Großer Vergleich Antiblockiersysteme
ABS im Vergleich

Immer mehr Hersteller setzen an immer mehr Modellen auf ABS. Mittlerweile darf sogar an manchem Supersportler und Cruiser voll am Bremshebel gezogen werden. Und – so viel vorab – die ABS-Regelungen haben auch qualitativ ein neues Niveau erreicht.

ABS im Vergleich
Foto: Gargolov

Eigentlich lässt sich die Situation nur mit dem grundsätzlich emotionalen – um nicht zu sagen irrationalen – Umgang mit dem Thema Motorrad begründen. Denn während im Automobilbereich Knautschzone, Airbags und Fahrhilfen aller Art selbstverständlich sind, öffnet sich die Motorradszene dem Thema Sicherheit erst in jüngster Vergangenheit. Noch immer gehört ABS zu den beliebtesten Diskussionsthemen an den Stammtischen und Motorradtreffs. Begleitet von manch inbrünstiger Überzeugung, dass die Fähigkeiten des versierten Motorradfahrers – und wer zählt sich nicht zu dieser Gruppe? – der ABS-Technik ebenbürtig oder gar überlegen sei. Eine gewagte Einstellung bei einer Fahrzeuggattung, bei der ein blockierendes Vorderrad als Sturzgarantie gelten darf, der unbedachte Zug am Bremshebel in einer Katastrophe enden kann.

Zwar erschweren die spezifischen Eigenschaften eines instabilen Einspurfahrzeugs und die im Vergleich zum geräumigen Vierrad hohen Ansprüche an die Minimierung von Gewicht und Bauraum der Regelsysteme die Entwicklungsarbeit. Doch gut zwei Jahrzehnte nach dem Startschuss des ABS im Serienmotorradbau bei den K 100-Modellen von BMW im Jahr 1988 sind Antiblockiersysteme inzwischen auf breiter Front im Vormarsch. Im Vergleich zum letzten großen ABS-Test von MOTORRAD im Jahr 2006 (Heft 19) erhöhte sich die Zahl der in Deutschland erhältlichen Maschinen mit ABS von 37 auf heute 66 Modelle. Und bei den Motorrädern, bei denen der Blockadeschutz Aufpreis kostet, entscheiden sich zwischen 85 und nahezu 100 Prozent der Kunden für die ABS-Variante – trotz 500 bis 1000 Euro Mehrkosten. Nicht zuletzt spricht ein Blick auf die Top Ten der Verkaufs-Hitliste 2008 in Deutschland für sich. Neun der zehn meistverkauften Motorräder hierzulande waren mit ABS ausgestattet. Kein Wunder, dass von den namhaften Herstellern zurzeit nur Buell, Ducati und MV Agusta auf ein ABS-Modell im Portofolio verzichten.

Die Akzeptanz des ABS verleiht auch der technischen Weiterentwicklung Dynamik. BMW präsentierte zum Modelljahr 2007 eine grundlegend überarbeitete Version des seit 2001 eingesetzten Integral-ABS. Harley-Davidson stellte Anfang 2008 die derzeit einzigen Cruiser mit ABS vor: die V-Rod- und Touring-Modelle. Und Honda wagte sich in diesem Jahr an die Königsdisziplin: dem ersten rennstreckentauglichen ABS in einem Supersport-Motorrad – eingebaut in die CBR 600 RR und die 1000er-Fireblade. Was sich nicht änderte, ist das Testprozedere von MOTORRAD. Den Alltag mit ABS repräsentieren Bremsungen mit und ohne Sozius auf einer holprigen Landstraße, der sogenannten Schlechtwegstrecke der MOTORRAD-Testrunde. Anschließend lotete der griffige, bei Bedarf bewässerbare Asphalt des ADAC-Testgeländes im Innenfeld des Hockenheimrings das Leistungspotenzial der Systeme unter Idealbedingungen aus. Bremsungen auf trockenem und nassem Untergrund forderten die Regelqualität genauso wie die Horrorvorstellung jedes Motorradfahrers, die Verzögerung auf einem nassen Zebrastreifen-Muster. Es darf also gebremst werden!

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ABS im Trockenen

fact
Grenzfall: Kein ABS tastet derart haarscharf an der Blockiergrenze entlang wie das der Aprilia Shiver.

