Ein Flensburg-Punkt fehlte, und ein Odenwälder hätte für seine Dachlatten-Attacke auf vier Motorradfahrer ins Gefängnis gemusst. So gab’s Bewährung.
Ein Flensburg-Punkt fehlte, und ein Odenwälder hätte für seine Dachlatten-Attacke auf vier Motorradfahrer ins Gefängnis gemusst. So gab’s Bewährung.
Bei einem Bikertreffen würde Mario S. (49) auf den ersten Blick kaum auffallen: schwarze Zimmermannsjeans mit seitlichen Silberknöpfen, weißes Schnürhemd im Mittel-alter-Look, darüber eine schwarze Lederweste. So sitzt der Odenwälder an einem verregneten Donnerstagmorgen in Saal 128 des Amtsgerichts Michelstadt auf der Anklagebank. Im Plauderton erzählt er seiner Rechtsanwältin, was er in letzter Zeit so gemacht hat: aus einem selbst restaurierten VW-Bus vom Schrottplatz Eis verkauft. Von Christian Schulz und seinen beiden Kumpels, die im Zuschauerraum Platz genommen haben, nimmt Mario S. keinerlei Notiz. Dabei waren sie es, die den seit zwei Jahren arbeitslosen Lackierer angezeigt haben.
Die Vorwürfe, die Oberstaatsanwalt Erwin Albrecht gegen ihn erhebt, wiegen schwer: Aus blinder Wut auf Motorradfahrer allgemein soll Mario S. am frühen Abend des 25. Juli 2012 mit einer Dachlatte aus seinem Garten nach vier Bikern geworfen haben, als die auf einer Landstraße am Grundstück seines Mietshauses vorbeifuhren. Die Holzlatte, so berichten die vier als Zeugen geladenen Männer später übereinstimmend, traf den ersten Fahrer, einen Fahrlehrer, an Helm und Schulter. Dann prallte sie gegen das Vorderrad der dem Fahrlehrer folgenden Suzuki Bandit 600 des Fahrschülers und blieb auf der Straße liegen. Die hinteren beiden Fahrer der Vierergruppe wurden nicht getroffen. „Sie haben die nahe Gefahr eines schweren Unfalls herbeigeführt“, wettert der Staatsanwalt und legt nach: „Als die Motorradfahrer anhielten, riefen Sie: ,Verrecken sollt ihr, ihr Wichser, verreckt alle, dann hört das auf!“
Nach den Kraftausdrücken ist es kurz still im Raum, dann fragt der Vorsitzende Richter Helmut Schmied den Angeklagten, ob er sich zu den Vorwürfen äußern wolle. Oh ja, er will, und wie: „Die Motorradfahrer bedrohen uns, da hat es immer wieder Vorfälle gegeben, an diesen einzelnen kann ich mich aber nicht erinnern.“ Als Mario S. unvermittelt zu einem flammenden Plädoyer gegen angeblich gemeingefährliche Motorradraser anhebt, unterbricht ihn der Richter: „Ist Ihnen eigentlich klar, worum es hier geht? Es bringt uns nix, wenn Sie hier Ihrem Ärger über Motorradfahrer Luft machen. Sie können hier wegen versuchten Mordes verurteilt werden.“ Nach einem kurzen Wortwechsel mit seiner Anwältin verweigert Mario S. jede weitere Aussage.
Einen nach dem anderen ruft der Vorsitzende dann die vier Motorradfahrer als Zeugen in den Saal. Sie schildern mit unterschiedlichen Worten, inhaltlich aber weitgehend deckungsgleich erst den Wurf, dann was danach passierte: Nach einer Gefällestrecke, auf der Tempo 70 erlaubt ist, rollten die vier, vorneweg Fahrlehrer und Fahrschüler auf Überlandfahrt, am Garten von Mario S. vorbei - langsamer als 70, schon allein des Fahrschülers wegen.
Dann kam die Dachlatte geflogen, richtete aber keinen Schaden an. Im Grunde hatte keiner der vier genau begriffen, was da eben passiert war. Um das zu klären, hielten sie an, drehten und fuhren zurück. Auf der Straße lag ein angekokeltes Holzstück, noch leicht rauchend, daneben ein gelber Lappen, es roch nach Spiritus oder Benzin. Wonach genau, darauf will sich vor Gericht keiner festlegen. Aus dem Sattel seiner BMW S 1000 RR fragte Fahrlehrer Patrick Ambiel schließlich den in der Einfahrt mit einer weiteren Dachlatte in der Hand aufgetauchten Mario S., ob da „zufällig“ eben etwas aus seinem Garten geflogen sei. Derweil stieg Fireblade-Fahrer Christian Schulz ab und nahm den Helm ab. „Das macht man doch so, wenn man mit jemandem spricht“, meint er. Aber mit Mario S. war nicht zu sprechen, der tobte und beschimpfte die vier wüst: „Zufällig? Ha, ihr Arschlöcher rast hier die ganze Zeit mit 180 vorbei, ihr Wichser, das hört jetzt auf! Verreckt alle, dann hört das auf!“ Darin sind sich alle vier Zeugen einig.
