Technik: Fahrdynamik/Sicherheit

Technik: Fahrdynamik/Sicherheit Thema Schwerpunkt

Die Diskussion an den Motorrad-Stammtischen ist so alt wie das Motorrad selbst. Was ist besser: ein hoher oder ein tiefer Schwerpunkt?

Sofort preschen die vor, die den tiefen Schwerpunkt mit leichtem Handling gleichsetzen. Sogar große Motorradhersteller wie BMW argumentierten in diese Richtung wie bei den K-Modellen. Auf den ersten Blick leuchtet ihre Theorie ein. Gesetzt den Fall, man steht neben dem Motorrad, greift den Lenker und schwenkt die Maschine schnell von einer Seite zur anderen, bietet ein tiefer Schwerpunkt den geringsten Widerstand, die Maschine fühlt sich leicht und agil an. Logisch, denn der tiefe Schwerpunkt, also das Massenzentrum aller Fahrzeugbauteile legt bei den Kippbewegungen um die Längsachse (eine gedachte Linie vom vorderen zum hinteren Reifenaufstandspunkt) einen kürzeren Weg zurück als bei einem hohen Schwerpunkt. Nach den einfachen Hebelgesetzen muss der Mensch neben der Maschine bei einem hohen Schwerpunkt einen größeren Anteil an Gewichtskraft abstützen als bei einem niedrigen. Im Stand und beim Rangieren empfindet das der Fahrer als sehr angenehm, weil es sich leicht und stabil anfühlt.

Was passiert aber, wenn die Maschine fährt? Dann gilt das eben durchgespielte Szenario nicht mehr. Der Grund: Das Motorrad wird nicht von einem zweiten, über Lenker und Boden verbundenen System (hier der neben der Maschine stehende Fahrer) in Schräglage versetzt, sondern von dem auf der Maschine sitzenden Fahrer. Und der muss nun gegen die stabilisierenden Kreiselkräfte der Räder arbeiten und diese statt in der Senkrechten in Schräglage rotieren lassen. Wie geht das? Das geschieht zunächst durch den gegenläufig eingeleiteten Lenkimpuls. Heißt: Vor einer Linkskurve wird der Lenker um etwa ein bis zwei Grad nach rechts gedreht, worauf das Motorrad mitsamt Fahrer nach links in Schräglage abkippt. Um diesen Vorgang physikalisch genau zu erklären, könnte man ganze Lehrbücher schreiben. Vereinfacht gilt: Wir stellen das ganze eingangs erwähnte System auf den Kopf und ersetzen den Menschen, der am Lenker zieht, durch eine Seitenführungskraft am Vorderrad. Diese entsteht, sobald das Motorrad eine Kurve fährt. Und sie hat es nun tatsächlich leichter, den Schwerpunkt aus der Senkrechten zu bringen, je höher dieser liegt.

Ein weiteres Phänomen nennt man Präzession und lässt sich wunderschön an einer ausgebauten Fahrradfelge ausprobieren: Einfach ein sich drehendes Rad an der Achse halten und nach rechts „lenken“, sofort wirkt eine starke Kraft und kippt die sich drehende Felge nach links. Diese Kraft verstärkt das Kippen in Schräglage. Dem Ganzen wirkt wiederum die Massenträgheit der Maschine entgegen und natürlich auch die Kreiselkräfte des rotierenden Hinterrads und die Motorbauteile wie Kurbelwelle, Kupplung et cetera. Eine unendliche Geschichte, aus der sich selbst rennomierte Fachbuchautoren wie Jürgen Stoffregen mit seinem Klassiker „Motorradtechnik“ tunlichst heraushalten. Wir betrachten einfach den Schwerpunkt. Nehmen wir einen Stapel von zehn Bierkisten – beim Probieren bitte Flaschen weglassen – und wackeln an der untersten, so gerät dieser schneller ins Wanken, als ein Stapel mit nur zwei Kisten, oder?

