Die Welt ist eine Kurve

Die Welt ist eine Kurve Vier Stunden Vorsprung

Es gibt nur wenig Gründe, sich in aller Herrgottsfrühe freiwillig aus dem Bett zu quälen. MOTORRAD-Redakteur Werner »Mini« Koch hat einen entdeckt. Der grandiose Ausritt durchs noch leergefegte Kurvenrevier.

Ich geb’s ja zu. Die ganze Idee entstand vor vielen Jahren aus der Not heraus. Als Motorradmechaniker über die Sommermonate ziemlich im Stress, blieb mir nur eins: Raus, wenn der Hahn kräht, rauf auf die Kiste und am Quirl gedreht. Wenn Stunden später die restliche Welt verpennt ins Badezimmer wankte, stand meine Mühle schon zum zweiten Mal an der Tanke. Ein paar hundert Kilometer runtergerissen, ohne Stau, ohne Blitzer, ohne gar nix.Dann kamen die »besseren« Zeiten, und ich wankte jeden Morgen mit der restlichen Welt ins Badezimmer, stocherte auf dem Bike durch ätzende Blechlawinen, frühstückte, wenn alle frühstückten - und fuhr Motorrad, wenn alle Motorrad fuhren. Gräslich war’s. Doch letzten Sommer war plötzlich wieder mal so ein Tag. Keine Ahnung weshalb. Auf jeden Fall war ich beim ersten Pieps glockenhellwach. Klick - Kaffeemaschine angeworfen, Wasser ins Gesicht, Rolladen hoch - Kuhnacht. Aber lange kann’s nicht mehr dauern, die Vögel randalieren bereits im Geäst. Der erste Vogel fängt den dicksten Wurm, behauptet ein Sprichwort. Also gerade noch Zeit für einen kleinen Bissen, einen Schluck Kaffee, der Rest kommt in die Kanne und die in den Rucksack. Schlüssel, wo sind die Schlüssel? Immer dasselbe Theater. Da! Glück gehabt! Jetzt aber rein in die Klamotten und auf Zehenspitzen durchs Treppenhaus gepirscht. Das Garagentor ächzt und knarrt, peinlich, hat sich bestimmt ein Tropfen Öl verklemmt. Egal, Schlüssel rum, zünden und weg hier. Ampeln ohne Licht, Sraßen ohne Autos, keine Seele unterwegs. In Nullkommanichts bleibt Stuttgart im dampfigen Kessel unter mir zurück. Eigentlich schön, so eine Stadt frühmorgens. In ein paar Stunden schnürt sie dir wieder den Hals zu, erdrosselt dich, mit ihrer unablässigen Geschäftigkeit. Ballernd schwingt die BMW durch den verschlafenen Sommermorgen. Tübingen auf kleinsten Pfaden weiträumig umschifft, bauen sich im fahlen Licht der Dämmerung die steilen Flanken der Schwäbischen Alb auf. Ein paar Frühaufsteher – oder Spätheimkehrer? – kreuzen den Weg, aber noch ehe das hektische Treiben seinen Lauf nimmt, erklimmt der Einzylinder über das schwindelerregende Kurvenkarussell die Alb, taucht ab in kühle Täler, Nebelschwaden wabern noch über glucksenden Bächen und Flüssen. Unaufhaltsam schiebt sich die rote Kugel hinter dunklen Wolkenvorhängen in Position. Da hinten also liegt das Morgenland. Und warum leben wir, obwohl ‘s jetzt Morgen wird, im Abendland? Die hoch philosophische Frage bleibt vorerst unbeantwortet, jetzt dampft erst mal der Kaffee in der Tasse. Wie lange habe ich das nicht mehr gemacht? In der frühen Sonne auf dem Holzstapel hocken, noch nicht warm, aber auch nicht mehr kalt, blinzelnde Strahlen im Gesicht und einen starken Kaffee geniesen. Die letzte Motorradtour mit wildem Camping? Mmmhhh, liegt Monde zurück. Schade eigentlich. Dann der Gedanke, der immer kommt, wenn’s Leben klasse ist und den wohl jeder kennt: Müsste man wieder viel öfter machen. Ja, ja, früher war eben alles besser, gell? Um einem Anfall depressiver Nostalgie zuvorzukommen, hilft nur eins: fahren, was das Zeug hält. Mit Kaffee und zweitem Frühstück im Bauch geht’s gut voran. Die Schwünge werden schwungvoller, die Schräglagen schräger, die Lust lustvoller, und auf einmal läuft alles wie geschmiert. Nichts mehr im Kopf, das dich drückt. Weltpolitik und Tageskonferenzen, Termine und Texte, Zahnarztbesuch, Steuererklärung - alles weg. Jetzt geht’s um die echten Dinge im Leben. Ein einziger Tanz von Kurve zu Kurve, Licht- und Schattenspiele wie im Traum, die letzten, gerade aufsteigenden Nebelreste, Höhenzüge im gleißenden Licht der Sonnenstrahlen, die sich inzwischen wohlig unters Leder schleichen. Das ist Leben. Das schärft die Sinne. Nasse Flecken, die man vorher riecht, schottriger Steinschlag, über Nacht vom Fels gerieselt, den man vorher ahnt, eine hinterhältige Kurve, die man schon von Weitem an der Schneise im Wald erkennt. Ist der Kopf erst frei, funktioniert auch wieder der Instinkt, den das tagtägliche Geflimmer der Bildschirme und die Mega-Information bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Und wo der Instinkt nicht reicht, macht’s die Erfahrung. Rehe am Waldrand, deren Schatten gerade noch im letzten Moment auftauchen, Milchlaster, die auf der Ideallinie versuchen, die Zeit Sigmaringen-Tübingen heute endgültig zu pulverisieren. Oder dieser dahinzuckelnde Campingbus, der schlagartig alle Koordinationsfähigkeit im Gehirns abruft, sonst würde die BMW quer durch sein Mobiliar brechen. Quietsch, sauber hinter der Stoßstange platziert. So muss es sein. Zwischen den Abziehbildern der großen Reiseabenteuer »Großglockner« und »Insel Sylt« klebt die Frage »Heute schon gelebt?« Danke ja, ich schon.

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