Anfang Oktober - die Tage werden erschreckend schnell kürzer, und der erste Nachtfrost hämmert die letzten sommerlichen Gedanken aus dem Hirn. Könnte es nicht noch ein paar Wochen warm und sonnig bleiben? Doch, es kann, aber nicht in den heimischen Breitengraden. Südfrankreich, Westalpen, Mittelmeer - bestes Wetter, süchtig machende Straßen, keine Wohnmobilblockaden wie im August, einfach fahren und genießen. Ein Traum? Na klar, aber doch ganz einfach zu realisieren, zumal im nächsten Autozug nach Bozen noch Plätze frei sind. Vorgestern noch geträumt, abends den Zug gebucht und jetzt ist die Welt eine andere: Wir schwingen die weiten Kurven zum Col du Mont Cenis hoch und rollen über die fast verkehrsfreie N6 bis Saint-Michel. Pause, durchatmen, die Sonne auf der Nase und das feine Kribbeln im Bauch spüren, wohl wissend, dass jetzt einer der genialsten Alpenpässe direkt vor den Vorderreifen unserer Enduros liegt, der Col du Galibier. Ein Gesamtkunstwerk, flankiert von zwei Trabanten, dem Col du Télégraphe und dem Col du Lautaret. Der Télégraphe ist eine fahrerische Offenbarung, nicht mal die Landschaft lenkt vom Kurvenschwingen ab.
Das ändert sich erst weiter oben, als das nun schmale Asphaltband zum eigentlichen Galibier wird und durch gelbbraune Wiesen der Passhöhe auf 2645 Meter zustrebt. Dort wird die Szenerie schlagartig anders, nicht mehr die Straße beherrscht nun die Sinne, sondern die annähernd 4000 Meter hohe gigantische Ostwand des La Meije mit ihrem frisch verschneiten Gletscher. Bestaunen wir nun die Berge oder konzentrieren wir uns auf die Abfahrt? Beides geht nicht, schließlich könnte ein falscher Blick der letzte sein. Gesicherte Straßenränder kennt der Galibier nicht, die Abgründe sind erschreckend tief. Aber dieser Pass ist ohnehin viel zu spannend, um ihn nur einmal zu fahren.

Von ganz anderer Natur ist der Col de Saren-nes, der von der N91 abzweigt und sogleich kräftig an Höhe gewinnt. Die schmale, holprige Straße fordert den Federwegen von Ténéré und V-Strom alle Reserven ab, bis der Weg in L’Alpe dHuez endet, einem hässlichen Wintersportort auf fast 2000 Metern Höhe. Und trotzdem verbinden wir mit diesem Namen unzählige menschliche Dramen, die sich in den 21 Kehren und 1100 Höhenmetern des gnadenlosen Aufstiegs aus dem Vénéon-Tal abgespielt haben. Die Tour de France, undenkbar ohne den Showdown nach L’Alpe d’Huez. Während wir locker und flockig ins Tal rodeln, versuche ich, all die auf den Asphalt gepinselten Namen zu lesen: Schleck, Contador, Evans, aber sogar Ullrich, Armstrong und Pantani kann ich entziffern. Letzterer hält noch heute den Rekord für den Aufstieg - 14 Kilometer in 37 Minuten. Unglaublich.
Nicht eine Straße durchquert den riesigen Nationalpark Écrins, wir müssen ihn weit südlich umrunden. Ab nach Gap und weiter zum größten Stausee der Alpen, dem türkisgrünen Lac de Serre-Ponçon. Die Landschaft ist schon fast lieblich, harmlose runde Berge, die mit der Dramatik des Massif des Écrins so gar nichts gemein haben: Wiesen und Felder, langweilige Hauptstraßen. Das muss nicht sein, also biegen wir ab zum Col d’Izoard. Der wäre ein weiterer Pass unter vielen, würde er nicht mit der einzigartigen Mondlandschaft der Casse Déserte überraschen. Bizarre braune Felstürme, Zinnen und Nadeln, von Wind, Frost und Regen modelliert. Und nach der Passhöhe lockt das rustikale „Refuge Napoléon“ mit dem besten Blaubeerkuchen weit und breit.

