Motorrad Technik-Wissen: Sekundärantrieb Kette/Kardan

PS-Wissen Technik Teil 8 Sekundärantrieb Kette/Kardan

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Wenn der Motor sein volles Drehmoment ans Hinterrad weiterreicht, haben Antrieb und Zahn­räder nichts zu lachen. Und weil die Motorkraft auch noch die Hinterradfederung beeinflusst, müssen die Konstrukteure tief in die Trickkiste greifen.

Sekundärantrieb Kette/Kardan PS-Archiv, Koch
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Erster Gang, Vollgas. Das Vorderrad schwebt eine Zigarettenlänge über dem Asphalt, der Motor schnalzt durchs Drehzahlband und für einen kurzen Moment kreuzt die Leistungskurve einer BMW S 1000 RR den Zenit, auf dem der Rollenkette unter maximaler Belastung alles abverlangt wird. Mehr an Belastung geht kaum, denn in der kürzesten Gangstufe addieren sich die Untersetzungen zwischen Kurbelwelle und Kettenritzel zum mächtigen Drehmomentberg.

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Waren es an der Kurbelwelle noch maximal rund 115 Newtonmeter, steigerte die Untersetzung zur Kupplung (1:1,65) und der erste Gang (1:2,64) das maximale Drehmoment rein rechnerisch auf rund 501 Newtonmeter. Abzüglich eines Verlustes von rund vier Prozent für die Reibung der beiden Zahnradpaare steigert sich das Drehmoment an der Getriebeausgangswelle dadurch auf satte 480 Newtonmeter. Mit einem serienmäßigen 17er-Kettenritzel (wirksamer Durchmesser 92 Millimeter) zerrt der kurze Hebelarm mit 10.480 Nm – oder etwas verständlicher – mit 1060 Kilogramm an dem feingliedrigen Kettenwerk, das die reine Zugkraftübertragung über die etwas mehr als fünf Millimeter starken Bolzen bewerkstelligen muss.

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Für über 3500 Kilogramm Zugkraft ausgelegt

Dass moderne Hochleistungsketten auf weit über 3500 Kilogramm Zugkraft ausgelegt sind hat den Grund, dass die Drehkraftspitzen des Motors (siehe PS-Heft 10/13) deutlich über den durch­schnitt­lichen Drehmomentwerten liegen. Zudem addieren sich Lastspitzen durch Boden­wellen oder harte Schaltvorgänge dazu, was den Sicherheitszuschlag von gut 300 Prozent notwendig macht.

Die ans Hinterrad eingeleitete Kraft bewirkt jedoch nicht nur einen brutalen Vortrieb, sondern wirkt sich auch im Verbund mit der Zugkraft an der Reifenaufstandsfläche auf das Federverhalten der Hinterradschwinge aus. Steht die Schwinge schräg genug, drückt die eingeleitete Kraft das Motorrad über das Schwingen­lager nach oben, das Heck federt aus.

Umstieg auf Kardan­antrieb?

Offen laufende Antriebsketten benötigen trotz dauerhafter Fettfüllung eine zusätzliche Schmierung der Kettenrollen und Kettenräder durch ein gut haftendes Kettenfett. Ein Umstand, der manche Motorradfahrer zum Umstieg auf eine Maschine mit Kardan­antrieb veranlasste. Pflegefrei und sauber, übertragen dabei gekapselte und in einem Ölbad laufende Kegelräder mit dazwischengeschalteter Kardanwelle die Kraft ans Hinterrad.

Dass die gute alte Rollenkette trotzdem nicht kleinzukriegen ist, liegt an dem immensen mechanischen Aufwand, den höheren Kosten und dem höheren Gewicht eines Kardanantriebs. Denn mit der simplen Einarmschwinge mit integriertem Kardan, die man bei den alten BMW und Guzzi verbaute, ist heute nichts mehr zu machen. Momentabstützung heißt das Zauberwort, mit dem die Konstrukteure den lästigen Aus- und Einfederbewegungen des einfachen Kardans zu Leibe rücken müssen.

Überlässt man die Kräfte und Momente der rotierenden Welle, hebt sich das Motorradheck beim Beschleunigen massiv aus der Federung, um beim Gasschließen genauso vehement in sich zusammenzusacken. Der Grund: Das Drehmoment stützt sich am Schwingen­lager ab und hebt dieses mitsamt dem Motorrad aus der Federung und umgekehrt. Also müssen die Kräfte und Momente so umgelenkt werden, dass das Fahrzeugheck, ähnlich wie bei einem gut ausgelegten Ketten­antrieb, die Federung beim Beschleunigen durch den Anti-Squat-Effekt so unterstützt, dass das Motorrad in neutraler Position bleibt und sich Lenk­geometrie und Schwerpunktlage nicht zu stark verändern.

