Krachend donnert die Fuhre in das riesige Schlagloch. Schlingert bedenklich nah an zwei Rikshas vorbei, umzirkelt gerade noch ein aufgeregt herumflatterndes Huhn, gleich dahinter eine gemächlich tapernde Kuh, um mit unheildrohender Schräglage in den Hexenkessel des nächsten Kreisverkehrs gesogen zu werden. Infernalischer Lärm. Klingeln, Hupen. Das Tosen und Brüllen uralter Diesel-Motoren. Stinkende Tuktuks, klappernde Lieferwagen, unzählige Radler, Mopedfahrer, Passanten, und über allem die unablässig gellende Trillerpfeife eines Polizisten, der eisern versucht, in diesem Haufen hoffnungsvoll herandrängender Verkehrsteilnehmer so etwas wie Vorfahrtsregeln aufrecht zu erhalten. Welche, ist allerdings völlig offen.Kathmandu Ring Road. Der Busfahrer gibt alles. Sein weit aus dem Fenster hängender Gehilfe nicht weniger. Virtuos fädeln die beiden durchs Chaos der wichtigsten Verkehrsader Nepals. Auf der Landkarte so prominent wie der Berliner Ring verzeichnet – tatsächlich aber kaum mehr als ein ausgefahrener Karrenweg. Hie und da ein Stück Asphalt, sonst Lehm und Staub, flankiert von haarscharf am Rinnstein platzierten Bretterbuden, in denen Ziegenköpfe, Safran und Sony-Kassetten angeboten werden. Öltriefende Werkstätten neben dampfenden Garküchen, dazwischen ein paar erbärmliche Wohnviertel und Äcker. Kinder, Federvieh, streunende Hunde, Steine klopfende Frauen am Straßenrand, und allenthalben ein dünnbeiniger Pilger, seine Stirn von einer erlauchten Kuh segnen lassend. »Namasté Nepal« – sei gegrüßt, du mitten im Himalaya gelegenes Hindureich, du Land mit den höchsten Gipfeln unter der Sonne und einem der niedrigsten Bruttosozialprodukte der Welt.Ohne Bus hätte sich unsere kleine Reisegruppe vermutlich bereits nach 500 Metern Ring Road versprengt. Erst in Mugling, mit 110 Kilometern und vier Stunden Sicherheitsabstand zur Hauptstadt, geht die Tour auf zwei Rädern weiter. Doch alles bleibt anders: »Die vordere Bremse vergesst ihr am besten sofort, da gibt’s nichts zu holen«, erfahren wir bei der technischen Einweisung. Okay, dann wird eben mit dem Fuß gebremst, und zwar links. Der Schalthebel sitzt rechts, der erste Gang oben, die restlichen drei werden nach unten gedrückt. Tröstlich, dass wenigstens Kupplung und Gas so funktionieren, wie es sich gehört. Verkehrsregeln gibt’s auch, wenngleich in ihren Feinheiten für normalsterbliche Mitteleuropäer kaum durchschaubar. Im Allgemeinen gilt: Wer irgendwo vorbei will, hupt. Und Kühe haben grundsätzlich Vorfahrt.Na gut – es hat auch nie jemand behauptet, dass Motorradfahren in Asien einfach sei, zumal auf einer Royal Enfield 500. Also kein Gejammer jetzt. Kickstarter im oberen Totpunkt auf Position gebrach – das ist dort, wo der Zeiger des Amperemeters ganz unten ist, und dann bitte keine Hemmungen mehr. Wird schon irgendwie schief gehen. Überraschend leicht lassen sich die archaischen Einzylinder zum Leben erwecken, kommen ohne Umschweife auf Trab und befördern uns wie in besten britischen Empire-Tagen majestätisch wummernd vom Hof des Hotels du Mugling. »Drive left« – fast vergessen. Macht in Anbetracht der Summe von Fremdartigkeiten allerdings auch keinen großen Unterschied mehr. Ein beherzter Gasstoß, zwei Tritte in den Dritten, dann sind wir mittendrin, in diesem leuchtend bunten Land, mit seinen 23 Millionen Einwohnern. Über die Hälfte vermutlich unterwegs in brechend vollen Bussen, von deren Dächern sie