidungsscheibe klein macht.
Wenigstens ein Honda-Offizieller, der den Weg über die Alpen auf die Kölner Messe gefunden hatte, ließ sich zu einer Aussage darüber bewegen, wann das Geheimnis um die nächste Serien-V4 gelüftet wird: Mitte des kommenden Jahres.
Takeo Fukui ist übrigens seit 2003 oberster Honda-Chef. Schön, dass er sich an die Zeit erinnert, als er aus dem Thema V4 Motorrad-Träume schuf. Und bald die nächste Traumzeit startet.