Lasst uns über Japan reden. Wir müssen über Japan reden, müssen zurückschauen und nach vorne. Darum wollen wir Japans Verdienste der Vergangenheit würdigen und Japans Chancen für die Zukunft ausloten. Doch zuerst halten wir einen Moment inne, um uns einmal eine grundsätzliche Tatsache vor Augen zu führen: Japan ist ein Riese, immer noch. Und in mancher Beziehung heute noch mehr als früher, auch wenn wir in Deutschland und Europa manchmal das Gefühl haben, Japan hätte unsere Motorrad-Bedürfnisse vergessen. Nein, es war anders. Japan hat nichts vergessen, Japan hatte uns nur über Jahrzehnte verwöhnt. So sehr, dass wir vieles für selbstverständlich hielten. Doch der Reihe nach, zunächst ein paar Worte zu den grundsätzlichen Größenordnungen.
Über zehn Millionen Hondas im Jahr 2016
Ein Beispiel: Wenn wir auf der Deutschland-Karte bei allen Motorrad-Produktionsstandorten ein Fähnchen setzen, kommen wir auf – richtig, ein einziges. Jedenfalls dann, wenn wir von nennenswerten Stückzahlen reden. Einsam und allein stände diese kümmerliche Fahne dann mitten in Berlin, wo BMW die meisten der aktuellen Bayern-Bikes zusammenbaut. Auf der Japan-Karte unten hingegen steckt ein Fähnchen neben dem anderen. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nur um Nippons Binnenstandorte. Die Großen Vier in Japan produzieren natürlich rund um den Globus und rund um die Uhr, und zwar seit Jahrzehnten. Honda baute bereits 2014 sein 300.000.000. Motorrad. In Worten: 300 Millionen! Das Jubiläumsbike war eine Gold Wing. Schon damals fertigte der Motorradriese an 33 Produk- tionsstandorten in 22 Ländern.
Über zehn Millionen motorisierte Zweiräder verließen allein 2016 die Honda-Produktionshallen auf der ganzen Welt, jeweils rund vier Million pro Jahr allein in Indonesien und Indien. Zum Vergleich: BMW und KTM, die europäischen Stückzahlen-Könige, matchen sich derzeit irgendwo zwischen 150.000 und 200.000 Stück, Ducati und Triumph bewegen sich jeweils so um die 55.000. Alle zusammen kommen also nicht einmal annähernd auf die Stückzahl, die Honda jährlich in Indien produziert (allerdings sind das auch andere Motorräder, doch dazu später mehr). Betrachtet man dann noch die nicht unerheblichen Mengen von Yamaha (Jahresproduktion rund 5,1 Millionen Einheiten), Suzuki (rund eineinhalb Millionen) und Kawasaki (352.000), wird deutlich: In Japan dreht sich ganz viel ums Motorrad. Immer noch.
Dementsprechend breit gestreut ist die Zulieferindustrie, darunter Namen wie NGK, Mikuni, Denso, Keihin, Showa und Tokico. Prominent geht es auch zu, wenn wir von Zubehör wie Helmen und Lederkombis reden. Arai und Shoei sind Firmen von Weltruhm, ihr Top-Image ist wohl auch auf die nächsten Dekaden betoniert, ihre Namen stehen für High-End-Produkte und eine ebenfalls über Jahrzehnte gewachsene Philosophie. Aber Achtung: Spätestens seit der Jahrtausendwende ist etwas passiert im Motorrad-Wunderland. Die Dinge sind nicht mehr so, wie sie mal waren.
Modernste Technik, appetitlich verpackt, bezahlbarer Preis
Vielleicht gehört der ein oder andere User zu jener Generation, die sich viele Jahre die Nase an den Schaufenstern japanischer Motorradhändler platt gedrückt hat, und zwar ausschließlich. Für die eine BMW niemals nie infrage gekommen wäre, weil das ein Altherrenmotorrad war. Und eine Moto Guzzi oder eine Ducati etwas, was kurzfristig Heidenspaß machen konnte – wenn es mal fuhr. Aber es fuhr eindeutig zu selten.
Nein, damals konnte, wer seine sieben Sinne zusammenhatte – und dazu ein begrenztes Budget – nur eine Japanerin fahren. Modernste, teilweise revolutionäre Technik, appetitlich verpackt, zum bezahlbaren Preis – das war Japan. Aber Japan war damals auch noch etwas anderes. Japan war ein Labor, die reine Experimentierfreude, eine Ideenschmiede par excellence. Was Nippon uns, beginnend mit der magischen Honda CB 750, in den 70er-, 80er- und auch noch den 90er-Jahren in Zyklen von zwei Jahren präsentierte, war schlicht atemberaubend. Noch besser war allerdings: Niemals, niemals hätten wir damals gemutmaßt, dass uns die neuesten japanischen Errungenschaften umgehend um die Ohren fliegen könnten, und seien sie auch noch so revolutionär. Nicht einmal bei der Honda CB 750, die ja eigentlich erst den sagenhaften Ruhm der Marke und der ganzen Motorradbauer- nation Japan begründete. War sie mit damals 67 PS aus 750 Kubikzentimetern doch ein hochgezüchteter Supersportler für jedermann. BMW zum Beispiel machte zu jener Zeit noch mit der R 75 rum, Triumph mit der Trident T 150. Kawasaki hingegen präsentierte mit der H1 eine 500er mit 60 PS.
