Die Hausstrecke ein heiliges Privateigentum, das man nur mit Freunden teilt. Die Hausstrecke immer dasselbe. Wirklich? Ein Report über die Suche nach dem Reiz des immer Gleichen.
Die Hausstrecke ein heiliges Privateigentum, das man nur mit Freunden teilt. Die Hausstrecke immer dasselbe. Wirklich? Ein Report über die Suche nach dem Reiz des immer Gleichen.
Leicht ansteigend fasst die Hauptstraße einen Hügel ein. Eine hohe Mauer wirft ein leises Röhren kunstvoll gebrochen zurück. Die Kawasaki läuft sich warm. Dann schlängelt sich das Asphaltband in einen schwungvoll gezogenen Links-bogen. Ortsausgang Warmbronn: Tempohemmungen fallen, unwiderstehlich reißt der Vierzylinder an, untermalt fauchend seine Gewalt. Der Blick des Fahrers gewinnt an Weite, das Motorrad an Eleganz der schrägen Lage. Volle Kraft voraus. Plötzlich dieser Kanaldeckel. Stellt sich einfach in den Weg, teilt die Fahrbahn in zwei ungleiche Streifen. Und er teilt die Fahrer, die ihn passieren in zwei Gruppen: Die einen straucheln, versuchen jede Berührung mit seiner rutschigen Oberfläche zu vermeiden und navigieren in Wellenlinien ihr Bike links am Hindernis vorbei. Die anderen hingegen begrüßen ihn mit einem vertrauten »Hallo, wie gehts?«, umkurven ihn auf dem schmalen, rechten Weg und sausen ungerührt bei voller Beschleunigung durchs Nadelöhr. Treffen so auch bei der folgenden Linkskurve den richtigen Einlenkpunkt wie selbstverständlich. In solch messerscharfen Linien, die das Sperrige, Störende gefügig machen, beschreibt sich jahre-, wenn nicht gar jahrzehntelange Erfahrung. Egal, ob sich dieser Kanaldeckel in der Nähe von Anklam findet, direkt hinter Bersenbrück oder im Umkreis von Celle. Fahren auf der Hausstrecke alle machens, jeder kennts. Worin bloß liegt der Reiz, das schon Bekannte immer und immer wieder neu abzufahren? Ist dasselbe wirklich stets das Gleiche? Darüber dachte schon vor rund 2500 Jahren der Grieche Herakleitos von Ephesos nach. Der Philosoph aus der Epoche der Vorsokratiker verfasste eine Lehre über den Fluss aller Dinge. »Panta rhei alles fließt. Wir steigen in den-selben Fluss und doch nicht denselben; wir sind es und wir sind es nicht«, erklärt er in viel sagenden Antithesen, und meint damit zunächst etwas ziemlich Banales: Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und immer wieder anderes Wasser zu. Zur tieferen Bedeutung dieses Lehrsatzes könnte man in stunden- oder lebenslange Debatten hineingleiten. Für den Hausgebrauch reicht es, die Hausstrecke als einen Fluss zu begreifen, in dem sich alle Dinge immer wieder neu ereignen. Wie dieser echte Fluss stets ein anderes Ereignis ist, der mit der Straße um die Wette mäandert und den landschaftsverliebten Cagiva-Fahrer mal funkelnd, mal stumpf grau grüßt. Logisch, wer seine Feierabend- oder Wochenendrunde regelmäßig abspult, kennt nach einiger Zeit jede Bodenwelle, jeden Baum und eben auch jeden Kanaldeckel mit Vornamen. Für jemanden, der statt auf der gewohnten Kawasaki mit einer Ducati, Honda oder irgendeinem anderen Motorrad am Kanaldeckel vorbeivisiert, ist dieses Hindernis schon ein komplett anderes. Ebenso gestaltet sich die Anfahrt auf den Kanaldeckel für einen, der am Tag vorher seinen Job verlor, anders als für einen, der frisch verliebt ist. Und außerdem: Der Reiz, die Hausstrecke zu fahren, besteht vielleicht gerade darin, das immer Gleiche zu erleben. Ohne ständiges Kartenlesen und ohne Entdeckerdrang geht es letztlich nur um eines: fahren, fahren, fahren. Dabei auf anregende Art entspannen und sich seinen Rhythmus durch nichts kaputt hauen lassen. Sich auf das Wesentliche konzentrieren: Gas geben, virtuos durchs Getriebe klimpern, anbremsen, anwinkeln, durch die Kurven gleiten auf längst schon erfahrenen Linien.Wer noch keine Hausstrecke sein Eigen nennen