Für MOTORRAD-Tester Karsten Schwers gehört der erste Auf- schlag der ABS-Messreihe quasi zum täglichen Job. Die Aufgabe: maximale Verzögerung auf topfebener, trockener Strecke. Weshalb sich der Maschinenbau-Ingenieur sicher ist, ohne Blockierverhinderer den Regelsystemen ein Schnippchen zu schlagen. Die BMW K 1300 S, deren teilintegrales ABS abschaltbar ist, soll die Latte legen. Nach ein paar Aufwärmbremsungen bringt Fahrtalent Schwers die Bayerin aus 100 km/h ohne ABS nach 36,7 Metern zum Stehen – ein Spitzenwert. Doch bereits der nächste Versuch sorgt für Ernüchterung. Die K 1300 S steht nach 36,5 Metern – mit aktiviertem ABS.

Berücksichtigt man obendrein die herrschenden Idealbedingungen (versierter Fahrer, kein Überraschungsmoment), unterstreicht dieses Resultat umso eindrücklicher, wie leistungsfähig ABS-Technik heute ist. Oder zumindest sein kann. Denn im Gegensatz zur K 1300 S, die mit niedrigem Schwerpunkt und langem Radstand perfekte Voraussetzungen für Gewaltbremsungen bietet, sind die Anforderungen im Rest des Testfelds deutlich komplizierter. Je höher beziehungsweise kürzer die Maschine, desto größer die Tendenz, dass sich das Motorrad bei vehementer Bremsung überschlägt. Abgesehen von der K 1300 S und den niedrigen beziehungsweise hecklastigen Harley-Davidson Road King und Kawasaki 1400 GTR lauert diese Gefahr in unterschiedlicher Ausprägung bei jeder der Testmaschinen. Deshalb ist eine wirksame Überschlagserkennung genauso wichtig wie eine sensible Regeltechnik. Technisch gelöst wird die Überschlagserkennung meist durch eine sogenannte Plausibilitätsabfrage. Dabei ermittelt der ABS-Rechner aus der aktuellen Verzögerung und dem Schlupfabgleich der beiden Räder, ob das Hinterrad gerade abhebt und verringert nötigenfalls den Bremsdruck. Andere Systeme lösen das Problem, in dem sie die Maximalverzögerung einfach begrenzen.

fact
Völlig abgehoben? Vollbremsung mit Sozius ist Vertrauenssache - auch mit ABS.

Egal, welche Technik eingesetzt wird, abgesehen von der sich aufbäumenden Shiver bleiben alle Testmaschinen selbst auf dem extrem griffigen Belag des ADAC-Geländes mit dem Heck am Boden. An der deutlichen Spreizung der Bremswerte des Testfelds ändert das aber nichts. Vor allem das Schlusslicht überrascht. Mit einem knallhart werdenden Druckpunkt enttäuscht das grob regelnde ABS der Triumph Tiger mit einem Bremsweg von 44 Metern. Zur Veranschaulichung: An der nach 36,5 Meter stehenden BMW rauscht die Tiger mit sage und schreibe 41,3 km/h vorbei. Peinlich, wenn mit der Road King sogar ein Cruiser besser bremst. Ihrem schmalen Vorderreifen opfert die F 800 GS wertvolle Bremsleistung. Und während sich mit der GSX 650 F sowie der XJ6 Diversion die japanischen Mittelklässler achtbar schlagen und auch Hondas CB 1000 R und der Kawasaki-Tourer 1400 GTR mithalten, kann sich die aufwendig geregelte Honda Fireblade nicht vom Mittelfeld absetzen. Der Grund: Im Vergleich zu den übrigen Konzepten ist ein Sportler deutlich stärker überschlagsgefährdet.

Um einen Salto unter allen Umständen zu vermeiden, setzt Honda der maximalen Bremsleistung vergleichsweise frühe Grenzen und akzeptiert dadurch einen etwas längerer Bremsweg bei Schreckbremsungen. Doch mit 9,4 m/s2 Verzögerungsleistung agiert die Blade nach wie vor in einem Bereich, der selbst im Rennstrecken-Fahrbetrieb kaum erreicht wird. Womit sie das Ziel der unbedingten Überschlagsvermeidung mit dem eines sporttauglichen ABS unter einen Hut bringt. Auch wenn diese Kombination im Wust der Messwerte unspektakulär untergehen mag, lautet das Fazit über die Blade-Regelung dennoch: Aufgabe erfüllt.


