Lea Rieck hat Job und Wohnung gekündigt und ist allein mit ihrer Triumph Tiger 800 XCA auf Weltreise. Highlight bisher: Tadschikistan und der Pamir Highway. Weder Internet noch Dusche, aber schönste Berglandschaften und tolle Menschen.
Lea Rieck hat Job und Wohnung gekündigt und ist allein mit ihrer Triumph Tiger 800 XCA auf Weltreise. Highlight bisher: Tadschikistan und der Pamir Highway. Weder Internet noch Dusche, aber schönste Berglandschaften und tolle Menschen.
Mit einer Hand klammere ich mich am schroffen Felsen fest. Mein Körper hängt über einem Abgrund von mehreren Hundert Metern. In der anderen Hand halte ich mein Mobiltelefon und strecke es so weit wie möglich in den Himmel. Mist, schon wieder konnte die Nachricht nicht gesendet werden. Langsam hege ich den Verdacht, dass die Jungs, die ich unterwegs auf ihren 250er-Yamahas, Hondas und Suzukis getroffen habe, mich nicht wegen des angeblich guten Handynetzes hierher gelockt haben. Dabei war alleine die Auffahrt über eine felsige, sechs Kilometer lange Serpentinen-Schotterpiste absolut spektakulär. Ich stehe am äußersten Rand einer verfallenen Burgruine namens Yamchun. Der Blick von oben ins grüne, 500 Meter tiefere Wakhan Valley und auf den afghanischen Hindukusch ist nicht nur wegen der dünnen Luft auf 3.500 Metern Höhe atemberaubend. Wie oft mögen wohl genau hier Feldherren gestanden und die durch das Tal ziehenden Angreifer beobachtet haben? Dabei fühle ich mich selbst wie der Eroberer dieser verfallenen Festung – nur dass davor nicht ein gesatteltes Pferd sondern „Cleo“ steht, eine Triumph Tiger 800 XCA, die in den letzten Tagen auf den anspruchsvollen Pisten des Pamir Highways in Tadschikistan die vielleicht größte Prüfung ihres bisherigen Lebens gemeistert hat. Seufzend stecke ich das Handy ein. Meine Familie muss wohl noch weiter auf ein Lebenszeichen warten.
Den Pamir Highway umgibt etwas Mystisches. Alle Reisenden, die ich auf meinem Weg nach Tadschikistan treffe und nach ihrem Ziel frage, bekommen einen verklärten Blick. Wann immer ich den Daheimgebliebenen von meiner nächsten Destination erzähle, stoße ich dagegen auf Fragezeichen. „Pamir was? Ist das eine Autobahn? Tadschikistan? Wo liegt das noch mal?“ Anscheinend ist diese Gegend auf den Landkarten in den Köpfen vieler Menschen nur ein weißer Fleck. Dabei hat Tadschikistan mit seinen gerade einmal 8,6 Millionen Einwohnern topografisch so viel zu bieten, dass es die meisten anderen Länderkollegen mit seinen über 7.500 Meter hohen Berggipfeln wortwörtlich in den Schatten stellen könnte. Durch das Bergmassiv führt der berühmt-berüchtigte Pamir Highway entlang der afghanischen Grenze nur einen Steinwurf vom Hindukusch entfernt. „Highway heißt die Route nur, weil sie so hoch liegt“, pflegen die Einheimischen zu scherzen. Und wirklich ist das Pamirgebirge gespickt mit Pisten, die alles andere als gut asphaltiert sind. Stattdessen: loses Geröll mit Flussdurchquerungen, Sandpassagen und Schotter. Wahrscheinlich eines der letzten Abenteuer jenseits von Elektrizität, fließend warmem Wasser, Internet und Handy-Empfang. Ein fast außerirdisches, einsames Paradies.
