In Schräglage hart bremsen überfordert selbst MotoGP-Stars und führt relativ häufig zum Sturz. Das ändert sich mit MSC, der Motorcycle Stability Control von Bosch. PS testete das neue System an der KTM 1190 Adventure.
In Schräglage hart bremsen überfordert selbst MotoGP-Stars und führt relativ häufig zum Sturz. Das ändert sich mit MSC, der Motorcycle Stability Control von Bosch. PS testete das neue System an der KTM 1190 Adventure.
Der Mann trägt eine angekratzte Schwabenleder-Kombi und zerfetzte Daytona Security-Stiefel. Er will mich dazu bringen, in diese Pylonengasse einzubiegen und in voller Schräglage die Vorderradbremse zuzuknipsen. Ein fieses Lächeln begleitet seine Worte. Mein erster Gedanke: Der hat nicht alle Tassen im Schrank. Oder die verbliebenen Tassen haben allesamt einen gewaltigen Sprung. Doch in seinen Augen funkelt nicht der Wahnsinn – nein, sein Blick ist klar und fokussiert, seine Stimme fest. Er ist Ingenieur bei Bosch, arbeitet im Bereich Two-Wheeler Saftey und sein Chef, Dr. Yildirim, ist auch da. Na gut,
die können in dem Verein ja nicht alle bekloppt sein...
MOTORRAD action team Kurvenschule 2014
Also beschleunige ich die KTM 1190 Adventure auf gute 60 Sachen, biege in die zirka drei Meter breite Pylonengasse ein und ziehe mit verkrampfter Bauchdecke und aufgestellten Nackenhaaren heftig die Vorderradbremse. Ich rechne mit allem, sehe die KTM schon funkensprühend wegrutschen, mein Schlüsselbein bersten, die Pylonen durch die Luft schleudern. Aber nichts dergleichen passiert! Die KTM verzögert stärker als erwartet, stellt sich trotz der Schräglage anfänglich kaum auf und ehe ich mich versehe, muss ich meine Füße von den Rasten nehmen, um im Stand nicht umzufallen. Wahnsinn!!!
„Und, war es schlimm?“ Der Bosch-Mann in der Kombi, Christian Gröger mit vollem Namen und einer der Applikateure des brandneuen Stabilitätssystems MSC, steht da, und schaut mir erwartungsvoll in die Augen. MSC steht für Motorcycle Stability Control. MSC ist mehr als ein reguläres ABS, aber – um es gleich vorwegzunehmen – auch kein elektronisches Stützrad und kein 100-prozentiger Sturzverhinderer. Um die Arbeitsweise von MSC zu verstehen, muss man sich etwas Zeit nehmen. Grundsätzlich und stark vereinfacht funktioniert MSC wie eine nachrüstbare Traktionskontrolle oder die Systeme von der Kawasaki ZX-10 R oder der Yamaha YZF-R1. Und die funktionieren so: In der Bordelektronik, Abteilung Schlupfüberwachung, wird ein Korridor festgelegt, in dem das Beschleunigen des Hinterrads in Ordnung ist. Um dies zu erkennen, greift sich die Elektronik die Radgeschwindigkeiten an Vorder- und Hinterrad, die eingelegte Gangstufe, die Drosselklappenstellung, die Motordrehzahl sowie einige andere Infos ab.
Diese Daten vergleicht der Bordrechner nun mit denen des programmierten TC-Korridors. Ist alles in Ordnung, sprich, ist der Schlupf am Hinterrad im grünen Bereich, wird weiter beschleunigt. MSC agiert ähnlich, nur etwas komplexer. Denn Verzögerung kann man nicht über die Motordrehzahl messen, sondern nur über einen dreidimensionalen Schräglagensensor, auch Gyro-Sensor genannt, erfassen. Dieser Gyro ist das Herzstück von MSC. Er misst die Längs-, Quer- und Vertikalgeschwindigkeit des Motorrads während der Fahrt und errechnet daraus die Gier- und Rollrate des Bikes. Diese Grundinformationen werden von weiteren Werten der Elektronik ergänzt. Raddrehzahlen, Gangstufe, Bremsdruck an Vorder- und Hinterrad sind nur einige davon.
