? Sie stellen seit 41 Jahren Schutzkleidung her. Wie hat sich das Motorradfahren aus Ihrer Sicht in dieser Zeit verändert?
! Die Motorräder sind viel sicherer, aber auch viel schneller geworden. Entsprechend hat sich die Bekleidung verändert. Anfang der 1970er-Jahre, als ich in der Branche angefangen habe, kamen Integralhelme gerade erst auf, heute sind sie eine Selbstverständlichkeit. Ebenso tragen die meisten heute eine komplette Kombi, nicht nur eine Lederjacke und Jeans wie damals. Doch das Fahren selbst hat sich im Grunde nicht verändert. Die Freude daran ist gleich geblieben, für mich jedenfalls. Das Erlebnis Motorradfahren war bei meiner ersten großen Reise mit 18 nach London genauso intensiv wie bei der Alpentour nach Zermatt, die ich zuletzt gemacht habe.
? Aber die Motorradfahrer selbst haben sich doch stark verändert.
! Ja, das stimmt. Früher waren es die Jungen, die Feuer und Flamme fürs Motorrad waren, aber die haben jetzt andere Interessen. Heute haben die meisten Motorradfahrer, die man auf Reisen sieht, graue oder weiße Haare - oder sie haben gar keine mehr. Aber die Jungen kommen wieder, davon bin ich überzeugt. Ein Motorrad vermittelt eine ganz andere Freiheit als diese Sardinenbüchse von Auto. Wahrscheinlich brauchen wir einen anderen Typ von Motorrädern. PS-starke Sportmaschinen haben meiner Meinung nach keine Zukunft, weil es auf der Straße einfach zu gefährlich geworden ist, und ein Roller vermittelt den Entdeckergeist nicht. Vielleicht müssten wir uns wieder auf die Motorradtypen besinnen, die uns fasziniert haben. Ich war jedenfalls begeistert von meiner Bultaco Matador, eigentlich ein ziemlich einfach gestricktes Motorrad, mit dem man aber genauso gut auf wie abseits der Asphaltstraßen fahren konnte. Aber was an neuen, wirklich aufregenden Modellen kommen könnte, kann ja nicht ich entscheiden, ich bin schließlich kein Motorradhersteller.
? Aber ein wichtiger Hersteller von Bekleidung. Was ist da für Sie die wichtigste Neuerung in den letzten Jahrzehnten?
! Natürlich, dass sich die Schutzfunktion so enorm verbessert hat. Für unsere beiden Firmen, Dainese und AGV, steht an erster Stelle bei der Entwicklung immer die Sicherheit, dann der Komfort, und erst dann kommt das Design. Aber wenn Sie mich ganz persönlich fragen: Ich freue mich besonders, dass moderne Kleidung so gut gegen Nässe schützt, ich fahre nämlich gern im Regen, so unglaublich das auch klingen mag. Auf nassen Straßen muss man sehr harmonisch fahren, sich ganz auf sich selbst und das Motorrad verlassen, praktisch mit ihm eins werden. Wenn man dabei nasse Füße und kalte Hände bekommt und einem eisige Tropfen über den Rücken rinnen, macht das natürlich keinen Spaß. Mit der richtigen Bekleidung hingegen schon. Ich war bei meiner letzten Alpentour vom Jaufen- über den Reschenpass bis nach St. Moritz im Dauerregen unterwegs, und ich habe jeden Moment genossen.
? Lassen Sie uns über Adrenalin reden.
!(schmunzelt) Ja, Adrenalin ist etwas, das mich schon seit 20 Jahren beschäftigt. Wir sind immer auf der Suche nach Innovationen in Sachen Schutzfunktion, und da kommt man eben auch auf ausgefallene Ideen. In kritischen Situationen steigt der Adrenalinspiegel schlagartig an, das kennt jeder Motorradfahrer. Daher wäre das meiner Meinung nach ein guter Indikator, um Schutzfunktionen auszulösen, die sich in der Bekleidung befinden. Und genau deshalb möchte ich das Adrenalin in diesen Momenten messen. Leider klappt das aber noch nicht so, wie es für diese Zwecke nötig wäre. Bei unserem Airbag für Motorradfahrer haben wir zu anderen Mitteln gegriffen, nämlich zu einem aufwendigen Algorithmus, der die Informationen verschiedener Sensoren am Motorrad und an der Bekleidung verarbeitet und den Airbag dann auslöst. Das funktioniert sehr gut, wie es ja diverse Tests bewiesen haben und uns auch der TÜV mit einem Prüfsiegel bescheinigt.
