Istanbul
Abenteuer Bosporus

Wer sich auf Istanbul einlässt, steht unmittelbar an der knisternden Nahtstelle zweier Kontinente. In der Stadt an der Meerenge des Goldenen Horns trennen sich Asien und Europa.

Früher Morgen am Bosporus. Bedächtig steigen auf der anderen Seite der Meerenge die Konturen Asiens aus dem Dunst. Ungezählte bleistiftspitze Minarette bohren sich durch den milchigen Nebel, der wie der Schleier einer Haremsdame über den Hügeln hängt. Gleich einem Geisterschiff vor dem ersten Tageslicht gleitet lautlos ein riesiger Frachter über die leicht gekräuselte Meeresoberfläche. Extra früh war ich aufgestanden, um mit der Honda hinunter ins Viertel Besiktas zu fahren und die noch schlaftrunkene Stadt zu genießen. Istanbul in Ruhe, ein seltenes Phänomen. Als ich nur eine Stunde später zurück in den Stadtteil Eminönü fahren will, ist der steinerne Drache bereits zum Leben erwacht. Binnen einer halben Stunde wird Istanbul zum Urvieh, zum lebenden Ungetüm, zum Wirtstier für zwölf Millionen Menschen. Schätzungen gehen sogar bis 15 Millionen. Niemand weiß, wie viel auf der Suche nach Arbeit unangemeldet in der Stadt hausen. Die Hauptschlagadern dieses Ungeheuers sind aus Asphalt. Wie Blutkörperchen drängen sich darauf die Autokolonnen in Zentimeterabständen zum Pulsschlag der Ampelschaltungen. Mehr stehend als fahrend und begleitet von einem ewigen Hupkonzert. Allen voran ein Heer von Taxis. Deren Fahrer die Maße der gelben Blechbüchsen offenbar so gut kennen wie ihre eigene Haut. Ich reihe mich ein, lasse die Africa Twin mitschwimmen. Über das Goldene Horn und dann mitten hinein in den alten Stadtteil Sultanahmet. Endlich wird es etwas ruhiger. Hier, wo die letzten zweitausend Jahre der Geschichte Istanbuls in steinernen Monumenten manifestiert sind. Vieles aus Zeiten, in denen die Hauptstadt noch Konstantinopel hieß. Benannt nach dem römischen Kaiser Konstantin, der im vierten Jahrhundert aus der einfachen Siedlung Byzanz eine mächtige Metropole werden ließ. Über elf Jahrhunderte trug die Stadt seinen Namen. Bis im fünfzehnten Jahrhundert die Osmanen als neue Herrscher einfielen und sie Istanbul tauften.Erstes Ziel an diesem Morgen ist ein Bauwerk aus dieser Zeit: die Sultanahmet Moschee, die Blaue Moschee. Weltberühmt geworden, weil Ihr Innenraum mit tausenden blau ornamentierter Fliesen ausgekleidet ist und sie die einzige Moschee in der Türkei mit sagenhaften sechs Minaretten ist. Von ihrem Ausgang geht es nur wenige hundert Meter durchs Hier und Heute, bevor die Zeit wieder um Jahrhunderte zurückspringt. Denn gleich um die Ecke liegt der Eingang zum Topkapimuseum. Wo die Atmosphäre allerdings erst mal einem Flughafen gleicht. Die Fototasche muss durch die Röntgenkontrolle, ich selbst durch einen Metalldetektor. Terrorangst ist auch in Istanbul kein Fremdwort mehr. Der Palast selbst protzt mit den Reichtümern vergangener Sultanate. Neben fein zieselierten goldenen Schwertern, Säbeln, Teekannen und Schmuckstücken dreht sich in einer der Vitrinen funkelnd ein 86karätiger Löffelmacherdiamant im Licht der Scheinwerferspots. Von erheblich größerer Bedeutung für Moslems ist jedoch ein Raum am anderen Ende des Gangs: Dort sind sie aufgebart, die sprichwörtlichen Haare vom Barte des Propheten Mohammeds, wie es heißt. Ein ganzes Büschel. Mit dessen Auswanderung nach Medina im Jahr 622 nach Christus die islamische Zeitrechnung begann und der als Begründer der islamischen Religion gilt. Aber beim Barte des Propheten - was die westlichen Touristen am meisten interessiert, ist und bleibt der Harem. Der aber nie, wie nur allzu gern vermutet wird, eine Art Bordell war, sondern schlicht und einfach der Aufenthaltsort der Frauen. Hier konnten sie, sofern innerhalb der strengen Regeln des Islam möglich, relativ ungezwungen leben. Bis auf den Sultan und die Eunuchen war der Zutritt für Männer untersagt. Ich würde ihn als den schönsten und prächtigsten Knast definieren, den man sich denken kann. Der an Wänden, Decken, Kuppeln und Türen sichtbare Reichtum ist enorm und ebenso feingliedrig wie vielfältig. Nach der Besichtigung des monströsen Palastes fahre ich hinunter zum Goldenen Horn, wo seit jeher das einfache Volk wohnte. Die schmalen Straßen zwischen den lückenlosen hohen Häuserreihen wirken wie Steinschluchten, deren Wände in allen möglichen Farben gestrichen sind. Aus fast jedem Haus ragt ein Erker hervor, an dem die Wäsche fahnengleich im Winde weht. Diese uralte Ecke Istanbuls wirkt wie eine abgeschiedene kleine Welt. Winzige Läden teilen sich das Geschäft mit den Straßenhändlern, die auf hölzernen Karren Obst und Gemüse anbieten. In kleinen, ölgeschwärzten Garagen verbergen sich Autowerkstätten, und das winzige Lokanta an der Straßenecke ist einzig auf