Enduro-Wege in Süddeutschland
Der schwäbische Alb-Traum

Schottersträßchen, Waldwege, Bachdurchfahrten – was wäre, wenn wir 48 Stunden lang von keinem Verbotsschild eingebremst würden? Ein fantastischer Trip von Stuttgart zum Bodensee.

Der schwäbische Alb-Traum
Foto: fact

Hart am Wegesrand drückt sich der Traktor entlang, der Bauersmann winkt freundlich aus seiner Kabine: »Fahr zu, jetzt hosch Platz g’nug.« Schwups, drückt sich der Endurist an den riesigen Reifen elegant vorbei, hebt die Hand zum Gruß, »danke schön«, und brummt in einer kleinen Staubwolke davon. Wer hätte es sich träumen lassen, dass die Wanderfraktion der Grobstöller mal quer durch Süddeutschland kreuzen darf, ohne von einer Salve Schrotkugeln erlegt zu werden?
Auslöser für das freudige Ereignis waren traumhafte Querelen im Bundestag:
Verteidigungsminister Struck war wegen illegaler Waffenlieferung ans Fürstentum Lichtenstein – es soll sich um hundert scharf geschliffene NVA-Kantine-Messer gehandelt haben – in die Schusslinie geraten und zum Rücktritt gezwungen worden. Da das Staatssäckel derzeit nichts mehr hergibt, fand Regierungschef Schröder seinen Ex-Minister nicht pekuniär, sondern materiell ab: Zwanzig ausgemusterte und voll getankte 250er-Bundeswehr-Maicos mussten dem Motorradfreund Struck reichen. Weil aber auch der mit Gelände-Motorrädern ohne Gelände nix anfangen kann, änderte Verkehrskollege Stolpe netterweise schnell noch das germanische Wegenutzungsrecht. Ab sofort darf Struck Schotterwege, breiter als 1.32,5 Meter, mit seinen Maicos beackern.
Und was für Ex-Minister gilt, gilt seit dem 1. April 2003 auch für den gemeinen Bürger. Aaah, was für ein Traum! Die Grünen nutzten die Anarcho-Chance und forderten zusätzlich die Wiederaufforstung sämtlicher Golf- und Tennisplätze. Jetzt bloß nicht aufwachen! Rauf auf die Kiste, mitfahren, solange der Traum hält.
Noch im Schlaf geht es los, auf die holprig-virtuelle Enduro-Passage Stuttgart–Bodensee. Ein Weg, der ein halbes Dutzend Mundart-Regionen inklusive der zugehörigen Landschaft durchquert. Struck sei Dank, darf der Endurist gleich hinterm Ortsschild auf seiner zierlichen Beta Alp 200 ins Gebüsch abzweigen. Mit 120 Kilogramm Gewicht und 15 flüsternden PS genau das richtige Gerät fürs stille Endurowandern ohne competitiven Hintergedanken. Brüllende XR-Kracher und schrille Crosser haben hier nichts zu suchen, Genuss ist angesagt, das Tempo gerade mal ein paar Kurbelumdrehungen schneller als mit dem Mountainbike.

Gespannt taucht das Mensch-Maschinen-Duo in die dunklen, modrigen
Täler hinter Waldenbuch ein und erblickt lehmverschmiert und grinsend erst auf den riesigen Streuobstwiesen kurz vor Tübingen wieder die Sonne. Dort, wo der rezente schwäbische Most gedeiht und der Winzer nebenan den trockenen Wein von den Rebstöcken pflückt, steigt die Schwäbische Alb in den Himmel. Eine wilde Landschaft mit höchst eigenwilliger Bevölkerung. »Rau, aber herzlich«, so definieren sich die Älbler selbst. »Verbohrt und stur« sagen die anderen, die unterhalb des Albtraufs wohnen – »d’Städdr«. Mit den Sonntagsausflüglern aus Stuttgart und Tübingen könnten sie ja leben, aber was die rauen Seelen in Rage bringt, sie also »uff d’Sau naus könndet«, wie der Wirt im Laucherttal zornig berichtet, sind die Büttel, die abkommandierten Polizisten aus Tübingen, die dem anarchischen Treiben auf der kargen Albhochfläche Einhalt gebieten sollen.
Hier oben hatte der sanfte Offroader auch ohne Traumeinlagen bereits leichtes Spiel, denn auf der Alb juckt’s keinen Hund, wenn mit dem Motorrädle auf den kleinen Schotterstraßen umhergondelt wird. Oft sind es winzige »Promillesträßle«, die tags von Bauern und nachts gelegentlich zur illegalen Heimfahrt genutzt werden. Kein Wegweiser, kein Schild, kein gar nix – wer nicht weiß, wo’s langgeht, findet nie nach Hause. Mitunter kommt sogar der eine oder andere Jung-Crosser ohne Licht, Auspuff und Nummernschild vorbei – egal! Wir sind auf der Alb, und d’Alb g’hört uns. Basta!
Mit etwas Gespür und einem Blick für die Region finden sich kilometerlange Enduro-Pfade. Wer die bis zu tausend Meter hohen Aussichtspunkte unter die Räder nimmt, genießt den Blick weit
über das Bodensee-Hinterland bis in die Schweizer Alpen. Ein echter Alb-Traum, der bei geduldsamer Erforschung asphaltfreier Pfade für jede Menge Überraschungen gut ist. Denn die auf den ersten Blick eintönige Hochfläche hat mehr Kalkfelsen und schroffe, tiefe Schluchten zu bieten, als es der eilige Reisende auf der Bundesstraße wahrnimmt.
Der Schnitt verläuft jäh von West nach Ost: die Donau. Hier stürzt die Albfläche steil hinunter, der Endurist fädelt sich sanft über das vergessene Schmeiental in die Schlucht der jungen Donau ein. Unter der Woche hat der Tourismus hier Pause. Ideal für den motorisierten Wandersmann, Hektik gegen Muße zu tauschen. Unzählige Seitentäler und Pass-Sträßchen mit fast alpinem Charakter schwingen sich links und rechts aus dem romantischen Donautal bergauf zu Schwindel erregenden
Kletterfelsen und rustikalen Schlössern und Burgen. Krönender Abschluss der Kletterpartie: das wohl schönste Wirtshaus der Umgebung. Das Jägerhaus bei Beuron, unter imposanten Felsen gelegen und nur über Schotterwege oder gar die eiskalte Furt durch die Donau zu erreichen.

