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Straßenzustandsreport 2022: Es gibt noch viele Schwachstellen

Straßenzustandsreport 2022 – eine Bestandsaufnahme Es gibt noch viele Schwachstellen

In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der tödlich verunglückten Motorradfahrer fast halbiert. Das steht zweifellos auch im Zusammenhang damit, dass mehr und mehr wirksame Instrumente zur Verbesserung der Verkehrssicherheit von Motorradfahrern zum Einsatz kommen. Es bleibt dennoch noch Luft nach oben, um Schwachstellen im System Straße auf die Spur zu kommen. Eine Bestandsaufnahme.

Straßenzustandsreport Sicherheitskampagne 2022 Berit Horenburg / Björn Wylezich - stock.adobe.com / SCRIM / Fun Stocker - stock.adobe.com
Straßenzustandsreport Sicherheitskampagne 2022
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Straßenzustandsreport Sicherheitskampagne 2022
Straßenzustandsreport Sicherheitskampagne 2022 12 Bilder

Zur Ursache heißt es in den Unfallberichten oft lapidar: nicht angepasste Geschwindigkeit. Doch was heißt "nicht angepasst" genau? Denn es sind auch Defizite beim Straßenzustand, bei Straßengestaltung und auch bei der Verkehrsführung, die das Risiko erhöhen, im Straßenverkehr zu verunglücken. Seit den frühen 2000er-Jahren haben sich sogenannte Unfalltypen-Steckkarten als Grundvoraussetzung etabliert, um Gefahrenquellen registrieren und beseitigen zu können. Die Polizei, bei der diese Karten mittlerweile digitalisiert geführt werden, schlägt Alarm, sobald ein Unfallschwerpunkt als solcher erkannt ist.

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Wann reagiert örtliche Unfallkommission?

Dies ist nämlich immer dann der Fall, wenn sich binnen einem Jahr fünf Karambolagen nach gleichem Muster oder innerhalb von 36 Monaten fünf Unfälle mit Verletzten beziehungsweise drei Crashs mit Toten oder Schwerverletzten ereignen. Dann nimmt die örtliche Unfallkommission ihre Arbeit auf. Dieses Expertengremium setzt sich aus Polizei, Straßenverkehrsbehörden und Straßenbaubehörden zusammen. Über 500 Unfallkommissionen sind in Deutschland aktiv.

So auch im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, wo der mittlerweile berühmt-berüchtigte Kesselberg im Zuge der B 11 die örtliche Unfallkommission seit Jahren beschäftigt. "Die Strecke war und ist der schlimmste Unfallbrennpunkt in Bayern", sagt Martin Herda, Abteilungsleiter Straßenbau beim zuständigen Bauamt. Fast alle bislang getroffenen Maßnahmen haben sich dort als stumpfe Schwerter erwiesen. Zu groß die Zahl der Biker, die Schilder mit Überholverbot, Geschwindigkeitsbegrenzung oder Warnung vor Unfallgefahr allenfalls als Dekoration am Straßenrand wahrnehmen. Auch die 2014 probeweise ein- gezogenen Rüttelstreifen hatten keinen nennenswerten Einfluss auf das Unfallgeschehen und wurden deshalb 2018 wieder entfernt. Wirkung zeigen dagegen die seit 2017 installierten Mittelleitschwellen in dem nur 1.000 Meter langen Abschnitt, auf dem sich die Unfälle seit Jahren häufen. Darüber hinaus ist die gesamte, etwa sieben Kilometer lange Strecke zwischen Kochelsee und Walchensee seit 2015 mit Unterfahrschutz ausgerüstet: Es kam zu keinem tödlichen Unfall mehr, und auch die Zahl der schwer verletzen Biker sank deutlich.

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arp - Arndt Pröhl
Nachdem am Kesselberg Mittelleitschwellen installiert worden waren, ist die Zahl der Unfälle und deren Schwere dort deutlich gesunken (2017 bis 2019).

Viele unfallbegünstigende Schwachstellen im Straßennetz erfordern indes nur wenige Gegenmittel, wie ein Beispiel aus dem Hochsauerlandkreis belegt: Die kurvenreiche L 637 verläuft zwischen Brilon und Büren durch ein Waldgebiet. Auf einem nur 500 Meter langen Abschnitt ereigneten sich binnen drei Jahren insgesamt 14 Karambolagen – sechs davon waren Motorradunfälle –, dabei gab es einen Toten, vier Schwerverletzte und einen Leichtverletzten. Zunächst wurden entsprechende Leittafeln so platziert, dass sie die Kurvenverläufe besser verdeutlichten, was jedoch kaum Wirkung zeigte. Jetzt sind die Fahrspuren von einem durchgehenden Mittelstreifen getrennt, vor Beginn einer Linkskurve Richtung Büren warnt das Warnschild "Gefahrenstelle" (rotgerändertes weißes Dreieck) mit dem Zusatz "Unfallkurve", und zehn flexible rot-weiße Poller unterstreichen deren Verlauf.