Weit komme ich jedoch nicht, als ich versuche, alleine den ersten größeren Bergpass zu bezwingen. Im Regenmatsch kommt die Tiger ins Schlingern. Plötzlich blockiert das Hinterrad, doch irgendwie stürze ich diesmal nicht. Dafür will sich meine Maschine weder mithilfe von Stoßgebeten noch von Flüchen weiterbewegen lassen. Irgendwas stimmt nicht. Auch nach einer ausgiebigen Inspektion habe ich keinen blassen Schimmer, was dieses „Irgendwas“ sein könnte. Im knöcheltiefen Matsch finde ich nicht genug Halt, um die Tiger auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Und mein Handy hat seinen Empfang in der Hauptstadt Duschanbe vergessen. Also tue ich das Einzige, das mir in dieser Situation plausibel erscheint: warten.
Eine halbe Stunde später kann ich mein Glück kaum fassen. Es nähern sich mehrere Enduros! Wie sich herausstellt, handelt es sich um eine organisierte Tour desselben Motorradclubs, bei dem ich noch ein paar Tage zuvor meine Reifen in Duschanbe habe wechseln lassen. Drei Guides und ein Begleit-Jeep zeigen internationalen Touristen das Pamirgebirge. Die Wiedersehensfreude ist groß – und bevor ich mich versehe, macht sich Anton, der Mechaniker des Clubs, mit grimmigem Blick, russischer Bestimmtheit und ein bisschen roher Gewalt über mein Motorrad her. Nachdem er ein paar Felsstücke entfernt hat, die sich mit dem Schlamm zwischen Reifen und Kette verklemmt hatten, lässt sich die Tiger wieder bewegen. Ob ich vielleicht lieber ein Stück mit der Gruppe fahren möchte, bis die Witterung und Straßen besser werden? Ich überlege nicht lange.
Im Dorf Kalaikhum angekommen, sehe ich auf der anderen Seite des Flusses zum ersten Mal nur einen Steinwurf entfernt die Berge Afghanistans. Für meine Reisebegleiter ein Grund zum Feiern! Also lasse ich mich überreden, bereits um zwei Uhr nachmittags das erste lokale Bier zu verkosten. WLAN oder heißes Wasser gibt es nicht, dafür lässt mich der 65-jährige Kasim, Ersatzfahrer der Gruppe, seinen grünlichen Tabak probieren. Das anschließende Glücksgefühl hält an bis in die Nacht. Unser Lager besteht aus Matten auf dem Boden, doch diese Unterkunft vermittelt mehr Gemütlichkeit als jedes Fünf-Sterne-Hotel. Ich genieße die Anwesenheit dieser unterschiedlichen Charaktere: Anton, der mich nicht nur aus dem Schlamm gerettet hat, sondern auch jeden Abend und Morgen mein Motorrad checkt, als würde es zu seinem Fuhrpark gehören (und heinzelmännchenmäßig über Nacht alle Teile repariert, die dank diverser Stürze defekt sind), Farkhood, der Präsident des Motorradclubs in Duschanbe, der mich in die Sitten der Bestechung einweiht, Kasim, der jeden Abend dieselbe Fabel einer Eule erzählt, die gegen einen Baum fliegt, sowie Marley, der die Reiseagentur Edge Expeditions leitet und die Tour für die internationalen Gäste organisiert hat. Ich bin gerührt, dass sie alle mich so selbstverständlich in ihre Gruppe aufnehmen, als wäre ich von Anfang an ein Teil von ihr gewesen.
Am Morgen von Tag drei geht es mir furchtbar. Kurze Zeit später sehe ich mein kaum verdautes Abendessen wieder. Motorrad fahren? Geht so beim besten Willen nicht. Das berichte ich Farkhood, der mir auf dem Weg zum Plumpsklo begegnet. „Wozu haben wir denn einen Ersatzfahrer?“, meint er. „Du kannst dich im Jeep auskurieren, und er fährt dein Motorrad.“ Ich bin zu schwach, um mich seinen Argumenten zu widersetzen. Das Zusammenpacken meiner Sachen strengt mich derart an, dass ich mich vor unserer Unterkunft direkt vor Marleys Füßen übergebe. Der hält mir ohne mit der Wimper zu zucken eine Tablette entgegen: „Gegen die Übelkeit. Damit dir das nicht im Auto passiert.“ Ich bin so erschöpft, dass ich trotz schlimmster Ruckelei einfach schlafe.