Während die Sensorik permanent Daten liefert – der Schräglagensensor zum Beispiel erfasst Schräglage und Nickwinkel des Motorrads 100-mal pro Sekunde –, muss der Bordrechner ran. Hier laufen alle Informationen zusammen, hier findet der Abgleich mit den Daten statt, die den „grünen Bereich“ definieren. In diesem grünen Bereich fährt das Motorrad sturzfrei. Er ist bei jeder Traktionskontrolle hinterlegt, ebenso wie beim MSC. Doch woher wissen die Programmierer, wo genau die Grenzen des grünen Bereichs liegen? Wo ist das Limit? Zum einen beziehen sie ihr Wissen aus Simulationen am Großrechner, zum anderen natürlich von Testfahrten.
MSC, umgangssprachlich auch „Kurven-ABS“ genannt, ist also ein sogenanntes „starres System“. Es fährt einen permanenten Abgleich zwischen dem Ist-Zustand (Infos der Sensorik) und dem Soll-Zustand, also den Werten, die im System als Grenzwerte hinterlegt sind. Die Krux an der Sache: Ein Motorrad in Schräglage ist ein wahnsinnig komplexes Gesamtsystem, das von unzähligen äußeren Faktoren beeinflusst ist. Ganz entscheidend ist da das Bindeglied zwischen Motorrad und Straße, der Reifen. Denn die Reifenkontur, die Gummimischung und der Reifendruck haben großen Einfluss auf das System. Deswegen funktioniert MSC auf den KTM 1190 Adventure- und Adventure R-Modellen momentan nur mit den Continentalreifen der Erstausrüstung.
Einfach unglaublich! Das ist die Antwort, die ich Applikateur Gröger gab. Nach vorsichtigem Herantasten und kurzer Eingewöhnung macht es sogar Spaß, in der großen Kreisbahn mit über den Asphalt schmirgelnden Rasten in die Eisen zu steigen. Bei voll gezogener Bremse stellt sich die Test-KTM kaum auf, da das MSC über den Gyro-Sensor erkennt, wie schnell sich das Bike aufstellen will. Daraufhin wird der Bremsdruck und damit die Aufstellneigung reduziert.
Was für ein Sicherheitsgewinn für uns Motorradfahrer! Auf dem topfebenen Belag des Bosch-Testzentrums in Boxberg lieferte das Schräglagen-ABS eine sehr beeindruckende Vorstellung ab. Doch die Anfangseuphorie mal beiseite: MSC ist kein unsichtbares Stützrad, das jeden Sturz verhindern kann. Reibwertsprünge, also grobe Unterschiede in der Haftung, wie sie Fahrbahnmarkierungen, Kanaldeckel, Ölflecken oder ähnliches hervorrufen, werden in hoher Schräglage weiter zu Stürzen führen. Sie können vom System einfach nicht erkannt und berechnet werden. Auch alltägliche Nachlässigkeiten können das System übertölpeln. Zum Beispiel zu niedriger Luftdruck im Vorderrad.
PS probierte es aus. Wir fuhren mit nur 1,9 bar statt der vorgeschriebenen 2,5 bar im Vorderrad auf die große Kreisbahn und bremsten hart. Mit dem Ergebnis, dass einmal bei zirka 64 km/h und einmal bei um die 70 km/h das Vorderrad blockierte und die Situation instabil und damit gefährlich wurde. Da wir uns in moderater Schräglage befanden, klappte das Vorderrad aber nicht ein, sondern fing sich wieder.
Insgesamt ist das Bosch-MSC ein sehr beeindruckendes Sicherheits- und Assistenzsystem. Und es ist zukunftsweisend, denn nach KTM haben bereits andere Hersteller eine MSC-Applikation bei Bosch in Auftrag gegeben. Und noch eine gute Nachricht: MSC lässt sich an jeder 2013 gekauften KTM 1190 Adventure für 399 Euro nachrüsten.