Beeindruckend ist die Aprilia Shiver. So aggressiv wie die Italienerin regelt keine an der Haftgrenze entlang. Für ein kurzes Naked Bike ist der Bremsweg auf dem Niveau der K 1300 schlichtweg eine Sensation. Allerdings eine mit Schattenseiten. Auf der leicht abschüssigen Schlechtwegstrecke, die mit wüsten Wellen und Huckeln die Ansprüche an die Regelfähigkeit noch weiter steigert, rettet Kollege Schwers nur das Öffnen der Brembo-Stopper vor dem Überschlag mit der Shiver. Ein klares K.o.-Kriterium. Folge: Das Vertrauen ist weg, der – wiederum – sehr gute Wert von 47,6 Metern wird erst nach fünf statt ansonsten drei Anläufen erreicht. Ansonsten bleibt auf der Holperstrecke das Bild aus der ersten Runde weitgehend erhalten. Die Ausnahmen: Die langen Federwege der BMW F 800 GS und der Triumph Tiger halten die Räder deutlich besser am Boden und machen damit besagt beschränkte Reifenaufstandsfläche (BMW) ebenso wie die magere ABS-Regelqualität (Triumph) wett. Und mit Beifahrer wird die Fireblade erneut Opfer ihres Konzepts. Wegen des sportlertypisch hohen Soziusplatzes setzt die Überschlagserkennung weit früher ein als bei den anderen Maschinen. Das spiegelt der deutlich längere Bremsweg (plus sieben Meter) im Vergleich zum Solobetrieb wider.

ABS im Nassen

fact
Horrorvision: Vollbremsung auf nassem Asphalt mit Zebrastreifen - Schwerstarbeit für ABS.

Ortswechsel, zurück auf das ADAC-Fahrsicherheits-Areal in Hockenheim. Die Bedingungen werden verschärft. Eine Sprinkleranlage simuliert Landregen. Die Anforderungen an die ABS-Anlagen ändern sich. Wird im Trockenen dem Vorderreifen praktisch die komplette Bremsleistung aufgebürdet, übernimmt im Nassen auch das Hinterrad – je nach Fahrzeugtyp – bis zu 20 Prozent der Verzögerungsarbeit. Der Grund liegt in der geringeren maximal möglichen Verzögerung und der damit verbundenen reduzierten dynamischen Radlastverschiebung, sprich einer weniger tief eintauchenden Gabel. Weil sich damit die Stoppie-Gefahr erledigt, ist es logischerweise die Aprilia, die sich mit sensationellem Wert nach vorn bremst. Nach 39,4 Metern steht die Shiver. Trotzdem: Zur Rehabilitation nach ihrem Fauxpas auf der Schlechtwegstrecke reicht auch dieser Rekord nicht.

Dass sich danach die einzigen drei Maschinen, die in diesem Testfeld mit teil- oder vollintegralen Bremssystemen ausgestattet sind, um den Ehrenplatz balgen, hat mit deren zweifellos fortschrittlichen Verzögerungskonzepten kaum zu tun. Diese Kombi-Lösungen dienen vor allen Dingen dem Bedienkomfort und der Fahrsicherheit im Alltagsbetrieb. Bei diesen Maximal-Bremsungen entscheiden andere Aspekte. Der BMW K 1300 S (teilintegral) kommt, wie bei der Trockenbremsung, die dank Duolever-Federung nicht abtauchende Front zugute. Die Fireblade (vollintegral) profitiert genauso wie die Honda CB 1000 R (teilintegral) von ihrer fein justierten ABS-Regelung. Hinter dem – im positiven Sinn – schon fast auffallend unauffälligen Quartett (BMW F 800 GS, Kawasaki 1400 GTR, Suzuki GSX 650 F und Yamaha XJ6 Diversion) bilden auch im Feuchten die beiden ABS-Sorgenkinder (Harley-Davidson und Triumph) das Schlusslicht. Die Tiger regelt zu grob, die Harley lässt die Chance ihres konzeptionellen Vorteils bei Nässe, die hohe Hinterradlast, ungenutzt. Wieder Ortswechsel. Eine Asphaltfläche, bewässert und quer durchsetzt von 20 Zentimeter breiten, im Abstand von etwa 50 Zentimeter aufgereihten Zebrastreifen. Im wirklichen Leben würde ein Motorradfahrer darauf den Bremshebel nicht einmal berühren wollen. Die enge Abfolge dieser sogenannten Reibwertsprünge bedeutet fürs ABS Schwerstarbeit im Schichtdienst. Zu Beginn der Bremsung, bei der durch die kurzen Intervalle der Auf- und Abbau des Bremsdrucks zeitlich nicht realisierbar ist, muss die Anlage den maximal erreichbaren Verzögerungs-Mittelwert austüfteln. Erst gegen Ende der Bremsdistanz entscheidet dann die Regelqualität.