freundlich herunterwinken.26 Kilometer sind es bis nach Gorkha – 26 Kilometer und eine kleine Ewigkeit. Der Weg hinauf in die Heimat der Shah-Könige und Krieger führt zurück in eine längst vergangen geglaubte Zeit. Vorbei an Ochsenkarren und Wasserbüffeln, die mächtige Pflüge ziehen, an Hütten, vor denen in Handarbeit Stroh gedroschen wird, während Mütter ihre Kinder unterm Hauseingang baden und am offenen Ziegelherd Tee aufwärmen. Es riecht nach Erde, Holzfeuer und Räucherstäbchen, ein kleiner Junge malt mit einem Stöckchen Blumen in den Staub. Mit riesigen Körben auf dem Rücken kommen die Bauern von den Feldern, tragen jedes Körnchen ihrer hart erarbeiteten Ernte ein. Über 90 Prozent der Nepalesen leben vom Ackerbau, über 70 Prozent zählen als Analphabeten.Die Straße nach Gorkha haben die Chinesen gebaut. Und das mystische Licht in den schmalen Gassen der Tempelstadt könnte direkt aus den Quellen indischer Filmemacher stammen. Seltsam, dass Armut so schön aussehen kann. Sanftgrün steigen die Reis-Terrassen hinter den mehrstöckigen Holzhäusern die Hänge empor – mühsam den Bergen abgerungene Felder, die Quadratzentimeter für Quadratzentimeter bewirtschaftet werden. Zu verschenken hat das Bergvolk der Gurung wenig. Es sei denn, die Götter fordern ihre Gaben. Sich dem zu widersetzen wäre sehr gefährlich, da die Hindu-Seele nach solcher Sünde bei der Wiedergeburt in eine jämmerliche Kreatur wandern wird. Kali, die Göttin der Zerstörung, verlangt zum Beispiel morgen nach frischem Blut. Oben im Königspalast, 240 Meter über der Stadt. Schon der steile Aufstieg kurz vor Sonnenaufgang ist ein Opfer. 45 Minuten lang. Die Hindus aber schleppen tapfer ihre Ziegen und Hühner mit hinauf, sammeln sich auf den Treppen des Tempels mit dem typischen, kostbar verzierten Pagodendach und warten auf den Brahman, der die Tiere töten soll, um Kali zu besänftigen. Wir flüchten, bevor das blutige Ritual beginnt, fröhlicheren Feierlichkeiten entgegen. Etwa 170 sind auf dem hinduistischen Mondkalender verzeichnet, und die schönste, das fünftägige Lichterfest, steht dirket bevor. Ein Pendant zum abendländischen Erntedank. Unten auf dem Marktplatz werden schon Girlanden angeboten und buntes Pulver zum Schminken der Gesichter. In den offenen Läden wird gebrutzelt, gedengelt, gewaschen und gelegt. Fußbetriebene Nähmaschinen summen mit Spirituskochern um die Wette, Säcke voller Gewürze verbreiten ihren geheimnisvollen Duft, zwei Jungs präsentieren stolz ein lebendes Huhn zum Verkauf. Gorkha – eine ganz normal verrückte nepalesische Kleinstadt.Pokhara lautet das nächste Ziel. Heißt zurück zum Prithvi Highway. Die Überlandstrecke soll relativ einfach zu fahren sein. Allmählich mit den Enfields vertraut werdend, lassen wir’s runter nach Mugling mit bis zu 70 Sachen krachen. Gestern waren 50 das höchste der Gefühle – und 50 sind verdammt schnell, wenn du keine Bremse findest.Die komplett rot-weiß-grün gestrichene Castrol-Tankstelle, gleich hinter dem Abzweig nach Dumre, hält farblich wacker mit der subtropischen Flora am Marsyangdi River mit. Der Sprit allerdings ist eine düstere Angelegenheit, kostet 40 Rupien je Liter, umgerechnet 57 Cent, somit mehr als ein durchschnittlicher Tagesverdienst hierzulande und ist dennoch von übelster Qualität. Bis zu 50 Prozent mit Wasser gepanscht. Mehr als 65 Oktan bringt er vermutlich kaum noch zusammen. So eine Enfield schluckt jedoch alles »und klettert