Um auf die aufwendige Momentabstützung mit mehrfach gelagerten Schwingenarmen verzichten zu können, bleibt die Möglichkeit, die unerwünschte große Hebelwirkung mit einem extrem langen Schwingenarm abzuschwächen. So, wie das Yamaha am Sporttourer FJR 1300 oder der Reiseenduro XTZ 1200 gekonnt umgesetzt hat.

Anti-Squat - Die unsichtbare Feder

Seit Jahren nutzen die Ingenieure und Techniker nicht nur im Rennsport den Anti-Squat-Effekt der Hinterradschwinge. Denn genau in dem Moment, in dem die Beschleunigung einsetzt und das Hinterrad die maximale Gesamtlast aufnehmen muss, also sobald das Vorderrad abhebt, wirkt dieser Nickausgleich. Er unterstützt praktisch die Feder- und Druckstufendämpfung des Federbeins, wirkt einem Durchschlagen entgegen und hält das Motorrad in einer akzeptablen Position, was Lenkkopfwinkel und Nachlauf angeht. Bei korrekter Auslegung der Schwingengeometrie federt das Heck beim Beschleunigen rund 5 bis 10 Millimeter aus, bei den MotoGP-Rennmaschinen sollen es nach Insider-Informationen noch deutlich mehr sein. Dieser Nickausgleich wird durch folgende Parameter maßgeblich beeinflusst.

Schwingenlänge: Eine lange Schwinge baut weniger, aber über den Federweg gleich­mäßigeren Nickausgleich auf als eine kurze Schwinge. Lange Schwingen müssen daher steiler angestellt werden.

Schwingendrehpunkt: Dessen Höhe im Verhältnis zur hinteren Radachse beeinflusst den Schwingenwinkel und damit den Ausfedereffekt. Je höher der Schwingendrehpunkt, desto größer der Anti-Squat-Effekt und umgekehrt. Bei einem Hinterradhalbmesser von 315 Millimetern und einer Schwingenlänge von etwa 550 Millimetern sollte dieser Punkt über 420 mm liegen (ganz ausgefedert gemessen). 

Position des Kettenritzels: Je tiefer, desto größer der Anti-Squat-Effekt und umgekehrt. Zudem sollte der Abstand zum Schwingen­drehpunkt so gering als möglich ausfallen.

Dimension von Ritzel und Kettenrad: Aus deren Durchmesser ergibt sich der Kettenwinkel, der einen bestimmten Einfluss auf das Federver­halten ausübt.

Beispiel tiefergelegte Aprilia RSV 4

Um die Wirkung dieser Parameter zu verdeut­lichen, legen wir eine Aprilia RSV 4 rein rechnerisch um 20 Millimeter tiefer. Die 122 Prozent maximaler Nickausgleich reduzieren sich dann auf gerade noch 110 Prozent Maximalwert. Ist das Motorrad 35 Millimeter eingefedert, also mit Fahrer belastet, sinkt der ursprüngliche Wert von 110 auf 96 Prozent. Das heißt, das Motorrad würde damit beim Beschleunigen nicht mehr aus- sondern einfedern. Was als Kettenreaktion den unerwünschten Effekt noch verstärkt, denn je tiefer das Motorrad einsackt, desto geringer ist der Anti-Squat Effekt. Jetzt hätte man den kritischen Punkt erreicht, an dem der Kettenzug das Heck in die Federung zieht. Mit der Folge, dass sich  Lenkkopfwinkel und Nachlauf in einem Bereich von rund zwei Grad beziehungsweise 12 Millimeter in Richtung „unhandlich“ verschieben. 

Dieses Beispiel zeigt, dass bei jeder Veränderung der Geometrie, etwa über die Längen­verstellung am Federbein, auch die Auswirkungen auf den Nickausgleich überdacht werden müssen. Da sich hierbei jedoch alle wirksamen Parameter ändern, lassen sich die Folgen nur mit einem Chassis-Rechenprogramm vollständig erfassen.