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Nur nicht nass werden: MOTORRAD ermittelte die Messwerte aus jeweils drei Bremsversuchen.

Am besten verkraftet die Honda CB 1000 R den Schichtwechsel. Mit minimalem Pulsieren im Handhebel taktet sich das Naked Bike nach 46,8 Metern zum Stillstand. Doch auch der Rest des Felds liegt in dieser Disziplin deutlich über den Erwartungen – mit einer Ausnahme. Die Honda Fireblade bleibt das von ihr nach dem überzeugenden Auftritt im Nasstest gerade in dieser Disziplin erwartete Ergebnis schuldig und reiht sich zwar brav, aber eben nicht wie erwartet hinter den Mittelklasse-Bikes ein. Ob dieses Resultat mit der komplizierten und damit eventuell zeitaufwendigeren Steuerung des Integral-ABS zusammenhängt, darüber kann nur spekuliert werden. Klar zu belegen ist dagegen, wie sehr sich die ABS-Regelqualität weiterentwickelt hat. Im Vergleich zum Sieger beim Reibwertsprung im MOTORRAD-ABS-Test 2006 kommt die Honda CB 1000 R ganze sechs Meter früher zum Stillstand. Die Kawasaki 1400 GTR, heute mit 54,1 Metern bescheidene Vorletzte, hätte sich mit diesem Resultat vor drei Jahren auf Platz zwei gebremst. Ins rechte Verhältnis gerückt werden diese Werte ohnehin durch den Vergleich der Bremsung mit abgeschaltetem ABS. Profi Schwers brachte die BMW K 1300 S nach 58 Metern und damit zehn Meter später als mit eingeschaltetem ABS zum Stehen. In der Reibwertsprung-Rangliste hätte dieser Bremsweg die ABS-lose BMW auf den vorletzten Platz verbannt, gerade mal vier Meter vor die ohnehin weit abgeschlagenen Harley. Was einmal mehr unterstreicht, dass sich ABS im Motorrad längst nicht mehr einer Grundsatzdiskussion stellen muss. In einer realen Notsituation wird ein Motorradfahrer die Bremswege selbst der verhalten agierenden ABS-Anlagen der Triumph und Harley nicht erreichen. Wobei für ABS das Gleiche gilt wie für eine Versicherung: Die beste ist die, die man niemals in Anspruch nehmen muss.

Die Technik

Grafik: Archiv
Trotz erstaunlicher Verzögerungsmöglichkeiten noch Zukunftsmusik - schräglagentaugliches ABS. Zur Grafik: Blau: 0° Schräglage, 100% Verzögerung; grün: 35° Schräglage, 70% Verzögerung; rot: 45° Schräglage, 0% Verzögerung.

Kaum eine Fahrsituation fordert die Feinmotorik des Motorradfahrers intensiver heraus als eine Vollbremsung. Schließlich gilt es, die Räder bis kurz vor die Blockiergrenze herunterzubremsen und während des gesamten Bremsvorgangs möglichst nah an dieser Grenze zu halten. Gelänge dies durch einen konstantem Zug am Handbremshebel oder Druck auf das Bremspedal, wäre diese Aufgabe einfach. Doch die Realität sieht anders aus. Durch die dynamische Änderung der Radlastverteilung (Einfedern der Gabel, Ausfedern des Hecks), Bodenunebenheiten oder Schmutz ändert sich die übertragbare Bremskraft der Reifen ständig. Wer dennoch optimal bremsen will, muss – mit dem Feingefühl der rechten Hand und des rechten Fußes – immer wieder aufs Neue Bremsdruck aufbauen oder ihn verringern. Genau diese Aufgabe übernimmt das Antiblockiersystem.