Neuer Tag, gleiches Wetter. Bei dieser klaren Sicht müssen wir einfach wieder hoch in die Berge. Und eine der aussichtsreichsten Straßen der Westalpen ist die Assietta. Dazu eine der letzten frei befahrbaren langen Schotterstrecken der Alpen, die nicht mal die straßenbereifte Suzuki in Verlegenheit bringen sollte. Wenn nicht jetzt, wann dann? Also rüber nach Italien, den Osteinstieg zur Assietta wählen, der besseren Aussicht wegen. Bei diesem Wetter ist die Gratwanderung ein Traum. Tief unten schimmern die Täler Val Chisone und Dora Riparia. Am westlichen Horizont bohren sich die 4000er des Massif des Écrins in weiße Wölkchen. Die Piste schlängelt sich stets jenseits der 2000-Meter-Marke durch gelbe Wiesen, in denen hektische Murmeltiere eifrig Gras für die Winterhöhle sammeln. Schon nächste Woche könnte der erste Schnee fallen. Unendlich viele Wellen, Löcher und Steine fordern Konzentration und Federung. Trotzdem ist die Assietta eine absolute Genuss-Strecke. Wie zum Beweis stampft uns eine Harley entgegen. Respekt.
Genug für heute, zurück nach Frankreich. Für den Rest des Tages ist Entspannen in Guillestre angesagt. Schmale, verwinkelte Gassen verstecken sich zwischen alten Steinhäusern, manche sind vorbildlich restauriert, andere strahlen den morbiden Charme der Jahrhunderte aus. Mittendrin ein kleiner Marktplatz mit Eiscafés und Restaurants. Guillestre ist auch idealer Startpunkt zum vierthöchsten Alpenpass, dem 2744 Meter hohen Agnello, der uns schon wieder nach Italien bringt. Kaum jemand ist an diesem frischen Oktobermorgen hier unterwegs, eisiger Wind pfeift über die karge Passhöhe, wo eine bunte Panoramascheibe beim Identifizieren der Berge hilft. 1000 Meter tiefer zwingt uns Chianale zur Vollbremsung, ein Ort wie aus einem Bilderbuch des 19. Jahrhunderts. Düstere graue, grob gemauerte Häuser, die Dächer mit riesigen Schieferplatten belegt, zwei uralte Kirchtürme lugen über die Häuser. Schön, dass es solche Orte ganz ohne Skirummel-Wellness-Hotels noch gibt.
Überhaupt, die italienischen Orte. Erst jetzt realisieren wir, was ihren Pendants auf französischer Seite fehlt: die Patina der pastellfarbenen Fassaden, die Atmosphäre der von Arkaden gesäumten Piazze und plärrenden Vespas, unzählige kleine Bars mit dem weltbesten Cappuccino für 1,20 Euro, kurzum: mediterranes Flair.

San Damiano, Demonte, Col de la Lombarde - und schon sind wir wieder in Frankreich, stoßen nach bremsenmordender Abfahrt in Isola auf die Hauptstraße. Ein Wegweiser elektrisiert mich: Nizza 68 km. Das Hirn läuft noch im Pässe-Modus, und plötzlich funkt dieses Schild dazwischen: „Mal eben zur Pizza nach Nizza, eine Stunde bis zum Mittelmeer.“ Fast wären wir dem Reiz erlegen, wäre da nicht noch ein zweites Schild: Col de la Bonette 41 km. Keine Frage, welcher Wegweiser ein stärkeres Verführungspotenzial hat, natürlich der höchste Alpenpass.
Richtig spannend ist die lange Auffahrt erst jenseits der Baumgrenze. Die Landschaft wird karger, die braunen, roten und gelben Berge könnten genauso gut in den argentinischen Anden oder einer südspanischen Sierra wachsen. Eine andere Welt als am Galibier. Für den ultimativen Rundblick klettern wir die letzten Meter zum Gipfel des Bonette auf 2860 Meter. Dünne Luft, kalter Wind, aber was für eine Aussicht!