Als die Situation zu eskalieren drohte, rief Christian Schulz mit dem Handy die Polizei. Der Beamte habe wissen wollen, ob jemand verletzt worden sei. Als Schulz verneinte, meinte der Polizist, dass es 45 Minuten dauern würde, bis ein Streifenwagen da sei. So lange warten, während ihnen einer mit einem Prügel in der Hand gegenübersteht? Nein. Bevor sie weiterfuhren, machte Christian Schulz mit dem Handy noch ein paar Fotos von der Straße, dem Holzstück, dem Garten. „Wenn ihr noch mal hier vorbeikommt, war es euer letztes Mal!“, soll Mario S. zum Abschied noch geschrien haben. Zwei Tage später erstattete Christian Schulz beim Polizeipräsidium Südhessen in Darmstadt online Strafanzeige. Im Internet schilderte er in einem Fireblade- und Z-1000-Forum- den Zwischenfall als Warnung.
Es dauert rund sieben Wochen, bis Mario S. von der Polizei zu den Vorwürfen vernommen wird. Den beiden Beamten gegenüber, die auch als Zeugen gehört werden, wettert er wieder über Motorradfahrer, bestreitet aber, absichtlich die Dachlatte geworfen zu haben. Warum es eine dreiviertel Stunde gedauert hätte, bis ein Streifenwagen vor Ort gewesen wäre, fragt einer der beiden Schöffenrichter den Oberkommissar im Zeugenstand. „Gute Frage, das sollte nicht vorkommen, aber es war Wiesenmarkt“, entschuldigt sich der mit dem Hinweis auf das gleichzeitig stattgefundene Volksfest. Der Vorsitzende Richter nimmt den Faden auf: „Jetzt haben wir den Stock nicht als Beweismittel, und eine Blutentnahme haben wir auch nicht, aber eigentlich wollte ich dieses Fass nicht aufmachen.“
War Mario S. zum Tatzeitpunkt nüchtern oder betrunken? Unklar. War die Dachlatte vielleicht sogar als brennende Fackel gedacht? Für Oberstaatsanwalt Erwin Albrecht ist das in seinem Plädoyer aber „letztlich unerheblich“. Denn so oder so steht für ihn fest, dass Mario S. „absichtlich eine erhebliche Sturzgefahr“ hatte herbeiführen wollen. „Hier hätte es zu Todesfällen kommen können. Generell sind Motorradfahrer dort wahrscheinlich zu schnell und zu laut“, räumt Albrecht ein, bestreitet aber kategorisch jegliches Recht auf Selbstjustiz: „Das muss sich rumsprechen, dass man niemanden schädigen oder zum Anhalten zwingen darf!“ Für Staatsanwalt Albrecht ist Mario S. eindeutig des Verbrechens des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr schuldig.
Dafür steht laut Gesetz eine Mindeststrafe von Gefängnis nicht unter einem Jahr. Weil der Angeklagte vor Gericht keinerlei Reue gezeigt habe, fordert Albrecht eineinhalb Jahre, auszusetzen auf drei Jahre Bewährung, plus 200 Stunden gemeinnützige Arbeit. Die Verteidigerin von Mario S. plädiert auf Freispruch, da niemand den eigentlichen Wurf gesehen habe und somit Aussage gegen Aussage stehe.
Das Urteil, das Richter Schmied nach knapp 15 Minuten Beratung verliest, überrascht keinen der Prozessbeobachter: eineinhalb Jahre Gefängnis wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, versuchter Körperverletzung und Beleidigung, auszusetzen auf drei Jahre Bewährungsfrist. Die gemeinnützige Arbeit erhöht der Richter noch von 200 auf 300 Stunden. Die Bewährung, so sagt er, spreche er nur „mit Bauchschmerzen“ aus. Sie gibt es, weil Mario S. zuvor nie polizeilich aufgefallen war und nicht einmal Flensburg-Punkte hatte.