100 Kilometer, zwei platte Reifen und acht Stunden später: Endlich erreichen wir unsere Bleibe für die Nacht. Wie bei den meisten Unterkünften im Pamirgebirge besteht die Toilette hier lediglich aus einem Loch im Boden und ist einen kleinen Fußmarsch über raue Felsenklippen vom Hauptgebäude entfernt. Und sie riecht schlimm. Ausnahmsweise bekomme ich ein abgetrenntes Zimmer. Eine Rarität in den traditionellen Häusern mit ihren offenen Innenräumen, in denen auf erhöhten Seitenflächen zugleich gegessen und geschlafen wird. Während ich in meinem Ruheraum vor mich hin vegetiere, besucht mich nach und nach nicht nur die Hausherrin in ihrem leopardengemusterten Kleid, sondern auch jeder Einzelne der Truppe mit seinem persönlichen Geheimrezept. Anton bringt mir Wodka, Kasim Tee aus einem Kraut, das er extra für mich gesammelt hat, Kuba, der Fahrer des Jeeps, kredenzt mir Kohletabletten und Marley schaut mit Brausepulver vorbei, das der Dehydration vorbeugen soll. Irgendwann gebiete ich dem Irrsinn Einhalt. „Jungs, ich sterbe nicht. Ich muss nur schlafen.“
Am nächsten Morgen geht es mir besser. Die folgenden Tage fahren wir glücklich mit unseren Motorrädern über die rauen Bergstraßen des Pamirgebirges, übernachten bei Familien in einfachen Jurten, baden in heißen Quellen oder hören Einheimischen bei ihren musikalischen Darbietungen zu. Wie kaum eine andere Straße ist der Pamir Highway eine Belastungsprobe für Motorrad und Fahrer. Aber wir stellen fest, dass sich das Fahren auf ruckeligen Pisten positiv auf einen von Durchfall geplagten Körper auswirkt. Nach einem Abstecher vom Pamir Highway über eine Route durch das Wakhan Valley entlang der afghanischen Grenze machen wir einen Umweg zum einsam gelegenen Bulunkulsee. Insgesamt 40 Kilometer auf härtestem Wellblech. Ich fliege vorbei an den schroffen und zugleich so glatt aussehenden, sandfarbenen Felsen, die von unserer Piste in 4.000 Metern Höhe noch einmal steil in den Himmel ragen. Vorbei auch an meinen Kollegen auf ihren kleinen Enduros, denen nun die Höhe zusetzt. Meine Tiger kennt diese Probleme trotz des defizitären Sprits nicht. Speed, dünne Luft und außerirdische Landschaft rauben mir den Atem. Habe ich einen Trip zum Mond gewonnen?
Gemeinsam überqueren wir die Grenze von Tadschikistan zu Kirgisistan – die Grenzbeamten werden mit Kleingeld und 20 Flaschen Wodka bestochen. Eigentlich könnte es ewig so weitergehen, doch schon einen Tag später muss ich in der kirgisischen Stadt Osch Abschied nehmen. Als alle aufbrechen, um zurück nach Duschanbe zu fahren, blutet mein Herz. „Komm bald zurück nach Tadschikistan“, sagt Farkhood, als wir uns verabschieden. „Irgendwann wird auch der Pamir Highway nur noch eine normale, asphaltierte Straße sein.“ Später öffne ich meinen Tankrucksack und erblicke mein fast vergessenes Handy. „Ich bin am Leben. Aber Pamir hat es ein bisschen verändert“, antworte ich meiner Familie auf ihre besorgten Nachrichten. „Message sent.“ Na also. Endlich kann ich duschen und den Staub der Berge abwaschen. Doch das Pamirgebirge samt aller Herausforderungen und Freundschaften wird nachhaltig in meinem Herzen bleiben.
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