Nach dem Motto „Einer geht noch“ flitzen wir nach Jausiers und nehmen uns den Col d’Allos vor. Der hat alles, was ein Alpenpass braucht. Unzählige Kurven, kaum Verkehr auf der schmalen, buckeligen Straße und die letzten hohen Berge vor dem Mittelmeer. Volltreffer, ein Pass zum Genießen. Und er bringt uns geradewegs in den Süden Frankreichs. Die Schwermütigkeit der alpinen Orte liegt hinter uns, ab jetzt riecht es nach wildem Thymian, Pinien und Eukalyptusbäumen. Die Provence ist nah.
Das Meer auch, aber es gibt tausend Gründe, erst übermorgen dorthin zu fahren: unzählige kleine Straßen, die sich durch die Berge kringeln, alle mit einem grünen Streifen geadelt. Oder die Schlucht von Daluis. Dunkelrote Felsen stürzen senkrecht in die Tiefe, die der Fluss Var in Jahrmillionen gegraben hat. Der berühmte Col de Turini, wo die Helden der Rallye Monte Carlo ihre Driftkünste in der Winterlandschaft zelebrieren, oder die malerischen alten Orte Dolceacqua, Apricale und Perinaldo auf der italienischen Seite. Tausend Gründe, um einfach noch eine Woche durch diese Gegend zu kreuzen. Zumal hier immer noch Sommer ist, wenn zu Hause schon der erste Schnee fällt. Danke für diese Sommerzugabe.
Infos

Die Westalpen locken mit einem verführerischen Mix: grandiose Pässe, aussichtsreiche Schotterwege und abseits der Hochsaison eine überraschende Ruhe. Und wer der Pässe überdrüssig ist, kann fix ans Mittelmeer fahren.
Anreise:
Von Köln bis Briançon sind es etwa 1000 Kilometer. Der schnellste Weg führt durch die Schweiz über Basel und Genf. Zur Côte d’Azur geht es durch Frankreich über die gebührenpflichtigen Autobahnen A7 (E15) und A8 (E80) bis Nizza und Monaco. Die bequemste und materialschonendste Anreise bietet der Autozug, der beispielsweise von Düsseldorf bis Alessandria fährt. Für eine Person und ein Motorrad kostet die einfache Fahrt ab Düsseldorf saisonabhängig ab 206 Euro. Infos bei DB Autozug, Telefon 01 80/5 24 12 24 oder im Internet unter www.dbautozug.de.
Reisezeit:
Der August ist Hauptreisemonat in Frankreich und Italien. Hitze, Staus und nervige Zimmer- oder Zeltplatzsuche sind die Folge. Ab September kehrt schlagartig wieder Ruhe ein. Anfang Oktober sind die hohen Pässe zumeist noch geöffnet, viele Campingplätze aber schon geschlossen. In den Bergen sind Nachtfröste möglich, am Meer kann es noch bis über 30 Grad warm werden. Oft fällt im Laufe des Oktobers der erste Schnee und damit die Schranke für die Pässe. Die Wintersperre dauert je nach Schneesituation und Höhenlage leider bis Mai oder gar Juni.

Offroad:
Franzosen und Italiener sind sehr tolerant, was das Fahren auf den alten Militärpisten angeht. Allerdings hört auch bei ihnen der Spaß auf, wenn Geländeheizer die Wege als Rennstrecke missbrauchen. Die Folge sind Streckensperrungen mit drastischen Strafen bei Missachtung. Noch gibt es einige freie Strecken, die sich perfekt zum Enduro-Wandern eignen. Wie lange noch, hängt vom Fahrverhalten jedes Einzelnen ab. Die Assietta ist im Sommer mittwochs und samstags gesperrt, der Sommeiller an den Wochenenden.
Literatur:
Sehr informativ ist das Buch „Motorradtouren Westalpen“ vom Denzel-Verlag, das 46 Rundfahrten detailliert mit Schwierigkeitsgraden beschreibt. Preis für das Kultwerk: 27 Euro. Empfehlenswert ist der nicht mehr ganz aktuelle Tourenführer „Lust auf Französische Alpen“ aus dem Highlights-Verlag für 11,90 Euro, der mit zehn detaillierten Tourenvorschlägen seinem Namen alle Ehre macht. Die besten Landkarten kommen von Michelin. Die sehr detaillierten Karten im Maßstab 1:150 000 zeigen fast jeden Weg. Für die beschriebene Reise sind die Blätter 334 und 341 nötig. Kosten pro Karte 7,50 Euro, ohne den nervigen Pappumschlag vor Ort 4,50 Euro.
Action Team:
Begehrt sind die Westalpentouren mit dem MOTORRAD action team. Termine 2013: 15.-22.6., 22.-29.6., 29.6.-6.7., 31.8.-7.9., 7.9.-14.9., www.actionteam.de oder Telefon 07 11/1 82-19 77.