die Kundschaft aus der Nachbarschaft ausgerichtet. Inzwischen ist es brütend heiß geworden, und nichts hilft besser gegen den Durst als das türkische Nationalgetränk: Çay, schwarzer Tee. Und zum Tee trinken gibt es in Istanbul einen ganz besonderen Platz. In einer unscheinbaren Steinhütte, westlich der Hagia Sofia, verbirgt sich der Eingang zur Yerebatan Sarniçi, einer Zisterne aus dem sechsten Jahrhundert, die jeden Zeustempel in den Schatten stellt. Der riesige, unterirdische Raum wird von 336 Säulen abgestützt, so dass er wie der Tempel eines Größenwahnsinnigen wirkt. Türkische Musik hallt zwischen den Säulen und taucht den Raum zusammen mit der schummrigen Beleuchtung in eine geheimnisvolle Stimmung. Und hier unten liegt ein kleines Restaurant. Eines, das selbst Tee trinken zum Erlebnis macht. Zurück am Tageslicht fahre ich hinaus nach Ortaköy. Es wird ein Überraschungsausflug. Wollte ich eigentlich den Anblick der Moschee von Ortaköy im Abendlicht genießen, so finde ich mich plötzlich in einer Welt von Kneipen, jungen Leuten und Popmusik wieder. Die gepflasterten Gassen sind voller Stände, deren Händler geradewegs der 68er Generation entsprungen zu sein schein und selbstgemachten Schmuck verkaufen. Dazwischen alte Türkinnen, die Selbstgestricktes und -gebackenes anbieten. Anscheinend bin ich der einzige Tourist. Zufällig wähle ich das Café Creme für eine kurze Pause, und zufällig lebte dessen Wirt jahrelang in Deutschland. Er erzählt, dass es hier fast jedes Wochenende so zugehe. Ortaköy liege zwar nicht gerade mitten in Istanbul, aber es sei neuerdings das heimliche Herz der Stadt. Als ich kurze Zeit später zurück zur Unterkunft fahren will, scheint die Stadt vollends ausgerastet. Autos rasen durch die Straßen und zerren mit pausenlosem Gehupe an den Nerven. Die Insassen hängen aus den Wagenfenstern, Arme strecken sich aus den Schiebedächern, schwenken blaugelbe Fahnen, oder zeigen mit gespreizten Fingern das Viktoryzeichen. Selbst die Frauen kreischen wie verrückt. Es ist Sonntagabend, und der Istanbuler Fußballclub Fenerbahçe hat gerade ein wichtiges Spiel gewonnen. Die Welt ist überall gleich und das Hupkonzert wird die ganze Nacht dauern. Vielleicht liegt es daran, dass mich am nächsten Morgen so manches übermüdete Gesicht anblickt, als ich durch den großen Bazar schlendere. Auch er zählt zu den Berühmtheiten der Stadt. Doch die Waren sind eintönig und verkörpern die logische Erscheinung touristisch bedingter Marktevolution: Teppiche, T-Shirts, Lederjacken, Schuhe und kitschiger Krimskrams. Ein Einheimischer wird sich selten hierher verirren. Nach dem zehnten Teppichshop habe auch ich genug. Allenfalls die Goldhändler geben den langen Gängen noch einen Hauch von altem Glanz. Interessant wird es erst, als einer der Gänge als Sackgasse endet und ich unversehens in einer Werkstatt stehe, einem beängstigend engen Raum, dessen Wände von feinem Metallstaub geschwärzt sind. Zwei verschwitze Männer lassen graue Metallplatten solange durch eine hämmernde Presse laufen, bis das Blech dünn genug ist, um es auf einer Drehbank nebenan zu kleinen Gefäßen zu walzen. Mit einem Gasbrenner wird dann nur noch die Oberfläche veredelt, bevor die Becher im Bazar zum Verkauf angeboten werden. Vieles in den Auslagen entstammt so aus den einfachsten Werkstätten rund um den Bazar. Wieder draußen, lasse ich die Honda stehen und mich von den Menschenmassen durch die Gassen treiben. Plötzlich packt jemand meinen Arm und zieht mich zurück. Wohl wieder einer, der mir unbedingt seinen Laden zeigen will. Aber diesmal kriege ich keinen Teppich angeboten, sondern einen spitzen Fototipp. In einem abbröckelnden Gebäude, in dessen Oberstock steinalte Webstühle laut klappernd am Werke sind, führt entlang rußgeschwärzter Wände eine Treppe auf das Dach. Es ist, als würde ich aus der Enge der Straßenschluchten in den freien Himmel gehoben. Das goldene Horn und der Bosporus liegen weit unter mir. Zwischen den Dächern ragen die Minarette empor, und weit recken sich die beiden Bosporusbrücken über das Meer, als müssten sie die beiden Kontinente zusammenhalten. Ich kann mich kaum von dem Anblick losreißen. Als ich zurück ins Leben kehre, sind die Straßen bereits leer. Die letzten Händler lassen die Vorhängeschlösser einrasten und rasselnd die Rollos ihrer Shops herunter. Vom turbulenten Tag sind nur noch Müllhaufen an den Straßenrändern übrig, die die Straßenkehrer zusammenfegen. Zurück bei der Blauen Moschee genieße ich noch einmal die beeindruckende Lichtshow, die vor dem dunklen Nachthimmel die Minarette und Kuppeln in irren Farben leuchten lässt. Als die Scheinwerfer ausgehen, wird es endgültig still. Der Drache Istanbul scheint in den Schlaf zu sinken. Für ein paar Stunden zumindest.