Tipps & Tricks des Ketten-Einmaleins

Auch wenn die Kette für viele Motorrad­fahrer ein eher unauffälliges Bauteil ist, lohnt ein Blick in die Innereien des Gliederwerkes, dass seine Schwerstarbeit mit größter Zuverlässigkeit erledigt. Zumindest seit Einführung der segensreichen O-Ringkette mit dauerhafter Fettfüllung. Als erstes Groß­serienmotorrad rüstete Kawasaki die Z 900 Mitte der 70er-Jahre damit aus. Bis zu diesem Zeitpunkt  fraßen die knapp 100 PS starken „Super-Bikes“ die Rollenketten innerhalb von 5000 bis 6000 Kilometern regelrecht auf. Wer nicht rechtzeitig die Kette mitsamt Rädern tauschte, dem flog der Antriebsstrang um die Ohren – oder zerstörte beim Abriss das Motorgehäuse. Heutzutage ein höchst seltener Ausfall.

Beim Aufbau der Kette spielen die Bolzen und Hülsen die tragende Funktion. Über sie wird die Kraft auf die Innen- und Außenlaschen übertragen, bevor die freilaufende Rolle Kontakt mit den Zahnrädern aufnimmt und dort die lineare Kraft in die Rotation der Räder umsetzt. Beim ersten Kontakt mit der Zahnspitze gleitet die Rolle über die fest eingepresste Hülse und schont durch die leichte Drehbewegung die Oberfläche von Kettenritzel und Kettenrad.

Damit das Abrollen auf den Zähnen auch geschmeidig funktioniert, erleichtert ein Schmierfilm zwischen Rolle und Hülse diesen Vorgang. Da dieser Bereich nicht in der Dauerfett­füllung liegt, muss er von außen durch regelmäßiges Schmieren aufgebracht werden. Denn nur hier und sonst nirgends muss das Kettenfett ankommen. Weder Außen/Innenlaschen, noch die O- oder X-Ringe müssen geschmiert werden. Wer dort mit dem Sprühstrahl draufhält, versaut sich die Kette mitsamt Umfeld und sorgt dafür, dass sich dort Staub und Sand zu einer dicken Pampe ansammeln.

Sollten die Laschen bei Regen leichten Flugrost ansetzen, empfiehlt sich eine dünne Schicht Kriechöl mit MoS² („Caramba“ oder ähnliche Mittel), das anschließend ein paar Stunden ablüften sollte.

Kette einsprühen

Beim Einsprühen der Rollen mit Kettenfett sollte das Motorrad leicht schräg stehen (zum Beispiel auf dem Seitenständer mit Gegenstütze rechts). Dabei rutschen die Rollen zur Außenseite, womit der etwa 0,5 Millimeter große Luftspalt das Schmiermittel leichter eindringen lässt. Vor dem Einsprühen Motorrad und Sprühposition stabil ausrichten, am besten dreht eine Person das Rad, die andere sprüht mit gezieltem Strahl auf die Innenseite der Rollen. Das Ganze am besten mit Röhrchen, dann genügen zwei Portionen pro Rolle. Das Hinterrad muss dazu knapp sechs Umdrehungen in gleichmäßigem Tempo verdreht werden. Warum? Weil die Kette bei einer Umdrehung am Hinterrad etwa ein Drittel seiner zirka 110 bis 120 Rollen umwälzt.

Danach je nach Ablüftzeit des Kettenfetts das Motorrad ein paar Stunden stehen lassen. Von Zeit zu Zeit sollte auch die Kettenabdeckung am Ritzel entfernt werden und die dort angesammelte „Schleifpaste“ aus Kettenfett und Straßen­staub gründlich entfernt werden, damit die Kette nicht ständig durch die klebrige Pampe streift. 

Überprüfen der Kettenspannung

Beim Überprüfen der Kettenspannung darauf achten, ob die Kette beim Drehen des Hinterrads unterschiedlich weit durchhängt. Ist dies der Fall, in der strammsten Position eine Markierung am Kettenrad anbringen und die Kette nochmals auf Spannung überprüfen. Überlagert sich die strammste Position mit der Markierung am Kettenrad, liegt der Verdacht nahe, dass am Kettenblatt der Grund- oder Lochkreis der Befestigungsbohrungen exzentrisch gebohrt ist, was zu einem ungleichmäßigen Kettendurchhang führt. Also entweder austauschen oder den Kettendurchhang nach der strammsten Position ausrichten. 

Wer die Sekundärübersetzung ändern möchte, muss wissen, dass der TÜV nur eine Abweichung bis zu acht Prozent zulassen kann, ohne dass eine Abgas/Geräuschprüfung anfällt. Kompliziert wird es, wenn eine Anpassung der Tachometeranzeige gefordert wird, die ihren Impuls vom Ritzel ausgehend erhält.

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