mit diesem Verschnitt sogar noch über 5000 Meter hohe Himalaya-Pässe« – sagt Peter, der seit über zehn Jahren in Indien lebt und Motorradreisen austüftelt.Kein Problem also: Pokhara liegt auf gerade mal 853 Metern, stellt mit seinen zirka 110000 Einwohnern allerdings völlig neue Herausforderungen ans Mopedfahren. Erst mal gilt es reinzukommen, in die verstopften Straßen, Durchkommen steht auf einem anderen Blatt – was erst der Busfahrer im zehnmal so dicht bevölkerten Kathmandu erlebt haben muss...? Doch Asien wäre nicht Asien, wenn nicht alles irgendwie ginge, jeder ein Stück auswiche und sich mehr oder weniger reibungslos aneinandervorbei wurschtele. Ohne nennenswerte Verluste stranden wir in einer der zahlreichen Herbergen, die mit so klangvollen Namen wie Butterfly, Tranquility oder Buddha Lodge um die Einkehr der Trekker aus aller Welt wetteifern. Pokhara ist voll davon. Kein Laden ohne Wanderschuhe, Schlafsäcke, Rucksäcke und Energieriegel, denn von hier aus sind sie zum Greifen nah: Annapurna I, Dhaulagiri, Machhapuchare. Zwei Achtausender und der markante heilige Fischschwanzberg. Schneebedeckt ragen sie in den tiefblauen Himmel und erklären den gesamten Alpenhauptkamm für Makulatur.Auf dem Weg nach Beni, dem westlichsten Außenposten der Zivilisation, der noch per Straße erreichbar ist, kommen wir so dicht an sie heran, dass uns die Augen übergehen. Hier starten die Trekking-Touren ins Annapurna-Gebiet. Taxiunternehmer karren die Wanderwütigen von Pokhara herauf, bevor die Sherpa die Verantwortung und das Schleppen des Gepäcks übernehmen. Für 200 bis 300 Rupien am Tag begleiten sie ihre Kundschaft in einsame Höhen und verdienen damit im Vergleich zu Feldarbeitern gar nicht mal so schlecht. Sherpa, in der Neuzeit zu einem Synonym für Lastenträger verkommen, heißt »Bewohner des Ostens«. Und im Osten Nepals, wo die Volksgruppe ursprünglich beheimatet ist, schleppen die Sherpa schon seit Jahrhunderten jedes benötigte Gut in wochenlangen Märschen zu ihren 3300 bis 4600 Meter hoch gelegenen Dörfern. Oft mehr als das Anderthalbfache ihres Körpergewichts, man sagt bis zu 90 Kilogramm. Straßen gibt es in diesem Land erst seit 50 Jahren. Derzeit umfasst das fahrbare Wegenetz 7550 Kilometer. Knapp die Hälfte davon ist asphaltiert. Österreich und die Schweiz, gemeinsam in etwa so groß wie das hinduistische Königreich und ebenfalls von Bergen zugestellt, bringen stolze 280000 Kilometer zusammen. Allerdings nicht einer davon so spannend wie die knapp 100 des Siddhartha Highway, der von Pokhara hinunter zur indischen Grenze führt. Den Namen hat er von Buddhas Geburtsstätte, ansonsten trägt er wenig transzendente Züge, sondern entpuppt sich als bröcklige, mehr oder weniger in Auflösung begriffene Piste, die uns den ganzen Tag beschäftigen wird. Anfangs noch wegen der berauschenden Einblicke in die tiefen Schluchten türkisfarbener Flüsse, dann wegen der abgründigen Verkehrsführung.Irgendwo in einem winzig kleinen Nest, das schlimmste Stück der Strecke: knietiefe, schlammige Rinnen, au Backe. Doch die Classic Bikes fräsen durch, und die Dorfbelegschaft winkt, als käme die Paris Dakar vorbei. Danach ist die Enduro in der Enfield nicht mehr zu stoppen. Pflügt stoisch über alles, was in die Quere kommt hinweg, hinab in die fruchtbare Ebene des Terai. Wir tauchen ein in die Hitze der Tropen, die indische Grenze ist nur noch ein paar Kilometer entfernt. Politisch