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Wenn der Schwerpunkt zu hoch liegt

Die Maschine fällt dann zu stark in Schräglage hinein. Der sozusagen umfallende Schwerpunkt muss ja wieder abgebremst werden. Man fühlt das beispielsweise bei einer vollgetankten Reiseenduro. Sensible Motorradfahrer bemerken, wie sie fast unbewusst in Schräglage nochmals leicht gegenlenken, um nicht noch schräger zu fahren. Das kann einem bei zu hohem Schwerpunkt mit einer nervigen Kippeligkeit die Linie verhauen. Im MOTORRAD-Top-Test-Parcours mit seiner Slalom-Strecke sind also nur die Maschinen wirklich schnell, die in Bezug auf die Schwerpunkthöhe ausgewogen abgestimmt sind. Bis jetzt haben wir die Reifenbreite bei der Betrachtung außer Acht gelassen. Aber je nach Schwerpunkthöhe sorgt auch sie für Einflüsse. Speziell breit bereifte Maschinen benötigen durch die zur Kurveninnenseite verlagerte Reifenaufstandsfläche bei gleicher Geschwindigkeit und gleichem Kurvenradius mehr Schräglage, als rein rechnerisch notwendig ist. Denn theoretisch werden bei einer Seitenkraft von einem G, also dem Eigengewicht von Motorrad und Fahrer, nur 45 Grad Schräglage benötigt (theoretisch erforderliche Schräglage bei Reifenbreite null).

Bei der tatsächlich benötigten Schräglage der Maschine kommt der Winkel, der durch Radaufstandspunkt und Schwerpunkt führt, hinzu. Je höher der Schwerpunkt, desto geringer die zusätzlich nötige Schräglage. Oder anders herum: Im Top-Test-Parcours kann schneller gefahren werden, da dort immer die maximal mögliche Schräglage ausgenutzt wird. Im Rennsport ein wichtiger Faktor. Durch unterschiedliche Schwerpunkthöhen (dabei wird meist die ganze Maschine, manchmal auch nur der Motor angehoben oder abgesenkt) wird das Motorrad auf die jeweilige Streckenführung und Kurvenverläufe abgestimmt. Tendenziell wird bei engen Strecken mit lang gezogenen Kurven ein höherer Schwerpunkt bevorzugt (weniger Schräglage notwendig, mehr Grip am Kurvenausgang) während er bei schnellen Strecken abgesenkt wird (geringere Wheelie-Neigung bei Volllastbeschleunigungen, bessere Bremsstabilität, stabileres Fahrverhalten). Kein Licht ohne Schatten. Der hohe Massenschwerpunkt kann auch Auslöser für Fahrwerksunruhen aller Art sein. Bei hohem Tempo genügt schon eine leichte ungewollte Lenkbewegung, zum Beispiel durch Luftturbulenzen, um den hohen Schwerpunkt ins Wanken und das Motorrad ins Pendeln zu bringen. Auch Bodenwellen in Schräglage können eine Instabilität verursachen.

In der Praxis stellen sich solche Probleme ein, wenn beispielweise das Fahrzeugheck durch Höherlegung-Kits extrem angehoben wird, weil sich zum sensibel hohen Schwerpunkt noch eine extrem nervöse Lenkgeometrie (steiler Lenkkopf, kurzer Nachlauf) addiert. Aber nicht nur in Sachen Fahrstabilität, sondern auch beim Beschleunigen und Bremsen sind der Schwerpunkthöhe Grenzen gesetzt. Der Grund: Durch den langen Hebelarm des hohen Schwerpunkts erhöht sich die dynamische Achslastverteilung, was beim Gasgeben schnell zu einem Wheelie, beim Bremsen zu einem abhebenden Hinterrad mit Überschlagsgefahr führen kann. Weshalb die Wahl der Schwerpunkthöhe ein je nach Einsatzzweck und Entwicklungsziel ausgerichteter Kompromiss sein muss.

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