? Noch scheinen sich die Motorradfahrer aber nicht so richtig für den Airbag zu erwärmen. Enttäuscht Sie das?
! Aber nein, gar nicht, das ist normal. Motorradfahrer sind nun mal eher konservativ, es dauert, bis eine neue Idee sie überzeugt. Wir kennen das vom Rückenprotektor, den wollte damals niemand, schon gar nicht die Rennfahrer, die bei uns unter Vertrag standen, weder Kenny Roberts noch Freddie Spencer. Erst als Spencer dann beim Rennen in Kyalami auf den Rücken fiel, war er endlich überzeugt. Von da an gab es keine Diskussion mehr.
? Ihr Airbag findet dafür in anderen Sparten viel Anklang, etwa bei Ski-Rennläufern. Bedeutet das, dass sich Dainese aus der Motorradbranche wegbewegt?
! Nein, keinesfalls. Aber es gibt ganz unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten für den Airbag. Ich war vor Kurzem im Massachusetts Institute of Technology (MIT), mit dem wir seit Jahren zusammenarbeiten. Dort stehen Kombis für Astronauten, für Soldaten, für ältere Menschen, alle mit unseren Airbag-Funktionen. Soldaten können dadurch bei Explosionen besser geschützt werden, bei älteren Leuten kann ein Airbag im Trainingsanzug verhindern, dass sie sich bei einem Sturz die Knochen brechen. Und dann sind da natürlich noch die Skifahrer, ein sehr dynamischer Sport, wo es zu ähnlich gefährlichen Stürzen wie beim Motorradfahren kommen kann, außerdem auch noch die Mountainbiker. Wir arbeiten an all diesen Projekten, für die man den Airbag natürlich jeweils modifizieren muss. Grundlage bleibt aber immer, dass er so schnell auslöst, nämlich in wenigen Millisekunden. Und ich freue mich, dass Menschen aus anderen Branchen, die uns Motorradfahrer bislang eher als Verrückte angesehen haben, nun zu uns kommen, um von uns zu lernen.

? Wie kann die Kombi der Zukunft aussehen?
! Wir werden uns wegbewegen von den Kombis, die sich an den Rüstungen des Mittelalters orientieren und gut schützen, aber eben auch steif und schwer sind. Für mich liegt die Zukunft in der Luft, wie beim Airbag. Sie wiegt nichts und schützt besser und schneller als alles andere. Am besten wäre es natürlich, wenn man ganz normal gekleidet Motorrad fahren könnte, mit einem eingebauten Schutz, der sich nur dann entfaltet, wenn man ihn braucht. Das Gleiche gilt für Helme: Wir denken bei unserer Firma AGV über Möglichkeiten nach, das Styropor im Inneren des Helms durch Luft zu ersetzen. Das wäre eine enorme Gewichtsersparnis. Schwierig umzusetzen, natürlich, aber eben auch eine echte Herausforderung. Und ohne die würde Forschungsarbeit ja nur halb so viel Spaß machen.
? Sie haben mit AGV jetzt gerade einen Helm auf den Markt gebracht, der kleiner und leichter ist als vergleichbare Vorgängermodelle und den Sie als Innovation bewerben.
! Das Neue an dem Helm ist, dass wir ihn von innen nach außen entwickelt haben, anders als man das bisher gemacht hat. Beim Helm oder auch bei der Kombi denken alle an die äußere Form, auch Auto-Designer machen das so: Sie entwickeln erst die Form, der Mensch wird dann schon irgendwie in das Fahrzeug passen. Wir machen es umgekehrt: Wir fangen beim Menschen an, bei der Körper- und Kopfform, und entwickeln dann nach außen. Eigentlich ist das ganz leicht. Die Form sollte sich dem Menschen anpassen, nicht umgekehrt.
? Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Viele Firmenchefs in der Motorradbranche stehen ständig im Mittelpunkt, geben zahlreiche Interviews. Sie hingegen sieht und hört man selten. Warum ist das so?
! Mir macht es mehr Freude, wenn man von der ganzen Firma spricht, von den Helmen, Kombis und Technologien, und von den Mitarbeitern - meinen Mitreisenden, wie ich sie nenne. Es ist mir eher peinlich, wenn ich erzählen soll, wie toll wir da oder dort gearbeitet haben. Wirklich Spaß macht es mir, in unsere Läden zu gehen und zuzuschauen, wie die Leute unsere Produkte an- und ausprobieren, denn dann sehe ich, dass sie tatsächlich nützlich sind. Die Kunden sind für mich am wichtigsten, es sind Freunde, denen ich das Beste gebe, was ich zu bieten habe - denn Freunde betrügt man nicht.
Bunte Hosen und Hightech

Lino Dainese, Jahrgang 1948, gründete seine gleichnamige Bekleidungsfirma 1972 in Molvena, nahe Vicenza in Norditalien. Erste Produkte waren zwei buntscheckige Lederhosen, eine für Cross-, eine für Straßenfahrer - revolutionär, denn Motorradfahrer trugen bis dahin praktisch nur Schwarz. Schnell erkannte Dainese die Bedeutung populärer Werbeträger und schloss bereits 1975 einen Sponsorvertrag mit Italiens bis heute legendärstem Rennfahrer, Giacomo Agostini. Fünf Jahre später baute Dainese die erste anatomisch geformte Kombi, 1982 kam dann der erste Knieschleifer, kurz darauf folgte der Rückenprotektor, zunächst nur für die Rennstrecke, später auch für Straßenkombis. 1996 begann die Zusammenarbeit mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT), die bis heute fortbesteht. Wichtigste Neuerung der Firma in den letzten Jahren ist der Airbag für Motorradfahrer, den es in zwei verschiedenen Ausführungen gibt: für die Rennstrecke und für die Straße. Basis ist jeweils ein raffinierter Algorithmus, der Informationen verschiedener Sensoren verarbeitet und den Airbag in wenigen Millisekunden auslöst (MOTORRAD berichtete). Weitere Infos: www.dainese.com/de_de/d-air/
Vom Leder zum Karbon

AGV wurde 1946 von Gino Amisano (1920-2009) in Valenza gegründet; der Firmenname besteht aus den Anfangsbuchstaben des Gründers und der Ortschaft im Piemont. Zunächst fertigte er Ledersättel und -sitzbänke für Roller und Motorräder, ein Jahr später folgte der erste Helm, der ganz aus Leder bestand; die Produktion beschränkte sich, da komplette Handarbeit, auf fünf Stück pro Woche. 1954 kam der erste Glasfaserhelm. 1967 nahm AGV Italiens Nationalheld Agostini unter Vertrag und führte kurze Zeit später den Integralhelm in Italien ein; die Rennfahrer widersetzten sich heftig, auch Agostini ließ sich erst 1971 dazu überreden, ihn zu tragen. Derweil baute AGV auch Helme für Ski-Rennfahrer und die Formel 1, der Motorradsport blieb jedoch am wichtigsten. Als einziger Sponsor unterstützte Amisano 1977 die Gründung der Clinica Mobile, die seither den Motorrad-Grand-Prix auf den Rennstrecken rund um die Welt begleitet. 2007 übernahm Dainese den Helmhersteller, der mittlerweile in den Besitz einer belgischen Gruppe übergegangen war. Wichtigste Neuerung sind die Helme Pista GP, Corsa und GT Veloce, die, anders als bislang, von innen nach außen entwickelt wurden, ausgehend von unterschiedlichen Kopfformen. Für das Racing-Modell Pista GP stand unter anderem Valentino Rossi Pate. Weitere Infos: http://www.agv.com/de