kann, sollte den Kennern und Umrundern aller Kanaldeckel folgen. Hinaus zu herrlichen Kurvenparks, zu landschaftlich schönen Aussichtspunkten oder zu Treffs, die mit karger Konzentration auf die Motorräder und sich selbst locken. Meist liegt an diesen Plätzen die Keimzelle einer künftigen Hausstrecke. Da ist diese wunderschöne, kitschige Burg bei Hechingen oder der monumentale Felsen im Donautal, denen im Vorbeifahren zuerst nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Mit jedem weiteren Mal wird der Ort vertrauter. Gibt Orientierung. Nachzutragen sei, dass es dasselbe Bau- oder Naturdenkmal auch in der Umgebung von Detmold und Quedlinburg sowie bei Strümpfelbach und Zittau gibt.Panta rhei alles fließt. Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht...Hausstrecke ist Heimat. Entweder entdeckt der Fahrer auf dem Motorrad die ihm angestammte Gegend neu, oder er fährt sich als Zugezogener in das Land mit seinen schönen Seiten regelrecht hinein. Den Lenker der Suzuki in der Händen, Tachometer, Straßenband sowie Landschaft im Blickfeld, Motorvibrationen im ganzen Körper im Kopf verbindet er Distanzen, ortet Himmelsrichtungen und zeichnet sich eine imaginäre Land-karte, entwickelt sein inneres Navigationssystem. Indem er die Hausstrecke nach und nach zusammensucht oder einfach nur findet, manchmal wegen einer Umleitung gezwungenermaßen entdeckt. So lagern sich an die ursprüngliche Keimzelle weitere Streckenteile an. Sobald die Hausstrecke ihre Form und Länge hat, passend zum Freizeitkontingent ihres Entdeckers, ergeben sich auch ganz schlichte, sachliche Gründe, die Veränderun-gen im vermeintlich Gleichen aufmerksam zu beobachten. Die Beziehung zur Hausstrecke will, wie jede andere, gepflegt sein, wenn sie ihre besondere Qualität behalten soll. Das Beispiel des zeitknappen Unternehmers, der nach langer Abstinenz auf seiner einstigen Hausstrecke zwei Kurvenkombinationen verwechselte und deshalb seine BMW an einer Felswand verschrottete, ist kein erfundenes zum Glück ist ihm selbst dabei nichts passiert. So bequem wie der wohnzimmerliche Fernsehsessel ist die Hausstrecke nämlich nicht. Der Fahrer erlebt sie jedes Mal neu, und es muss nicht gleich eine ganze verwechselte Kurvenkombination sein, die einen Tropfen Verwirrung ins Vertraute mischt. Da reichen schon ein paar Glassplitter auf der Fahrbahn, ein wenig Rollsplitt oder frisch aufgequollenes Bitumen. Nicht zu vergessen das Wechselspiel der Jahreszeiten. Im Frühjahr bei der ersten Saisonausfahrt versperren noch keine wuchernden Pflanzen am Wegrand die Sicht auf diese lang gezogene, so beliebte Linksskurve, während im Sommer an genau dieser Stelle zusätzlich noch ein überbreites Wohnwagengespann einem die einstudierte Schräglagen-Kür vereitelt. Im Herbst heißts doppelt aufgepasst, denn die nass-fauligen Blätter auf dem eigentlich per-fekten Asphalt verhelfen Mensch und Maschine bei zu flotter Kurvenfahrt zu einer atemberaubenden Schräge allerdings nur für einen kurzen Augenblick, der gleichzeitig das unfrei-willige Saisonende noch vor dem Winter einleitet.Panta rhei alles fließt. Wir steigen in denselben Fluss und...Dennoch reizt es, sich in einen fahrphysikalischen Grenzgänger zu verwandeln. Und zum Testfahrer in eigener Sache: der neue Reifen, die getauschten Gabelfedern, das vom sportlich ambitionierten Fahrer empfohlene Fahrwerks-Set-up für die Yamaha. Probieren geht eben über studieren.Meine Hausstrecke, mein Motorrad beide bekannt wie aus dem Effeff. Die Sensibilität für Strecke und Maschine ist hier besonders geschult. Besonders sensibel ist zudem dieser Blitzkasten am Ortseingang von Balingen oder wo sonst er auch stehen mag. Was aber, wenn bei der Feierabendrunde plötzlich statt des starren Überwachungsgeräts zwei Unifor-mierte aus Fleisch und