Überarbeitung des MVMot-Merkblattes

"Nach Umsetzung der Maßnahmen ereigneten sich hier keine Unfälle mehr", sagt Thomas Schmidt, Chef des Straßenverkehrsamtes im Hochsauerlandkreis. Diese Unfallhäufungsstelle, wie es im Fachjargon heißt, war eine von 15 im Hochsauerlandkreis, die im Zuge einer von der Bezirksregierung Arnsberg initiierten Motorradunfall-Sonderuntersuchung von 2018 auffällig waren. Das Besondere daran: Man hatte rigoros bei der Betrachtung das Lastenheft der sogenannten MVMot abgearbeitet. Das damals schon etwas betagte "Merkblatt zur Verbesserung der Straßeninfrastruktur für Motorradfahrer" von 2007 der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) ist inzwischen gründlichst überarbeitet. Bei der im Sommer 2021 mit reichlich Verspätung präsentierten Überarbeitung des Merkblattes hat es jedoch nicht nur inhaltliche Anpassungen an den Stand von Wissenschaft und Technik gegeben. Vielmehr ist der Anwendungsbereich nun auf alle Straßen innerorts und außerorts ausgedehnt und nicht mehr nur auf typische Motorradstrecken beschränkt. Rolf Frieling, Vorsitzender der Biker Union, hat elf Jahre lang im Redaktionsteam der MVMot mitgearbeitet.

Unfallvermeidung Sicherheitskampagne 2022
Fahrpraxis & Fahrtipps

"Es soll die Arbeit der Unfallkommissionen auch insofern unterstützen, dass die Motorradfahrerverbände mit ihrem spezifischen Know-how in deren Arbeit einzubinden sind", sagt er. Bund, Länder und Kommunen seien jetzt in der Pflicht, die im Merkblatt beschriebenen standardisierten Verfahren anzuwenden und die empfohlenen Maßnahmen auf allen Straßen in ihrem Verantwortungsbereich anzuwenden. Diese neue Verbindlichkeit beruht auf dem Umstand, dass das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur mit dem "Allgemeinen Rundschreiben Straßenbau Nr. 13/2021" vom 6. Mai 2021 den zuständigen obersten Landesbehörden das Merkblatt ausdrücklich zur Anwendung empfiehlt. Was de facto bedeutet: Des Ministers Wunsch ist als eine klare Anweisung zu verstehen. Für die Neuauflage wurden in enger Absprache mit dem Verkehrsministerium zudem mögliche Widersprüche zu anderen geltenden Regelwerken – etwa der Straßenverkehrs-Ordnung – ausgeräumt. "Jetzt kann sich niemand mehr mit diesem Argument herausreden", sagt Rolf Frieling.

Nur gründliche Instandsetzungen sind wirkungsvoll

Das 48 Seiten starke Merkblatt schärft den Blick auf die Straßen mit für Motorradfahrer unfallrelevanten Einflussfaktoren. Angefangen von Hindernissen am Fahrbahnrand wie Reklametafeln, Gitter und Mauern oder Baumstapel, an denen sich ein stürzender Motorradfahrer schwer verletzen kann. Auch die Einsehbarkeit der Strecken spielt eine Rolle: Ist diese in Kurven von Böschungen oder Gestrüpp behindert? Gibt es in Waldgebieten abrupte Wechsel zwischen Licht und Schatten? Taucht die Straße etwa nach einer Kuppe ab – oder ist der Kurvenverlauf nur schwer zu erkennen? All diese Faktoren können Fahrunfälle begünstigen. Wie das verhindert werden kann, dazu gibt es einen umfangreichen Maßnahmenkatalog.

Und was ist bei miserablem Straßenzustand zu unternehmen, wenn Schlaglöcher, Risse, Bitumen-Flickwerk, Spurrillen, Aufwölbungen an deren Rand, Ermüdungsrisse, beschädigtes Bankett oder Fahrbahnabsenkungen die Strecke in eine gefährliche Rüttelpiste verwandelt haben? Da kennt die MVMot – mit Ausnahme eines zeitweisen Tempolimits – nur eine wirkungsvolle Antwort: eine gründliche Instandsetzung. Rein theoretisch gibt es mit der sogenannten Verkehrsschau ein Werkzeug, um marode Straßen aufzuspüren, ehe sie zur gefährlichen Falle und somit ein Fall für die Unfallkommission werden.

In der Praxis kommt die von der Straßenverkehrs-Ordnung alle zwei Jahre vorgeschriebene Präventivmaßnahme eher lax und punktuell zum Einsatz – zu groß der damit verbundene Aufwand in Bezug auf die Anzahl der zu überprüfenden Strecken. Das deutsche Straßennetz hat eine Gesamtlänge von insgesamt 627.000 Kilometern. 92 Prozent davon entfallen auf jene Strecken abseits von Autobahnen und Bundesstraßen, auf denen Motorradfahrer bevorzugt unterwegs sind: Landes- und Staatsstraßen (86.862 km), Kreisstraßen (91.841 km) und Gemeindestraßen (ca. 398.000 km).