Dazu erfasst das ABS die Raddrehzahlen und reagiert auf sich ankündigende Blockaden mit reduziertem Bremsdruck, bei Drehzahlerhöhung mit Druckaufbau. Augenscheinlich wird die Arbeit eines ABS auf dem Diagramm auf der gegen-überliegenden Seite. Im rhythmischen Wechsel von Überbremsen und Nachlassen regelt das ABS die Radgeschwindigkeiten stets knapp unterhalb der tatsächlichen Geschwindigkeit und sorgt so für eine maximale Verzögerung. Seit den Anfängen – von denen es bis zur Akzeptanz von ABS bei den wichtigsten Herstellern immerhin 20 Jahre dauerte – hat sich die Technik dramatisch weiterentwickelt. Teilintegrale Systeme (Handbremshebel aktiviert auch Hinterradbremse oder die Fußbremse beaufschlagt auch die Vorderradbremse) und vollintegrale Systeme (Vorder- und Hinterradbremse werden immer gemeinsam angesteuert) vereinfachen die Bedienung. Das Gewicht der Anlagen sank von elf Kilogramm in den ersten BMW auf mittlerweile unter drei Kilogramm.

Die Spitze der ABS-Technik bildet derzeit zweifellos das – allerdings wieder zehn Kilogramm wiegende – ABS der Honda Fireblade. Brake by wire lautet das Schlagwort. Hand- und Fußbremshebel werden dabei über ein Ventil vom Hydraulik-Kreislauf abgekoppelt. Den Druckaufbau und die jeweils optimale Bremskraftverteilung zwischen vorn und hinten erledigen dann zwei Servopumpen und Regelventile nach den Vorgaben des Steuergeräts. Die vom Fahrer gewünschte Bremsintensität nimmt ein Drucksensor auf, das authentische Bremsgefühl ermöglicht ein federbelasteter Hubsimulator. Wie weit die Grenzen selbst konventioneller ABS-Anlagen jetzt schon gesteckt sind, erfuhr die Redaktion im Vorfeld dieses Tests (MOTORRAD 18/2008). Auf der Top-Test-Kreisbahn konnte eine Honda CBF 1000 – die im ABS-Vergleich 2006 zum ordentlichen Durchschnitt zählte – selbst bei stattlichen 35 Grad Schräglage im Regelbereich blockade- und somit sturzfrei mit der Vorderradbremse verzögert werden. Das Datarecording zeigt, dass selbst bei dieser nennenswerten Schräglage immer noch 70 Prozent der maximalen Bremskraft übertragen werden können. Was wiederum Spekulationen nach voll schräglagentauglichen ABS-Konzepten neue Nahrung gibt. Doch das ist noch Zukunftsmusik.

Interview - ABS-Entwicklung

? Im Vergleich zum MOTORRAD-ABS-Test des Jahres 2006 fällt in diesem Jahr vor allem eine Verbesserung bei Reibwertsprüngen und bei Nässe auf. Wie kommt das?

! Die Technik hat sich in dieser Zeit natürlich weiterentwickelt. Die frühere Regelung über Kolben wurde von der Steuerung durch elektromagnetische Ventile verdrängt. Diese haben den Vorteil, dass sie wesentlich kleiner und leichter sind. Das ermöglicht eine schnellere und damit sensiblere Regelung. Zudem ermöglichen integrierte Drucksensoren eine exaktere Hinter-rad-Abhebeerkennung und damit eine bessere Reibwertausnutzung.


? Das heißt, die Regelintervalle wurden im Lauf dieser Entwicklung kürzer, die Regel-qualität dadurch besser?

! Die Güte der Regelung hängt nicht allein von der Zahl der maximal möglichen Intervalle ab. Viel entscheidender ist es, beim Regelfall den Bremsdruck möglichst wenig zu reduzieren, um ihn danach schnellstmöglich wieder aufbauen zu können. Im Idealfall wird der Druck fast konstant gehalten, natürlich möglichst nahe an der Haftgrenze des Reifens. An dieses scharfe Limit muss man sich durch Versuche herantasten. Die Applikation, also die spezifische Anpassung des Antiblockiersystems an ein Fahrzeug, ist für das Ergebnis genauso wichtig wie die technische Hardware.