Bei Sonnenaufgang hangelt sich der Wandersmann auf derb zerfurchten Pass-Sträßchen und glitschigen Kalkfelsen hinauf zur südlichen Seite der Donau. In den Rasten stehend, mit elegantem Hüftschwung bugsiert der Reiter das Ross durch den feuchten, dunklen Hohlweg, krabbelt schwungvoll über umgestürzte Baumstämme und stiefelt schnurstracks durch gurgelnde Bäche. Endurowandern eben. Hell blinzelt bereits der Planet durch die Wolkenlücken, der Höhenzug südlich der Donau und damit die Grenze zum badischen Teil der Reise ist erklommen. Ein konträres Völkchen zum derben Älbler. Nicht minder trinkfest, aber mit sonnigem Gemüt und redseliger Zunge.
Auf der 860 Meter hohen Witthoh oberhalb von Tuttlingen breitet sich bei klarem Föhnwetter der gigantische Blick über die Vulkanhügel des Hegaus aus, dahinter, aufgespannt wie eine Luis-Trenker-Motivtapete, die Alpenkette. Im Osten schiebt sich die Sonne durch den Dunst, im Süden ist ein erster kleiner Zipfel des Bodensees auszumachen. Der steinige Weg ist leicht zu finden, jedes Tal strebt nach Süden, wo sich der Rhein an der Schweizer Grenze entlangwindet.
Der Traumwanderer entschließt sich für das Tal der Stockacher Aach, die nach unzähligen Schlaufen und Windungen ihren Weg über Nenzingen nach Wahlwies findet. Von Schotterwegen begleitet und bereits vor dem 1. April legal befahrbar. Erst kurz vor dem Bodensee heißt es flüchten: Strandbäder, Surfer, Sonnenanbeter – nix wie weg, hinauf zum Hohentwiel, der massigen Festung im Hegau. Im ersten Gang müht sich die kleine 200er am langen, steilen Pfad aus grobem Pflasterstein, verliert beängstigend an Leistung, Glühzündungen nageln im Zylinder, der Motor hämmert und klingelt, immer heftiger, immer lauter. Das Klingeln geht ins Kreischen über, man möchte sich vor Schmerzen die Ohren zuhalten – patsch, aus. Der Wecker liegt verbogen am Boden, ich schweißgebadet im Bett, davor die Enduro-Klamotten, Stiefel, Rucksack und die Landkarte »Schwäbische Alb–Bodensee«. Der echte Traum kann beginnen.

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Enduros an die Macht

Natürlich ist diese Geschichte zumindest teilweise frei erfunden. Denn Schotterwege sind in Deutschland entweder
asphaltiert – oder gesperrt. Wer sich aufs Endurowandern einlässt, muss damit leben, dass er nur mit guter Landkarte und viel Fragerei eine abenteuerliche Route findet, um sich asphaltfrei durchs Land zu mogeln. Keine Chance, der Lust zu frönen, besteht im Umfeld von Großstädten und Ballungszentren. Anders sieht es dagegen in entlegenen Regionen aus, dort, wo sich Hase und Fuchs gute Nacht sagen und es für Stadtflüchtlinge zu weit und für Tourismus in größerem Stil zu unattraktiv ist.
Offroad-Spaß muss übrigens nicht nur für Enduristen gelten: Wer nicht gerade Fahranfänger ist und moderat mit Gas und Bremse agiert, kann die meisten Schotterwege auch mit Allround-Straßenmaschinen vom Schlag einer Suzuki GS 500 oder Yamaha XJ 600 locker meistern. Viel wichtiger als Stollen sind Rücksicht und gezügelte Fahrweise, denn wenn die wenigen Schottersträßchen nach einer Motorradsaison einer Crosspiste gleichen, ist die Sperrung programmiert. Zudem bergen die Strecken jede Menge Überraschungen in Form tiefer Querrillen oder mächtiger Landmaschinen. Und bitte legal bleiben: Das Befahren eines Waldweges mit dem runden Verbotsschild (Verbot für Fahr-
zeuge aller Art) wird streng geahndet. Allerdings ist das Schieben von Krafträdern hier erlaubt. Na denn.

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MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023