Erste Bestseller-Enduro der Welt
Doch das war erst der Anfang, es kam noch viel bunter. Und technisch wilder. Der erste Serienmotorrad mit Vierventiltechnik (Honda XL 250) kam selbstredend aus Japan, der erste Vierzylinder-Boxer in der Honda Gold Wing – aus Japan. Die legendäre Kawa Z 900 mit Reihenvierzylinder, zwei obenliegenden Nockenwellen und sagenhaften 79 PS war ebenso durch und durch ein japanisches Produkt wie die erste Bestseller-Enduro der Welt, die XT 500. Und erfand man gerade mal nicht eine ganze Motorradgattung neu, dann doch wenigstens ganz neue Motorenkonfigurationen. 1978 zum Beispiel war das Jahr der Honda CBX mit ihrem Sechzylinder mit Vierventiltechnik und 105 PS, die alsbald das 100-PS-Limit bedingen sollte.
1978 war aber auch das Jahr der Honda CX 500 mit längs eingebautem, wassergekühltem V2. Und 1978 war das Jahr der Honda CB 900 F mit Namenszusatz Bol d’Or, die Premiere einer neuen Vierzylinder-Generation. Merken Sie was? Damals schien der Pool an fähigen und mutigen Ingenieuren beinahe ebenso unerschöpflich wie die Bereitschaft, diese Kapazitäten auch zu nutzen. Und das galt nicht nur für den Weltmarktführer Honda.
Misere begann schon vor der Finanzkrise
Zwei Beispiele noch, die den Kampfgeist und die Innovationskraft Japans in diesen wilden Jahren belegen und in den unvergleichlichen Duellen dieser Zeit gipfelten. Als Yamaha mit der RD 500 (88 PS) den GP-Spirit eins zu eins auf die Straße brachte, zog Suzuki mit der RG 500 umgehend nach und legte mit 95 PS noch eine Schippe drauf. Schon zuvor, als Honda mit der CX 500 Turbo eine ganz neue Techno- logie aus dem Hut zauberte, ließen sich Yamaha (XJ 650 Turbo), Kawasaki (GPZ 750 Turbo) und Suzuki XN 85 Turbo nicht lumpen, ganz ungeachtet aller Marktchancen und technischer Notwendigkeiten. Was zählte, war das Image.
Womit wir wieder den Bogen zum Hier und Jetzt spannen. Und zu dem, was sich ungefähr seit der Jahrtausendwende für den japanischen Motorradbau und sein Verhältnis zu den entwickelten europäischen und nordamerikanischen Märkten veränderte. Denn auch wenn nach allgemeiner Lesart die weltweite Finanzkrise, die 2007 ihren Anfang nahm, für das nachlassende Engagement der japanischen Hersteller in diesen Märkten verantwortlich gemacht wird, begann die Misere schon früher und hatte auch mit dem jahrelang ungünstigen Yen-Kurs zu tun. Aber noch zwei weitere Punkte kamen hinzu. Der erste und zweifellos wichtigste ist einer, der aus europäischer Sicht nur am Rande wahrgenommen wird, nämlich die rasante Entwicklung der sogenanntenEmerging Markets in Asien und Südamerika, der sich entwickelnden Märkte und ihrer fulminanten Umsatz-Möglichkeiten durch den millionenfachen Absatz von einfach zu planen und günstig zu produzierenden Kleinst-Motorrädern. Die werden vor Ort zu geringen Lohnkosten in riesigen Fabriken gebaut und finden dort auch anders als in den gesättigten Märkten der Industrienationen reißenden Absatz.
MT-07, Africa Twin, Z 900
In Europa hingegen formierte sich zur gleichen Zeit der technologische Widerstand. Ducati, bis dahin einzig dem Sportsegment verpflichtet, erkannte die Zeichen der Zeit und erweiterte seine Modellpalette um technologisch anspruchsvolle Naked Bikes und Allrounder. Und BMW? Bis dahin vor allem durch die Boxer-Baureihe und das Zugpferd GS im Markt vertreten, erfand sich quasi neu. Mit ungeheurem Entwicklungstempo legte man komplett neue Einzylinder-, Zweizylinder- und Vierzylindermodelle auf und entdeckte mit der HP2 und endgültig mit der S 1000 RR den Sportmotorrad-Markt für sich. Dazu kam mit KTM ein gänzlich neuer und ebenso reger Wettbewerber hinzu, der in ähnlichem und teilweise noch höherem Tempo den Markt mit dem bediente, was er verlangte, nämlich markentypische Eigenständigkeit und technische Innovation.
Und Japan? Eine lange Zeit schien es so, als sehe man aus dem fernen Asien nur noch zu, verlängere die Modellzyklen bis in die Ewigkeit und ergehe sich bis zur Beliebigkeit in immer ähnlichen Variationen ein und desselben Themas. Doch dann kam Yamaha und machte mit einer komplett neu entwickelten Motorengeneration, dem MT-07-Twin und dem MT-09-Triple, vor, dass clever gemachte und kostengünstig zu produzierende Motoren auch in den entwickelten Märkten ganz neue Optionen eröffnen. Beide Modelle und die daraus abgeleiteten Varianten wurden Renner und lassen auch für die Zukunft zahlreiche Möglichkeiten offen. Und Erfolge in Europa sind gut fürs Image. Auch in den asiatischen und südamerikanischen Märkten, wo sie zusammen mit den Helden des MotoGP für besseren Absatz sorgen. Auch Honda hat das gemerkt. Spätestens am Erfolg der neuen Africa Twin, von dem man wohl selbst am meisten überrascht war. So sehr, dass man gar nicht so viele produzieren kann, wie man verkaufen könnte. Kawasaki geht es mit der neuen Z 900 ebenso.