Blut mit weit reichender Laserpistole postiert sind? Hausstrecke, immer dasselbe? Wie langweilig? Ach, wärs diesmal nur so gewesen.Aber was solls? Der Weg ist das Ziel diese abgegriffene Weisheit trifft ganz bestimmt zu, wenn der Weg die Haus-strecke ist. Obwohl, ganz ziellos zu sein fühlt sich komisch an. Irgendwohin sollte es schon gehen. Da böte sich dieses nette Ausflugslokal bei Hayingen an. Der Mittagstisch dort ist phänomenal. Schließlich ist doch nichts schöner, als sich für etwas zu belohnen, das ohnehin schon Spaß macht. Einmal in der Woche sich was gönnen, das ist keine Sünde. Die Kurven gut genommen, der Motor hat seine Drehzahlen bekommen, und jetzt klebt die Lederkombi noch an der verschwitzen Haut. »Eine große Apfelschorle«, ruft der Fahrer der Bedienung zu. Die nickt, weiß Bescheid und legt gleich die Menükarte auf den Tisch. Geräucherte Forelle mit Salat und Brot, eine gute Wahl. So wie immer. Immer dasselbe. Nach dem Fisch den hausgemachten Apfelstrudel und den obligatorischen Kaffee. Mit aufgeschäumter Milch. So wie immer. Und vor dem Losfahren eine, dann noch eine Zigarette. Schmeckt eigentlich auch ganz gut auf der heimischen Terrasse, aber eben nicht so wie in diesem einen Ausflugs-lokal. Weil es auf der Hausstrecke liegt. Inszenierter Genuss. Immer dasselbe und doch jedesmal gut.Keinem Statistiker wird es je gelingen, alle Hausstrecken Deutschlands zusammenzuzählen. Vielleicht sind es einige hundert auf den ersten, oberflächlichen Blick. Eher aber sind es hunderttausende, denn jeder Motorradfahrer bastelt sich mühevoll seine persönlichen Lieblingsstraßen zur Hausstrecke zusammen. Dem einen geht es nur um die 100 Meter vor dem Vorderrad, der andere braucht den Blick in die Weite selbst wenn die Strecke nur öde geradeaus verläuft. Aber genau diese unterschiedlichen Fahrer treffen irgendwo aufeinander. Vielleicht am Glemseck bei Leonberg, wo regelmäßig ganze Biker-Heerscharen auflaufen, vielmehr auffahren. Meist ist es irgendein Aussichtspunkt, ein großer Parkplatz mit einer Imbissbude oder irgendetwas anderes, was die Motorradfahrer wie von magischer Hand anzieht. Obwohl fast jeder Biker seine Favoritenrunde als Geheimtipp handelt, sind diese populären Treffpunkte unauflöslich in die persönliche Streckenführung eingewoben. An diesen Orten finden Hausstreckenfahrer, was in der Alltagswelt schon eine Seltenheit ist: ein spontanes, freundliches Gespräch zwischen Leuten, die sich vorher nicht kannten. Ein kleiner Technikplausch hier, Tipps für die Weiterfahrt dort. Der Mensch ein geselliges Wesen, als den ihn die alten Griechen schon ohne Motorrad erkannten. Der manchmal den großen Auftritt sucht. Die Rennfahrer-Replika-Garnitur als Kostüm für die Showbühne. Ein Wheelie, Stoppie oder Burnout als Manegennummer für die Zuschauer bei ihnen ebenso gerne genommen: ein Misslingen der gebotenen Darstellung. Ebenfalls narrensicherer Blickfang ist der chromblitzende Umbau als rollendes Expositionsstück. Bei den Bikertreffs kann sich der Posierende sicher sein: Inmitten des Hausstreckenlabyrinths findet er sein Publikum für jede Form von Aufführung. Dort gibts eigentlich immer dasselbe. Rumstehen, gucken, angeguckt werden, reden, fragen. Nie langweilig.Panta rhei alles fließt. Wir steigen...Wir steigen auf unser Motorrad. Vielleicht nach Feierabend, vielleicht am Wochenende. Es ist ein Naked Bike, ein Hub-raumriese mit viel Leistung. Genau das Richtige für den Hausstreckengebrauch. Zweizylinder, Vierzylinder, egal. Bandit, Monster oder Raptor; XJR, ZRX oder CB nicht dieselben Bikes, und doch das gleiche Erlebnis. Wir steigen auf unser Motorrad. »Heute Hausstrecke« so die Ansage. Als Motorradfahrer sind wir nicht allein, haben dort unsere Heimat und garantiert Fahrspaß. Ist immer dasselbe. Und das ist gut so.