? Und wie lange dauert das?

! Bei einer Neukonzeption wie beispielsweise an unserem Superbike S 1000 RR begleitet die Funktionsentwicklung und Applikation die komplette Entwicklungszeit von etwa drei Jahren. Die Anpassung bestehender ABS-Anlagen an Modellüberarbeitungen dauert zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Das ist sehr aufwendig und entsprechend kostspielig.

? Wodurch sich auch die großen Unterschiede zwischen den ABS-Bremswerten begründen lassen.

! Nicht grundsätzlich. Auch das Motorradkonzept, das heißt Radstand und Höhe des Schwerpunkts spielen eine große Rolle. Ein Regelsystem setzt auf diesen Randbedingungen auf. In jedem Fall ist ein Herantasten an den besten Kompromiss notwendig, um ein optimales ABS zu entwickeln. Auf der einen Seite muss ein Überschlag verhindert werden, andererseits ist kürzester Bremsweg angesagt. Hier steckt die meiste Arbeit drin.

Fazit

fact
Lang und flach: Der Sieg der BMW K 1300 S ist auch konzeptbedingt.

Auch wenn die MOTORRAD-Punktewertung die mess- und fühlbaren Unterschiede zwischen den jeweiligen Regelsystemen beziehungsweise dem Bremsverhalten der Fahrzeugkonzepte klipp und klar widerspiegelt, steht dennoch fest: In diesem Vergleich gibt es keine Verlierer. Denn über all den Messwerten steht das demonstrative Bekenntnis jedes einzelnen Herstellers zu Antiblockiersystemen. Das allein zählt. Umso mehr, als sich die Dynamik der ABS-Bewegung damit quasi ungebremst weiterentwickelt. Honda überzeugt mit der innovativen Technologie in der Fireblade auch die allerletzten Zweifler vom Potenzial eines ABS.

Harley-Davidson zeigt mit dem längst überfälligen Schritt zum ABS bei den im Bremsverhalten äußerst kritischen Cruisern der japanischen Konkurrenz die lange Nase. BMW demonstriert mit den formidablen Resultaten der K 1300 S einmal mehr seinen Erfahrungsvorsprung. Und sogar die vor diesem Hintergrund unauffällige Mehrheit des Felds zieht sich größtenteils exzellent aus der Affäre. In Sachen Regelqualität – insbesondere bei Nässe – hat die Entwicklung bemerkenswerte Dimensionen angenommen. Die Protagonisten des Jahres 2006 würden in diesen Disziplinen im aktuellen Testergebnis nur auf den hinteren Rängen landen. Womit die wirkliche Gewinnerin dieses Vergleichs letztlich doch feststeht: die Sicherheit.

ABS-Bremstipps

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Vor allem in einer derartigen Situation will Bremsen geübt sein.

Extremes Bremsen will geübt sein – auch mit ABS. Gewöhnen Sie sich an die gewaltigen Bremskräfte, die bei voll ausgenutztem ABS auftreten. Am besten geht das auf einem leeren Parkplatz.

Sie bremsen nur mit einem Finger? Testen Sie, ob Ihre Kraft reicht, um im Notfall das Vorderrad in den Regelbereich zu bringen. Wenn nicht, stellen Sie Ihre Bremsgewohnheiten um.

Halten Sie die Wartungsintervalle bei ABS-Anlagen penibel ein. Die aufwendige Technik reagiert empfindlich auf gealterte Bremsflüssigkeit. Im schlimmsten Fall kann die ABS-Funktion ausfallen.

Stellen Sie die Handbremsarmatur auf Ihre persönliche Fahrposition ein. Wenn die ausgestreckten Finger auf dem Bremshebel ruhen, müssen Finger, Hand und Unterarm eine gerade Linie bilden.

Tipp: Wer ergonomisch damit zurechtkommt, sollte in allen Fahrsituationen den Zeigefinger auf dem Handbremshebel belassen. Das verkürzt bei Schreckbremsungen die Reaktionszeit deutlich.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023