Meldebogen vom ifz

Wo staatliche Kontrollmechanismen an ihre Grenzen stoßen, ist privates Engagement gefragt. Das Essener Institut für Zweiradsicherheit (ifz) ermuntert seit Jahren die Biker, Mängel und Schwachstellen auf Straßen zu registrieren. Dazu hat das ifz einen detaillierten Meldebogen entwickelt, den einsatzbereite Motorradfahrer ausfüllen und an das ifz senden können, das diesen an die zuständige Straßenverkehrsbehörde weiterleitet. Noch einfacher geht das Ganze mittlerweile über die kostenlose ifz-App MOTO.

Ende 2020 hat das ifz zudem ein neues Online-Werkzeug namens "Streckenheld" an den Start gebracht. In der interaktiven Karte können regionale Gefahrenstellen wie schlecht einsehbare Kreuzungen, Sichtbehinderungen beim Abbiegen oder Rollsplitt in der Kurve eingetragen werden. Das funktioniert vor der nächsten Ausfahrt zu Hause am Rechner und auch unterwegs via Smartphone-App. "Derzeit sind ungefähr 1.500 Warnmeldungen hinterlegt", sagt ifz-Forschungsleiter Matthias Haasper. Bis zu 5.000 Seitenaufrufe werden inzwischen an Spitzentagen registriert.

Straßenzustandsreport Sicherheitskampagne 2022
In der Biker Union organisierte Motorradfahrer stellen seit fast 20 Jahren sogenannte Bitumen-Rallyes auf die Beine. Mitglieder der rund 60 BU-Stammtische schwärmen bundesweit regelmäßig am Wochenende aus, um lokale Sicherheitsschwachstellen im Straßennetz ausfindig zu machen.

In der Biker Union (BU) organisierte Motorradfahrer stellen seit nunmehr fast 20 Jahren sogenannte Bitumen-Rallyes auf die Beine. Mitglieder der rund 60 BU-Stammtische schwärmen bundesweit regelmäßig am Wochenende aus, um lokale Sicherheitsschwachstellen im Straßennetz ausfindig zu machen. Es werden Daten und Fotos von kritischen Streckenabschnitten gesammelt, in den standardisierten ifz-Meldebögen erfasst und den zuständigen Behörden vor Ort übergeben. "Es geht auch darum, Bewusstsein zu schaffen, bei Straßenreparaturen ungeeignetes Material gar nicht erst einzusetzen", sagt Rolf Frieling. Neben Bitumen können auch scharfkantige Leitplankenpfosten, Rollsplitt, Sichtbehinderungen oder ungesicherte Verkehrsschilder zu Todesfallen für Motorradfahrer werden.

Eine große Umfrage der Marktforschung der Motor Presse Stuttgart (der Verlag, in dem auch MOTORRAD erscheint) zur Verkehrssicherheit 2022 zeigt deutlich, wie ernst die Biker-Gemeinde dieses Thema nimmt und welche Schwerpunkte sie setzt: Einen deutlichen Sicherheitsgewinn sehen 82 Prozent der Befragten, gäbe es weniger Bitumen-Flicken auf den Straßen, und 77 Prozent unterstellen dies beim vermehrten Einsatz geschlossener Leitplanken mit Unterfahrschutz. Als größte Gefahrenquelle für sich selbst sehen 91 Prozent der Befragten den Umstand, dass andere Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit von Motorradfahrern unterschätzen. 70 Prozent sehen als Hauptgefahr das höhere Verletzungsrisiko im Fall eines Unfalls und 67 Prozent – durchaus selbstkritisch – die eigene Selbstüberschätzung.

MOTORRAD sucht gefährliche Motorradstrecken

Gefährliche Leitplanken, mies geflickte Straßen, echte Schildbürgerstreiche: Wo lauern auf euren Lieblingsstrecken echte Gefahren? Auch wir als Redaktion MOTORRAD wollen im Rahmen unserer Sicherheitskampagne "Rücksicht hat Vorfahrt" weitere Impulse für einen möglichst gefahrlosen Spaß auf zwei Rädern setzen. Weshalb wir die bereits bestehenden Initiativen verschiedener Interessenverbände weiter medial begleiten werden, um sie so bestmöglich zu unterstützen. Gerne sammeln wir ab sofort auch eure Eingaben: Wo müssen Ämter und Behörden ran? Gibt es konkrete Straßenabschnitte, wo uns Motorradfahrern Gefahren drohen? Schickt uns diese mit möglichst präzisen Angaben: Straßenbezeichnung mit konkreter Kilometer- und/oder Ortsangabe, dazu eine kurze Schilderung der Gefahrenlage/-situation und einige Angaben zu eurer Person (u.a. Name, Telefon). Kontakt: sicherheitskampagne@motorradonline.de

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