Unsere Highlights

Infos

In der Millionenstadt am Bosporus prallen nicht nur zwei Kontinente, sondern auch Tradition und Moderne aufeinander. In kaum einer andere Metropole blieb die wechselvolle Geschichte so greifbar erhalten.

Anreise:Wer auf dem Landweg in die Türkei will, muss Österreich, Ungarn, Rumänien und Bulgarien durchqueren und ab München knapp 2200 Kilometer abspulen. Eine Strecke, die sich wegen der teils schlechten Straßen in Rumänien und Bulgarien ziemlich ziehen kann. Deutlich angenehmer und 400 Kilometer kürzer ist die Route über Italien und dort per Nachtfähre von Ancona nach Igoumenitsa. Von dort geht es per Achse weiter durch Nordgriechenland zur türkischen Grenze und nach Istanbul. Papiere:Für die Einreise mit dem eigenen Fahrzeug wird ein Reisepass benötigt, in den das Fahrzeug beim Grenzübergang eingetragen wird. Ohne Fahrzeug genügt der Personalausweis. Österreicher benötigen ein Visum, das an der Grenze ausgestellt wird.Reisezeit und Klima:Die angenehmsten Monate sind April bis Juni und September/Oktober, die regenreichsten im Winter. Der Hochsommer ist erdrückend heiß und deshalb für ausgedehnte Besichtigungen eher ungeeignet. Unterkunft:Rund um die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten im Stadtteil Eminönü (Sultanahmet) gibt es Übernachtungsmöglichkeiten in allen Preisklassen. Zimmer ohne Frühstück beginnen bei 25 US-Dollar. Zwei Straßenzüge östlich der Hagia Sofia steht das Green Hotel, Akbiyik Caddesi Nr. 5, Sultanahmet, Telefon 90/ 212 458 19 57. Es eignet sich bestens als Ausgangspunkt für die Besichtigung der Altstadt und der Sehenswürdigkeiten. Teuer, aber stilvoll nächtigt es sich in der Ayasofya Pansiyon. Das im alten Stil gebaute Haus eignet sich ebenfalls sehr gut als Ausgangspunkt und kostet pro Nacht 120 US-Dollar.Sehenswert:Topkapi-Palast; Yerebatan Saray, eine der größten ehemaligen Zisternen aus byzantinischer Zeit; die Hagia Sofia war erst eine Kirche, wurde dann zur Moschee und ist heute ein Museum; Sultanahmet Moschee (Blaue Moschee); Dolmabaçe Sarayi (Palast am europäischen Bosporusufer) und der große Bazar. Die genannten sind nur die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten, die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Achtung: Moscheen sollten in »züchtiger« Kleidung und ohne Schuhe betreten werden. Informationen:Türkisches Generalkonsulat, Baseler Str. 37, 60329 Frankfurt, Tel. 069/233 081-82, Fax 069/232 751.Zeitaufwand:Wenigstens vier Tage

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023