schwieriges Terrain. Durch die offenen Grenzen zu den bettelarmen indischen Nachbarprovinzen Uttar Pradesh, Bihar und West Bengal strömen nicht nur Einwanderer, sondern auch kriminelle Energien ins Land. Dabei hat Nepal mit den Maoisten eigentlich genug zu tun. Seit dem Mord an der Königsfamilie, im Juni 2001, sind die kommunistischen Umstürzler mit einer steigender Brutalität zugange. Ihr Hass richtet sich vornehmlich gegen Polizeistationen – sie sprengen sie einfach in die Luft.Bei Bardaghat geht plötzlich nichts mehr. Streikende Rikschafahrer blockieren die Straße, und es liegt eine Spannung in der Luft, die erahnen lässt, dass hier nicht um Tarife gefeilscht wird. Am Vortag sei bei einem Fest ein Mann ermordet worden, dringt zu uns durch. Wohl vor den Augen der geschmierten Polizei. Die Leute wollen Aufklärung – wo der Mörder sei, wir dürften keinesfalls passieren. Die Menge sei extrem aufgebracht, unter Umständen würde geschossen. Genauso fühlt es sich auch an. Von der bislang überwältigenden nepalesischen Freundlichkeit ist hier null und nichts zu spüren. Dunkle Gesichter fixieren unsere Motorräder, dazwischen ein Reporter der örtlichen Zeitung mit der bohrenden Frage:»Sind Sie Christ?«In einer Kneipe warten wir das Ende der Blockade ab. Zu Essen gibt’s das unvermeidliche Dal-Bhat. Eine Kombination aus würziger Linsensuppe und Reis, auf Wunsch mit Spinat oder Fleisch garniert. 30 Rupien in der Luxusausführung, 15 ohne alles. Inklusive Nachschlag. Der wird im Vorbeigehen aus Plastikeimern serviert. Linsen im Grünen, Reis im Blauen, Hühnchen und Pickles sind alle. Gegen 14 Uhr ist die Demo vorbei. Wir nehmen Kurs auf den Royal Chitwan National Park.Bei Tadi Bazar zweigt die Zufahrt ab, dann noch drei, vier Kilometer bis zu dem Brettersteg am Fluss und drüben in südwestlicher Richtung weiter. Nach Wegweisern sucht man in Nepal lange. Sie tauchen entweder unvermittelt oder gar nicht auf. Genau wie Elefanten. Du kannst ganz Südafrika nach ihnen absuchen, und mitten in Tadi stehen sie plötzlich neben dir, am ganz normalen Straßenverkehr teilnehmend. Zwischen Traktoren, Heuwagen und weiß Gott was für Vehikeln. Graue Kolosse, einen kleinen, barfüssigen Führer auf dem Rücken. Majestätisch. Kaum hörbar kommen sie daher, ihre grenzsteingroßen Stapfen nur mit leisem Tappen neben uns aufsetzend, ein Rascheln der faltigen Lederhaut, kleine, herüberpeilende Augen, der schwingende Rüssel, dem Kinder unbefangen ein paar Blätter hinstrecken. Dann schließt sich die Woge klingelnder Fahrräder und dieselvernebelnder Busse hinter ihnen. Sie sind vorbei. Welch ein Moment.Hinter Hetauda sind wir wieder in den Bergen. Kulekani, der wichtigste Pass des Landes, der die Hauptstadt mit dem Rest der Welt verbindet. Ein Priester segnet uns, bevor wir hinaufschwingen, um uns aus knapp 2600 Metern in den Hexenkessel Kathmandus hinunterzustürzen. Jetzt sind wir so weit, bereit fürs Gefecht auf der Ring Road. Diese lausige, völlige überlastete Piste, auf der sich ganz Nepal im Kreis zu drehen scheint. Fahrt mir einfach hinterher, hatte Peter gesagt, und wenn wir uns verlieren: Es gibt ein Leben nach der Road.
Motorrad Reisegeschichte Nepal : Einmal Grenzwert und zurück
Mit einer 500er-Enfield zu den Achttausendern der Erde. Eine Reise zwischen Bretterverschlägen und Pagoden-Tempeln durch eines der ärmsten und schönsten Länder Welt. Nepal bietet alle Extreme.

Foto: Classic Bike India