Die Schweißperlen stehen mir bereits 150 Kilometer hinter Stuttgart auf der Stirn. Stockholm liegt in diesem Augenblick auf einem komplett anderen Planeten. Ich bin erst einmal froh, wenn wir die nächsten vier Kilometer von Feuerthal nach Oberthulba schaffen. Auch Hannah merkt, dass hier gerade etwas mächtig aus dem Ruder läuft: „Ist das wirklich der richtige Weg, Papa?“ Für mich stellt sich eher die Frage, ob wir hier mit der 360 Kilogramm schweren Indian Chief Vintage richtig sind. Wir spickeln durch den Windschild auf die ausgewaschene, matschige Fahrrinne, die sich im dunklen Wald verliert. GS, KTM-Crosser, Unimog – all das würde hierherpassen, aber definitiv nicht der fransenbehängte V2. Wenden? An dieser Stelle unmöglich. Und der Wegweiser war eindeutig. Oberthulba – da lang. Also Zuversicht ausstrahlen und durchziehen: „Ja, und dahinten geht’s auch schon auf die Autobahn!“
Wie mit einem Schwerlastkahn bei rauer See schunkeln wir über den Forstweg durch die Rhön, von hinten wird zur Bedächtigkeit gemahnt: „Nicht so schnell, Papa!“ Und: „Geht’s dahinten wirklich weiter?“ Ich fühle mich wie ein Politiker im Wahlkampf: „Selbstverständlich …“ Aber da muss man durch, wenn man den abgedroschenen Spruch vom Weg, der das Ziel ist, zur sinnstiftenden Maxime dieser Tour erklärt. Und es klappt! Der Wald wird lichter, bald leuchten rote Dächer durchs Grün, und schon folgt der blaue Wegweiser.
"Das sieht ja uuunmöglich aus!"
Jetzt gilt es aber, wieder ein paar stramme Meter zu machen. Pustekuchen. Der Passagier meldet sich über Bordfunk: „Können wir mal anhalten?“ – „Toilette?“ – „Nein, ich muss schnell was an Rozeen schreiben!“ Dass überhaupt die E-Logistik stimmen muss, wird mich in den nächsten drei Wochen begleiten: Bei Pausen („Lass uns zu McDonald’s fahren, da gibt es freies WLAN“) oder in unseren Unterkünften: „Wo ist ’ne freie Steckdose fürs Headset? Sonst kann ich meine Playlist nicht weiterhören!“ Zugleich müssen auch wichtige Style-Fragen geklärt werden: „Soll es morgen regnen? Ich will mit der Lederjacke fahren!“ Oder: „Kannst du denen mal sagen, dass diese blöde Motorradhose vieeeel zu weit geschnitten ist! Das sieht ja uuunmöglich aus!“ Ganz im Gegensatz zur Landschaft, die sich – je weiter wir Richtung Norden kommen – immer mehr zum Indian Summer Dream & Country wandelt.
Auf schnurgeraden Alleen bollern wir durch Niedersachsen und Schleswig-Holstein Richtung „Land’s End“ auf Fehmarn. Der bärtige Seemann der „Prins Richard“ grinst breit, als die kleine Sozia den schweren Zurrgurt über den Sattel des US-Twins wuchtet. An unserem dritten Fahrtag Richtung Kopenhagen hat sich inzwischen vieles eingespielt, neben philosophischen Betrachtungen („Wenn alle auf der Welt jetzt Motorrad fahren würden, könntest du aber an der Ampel nicht mehr in der Mitte durchfahren!“) werden auch essenzielle Hinweise von Helm zu Helm besprochen: „Hast du gesehen, dass da jetzt Low Fuel blinkt!? Darf ich gleich tanken?“
Mein Schreckschrei ist bis Bullerbü zu hören
Das Handling mit der Zapfpistole hat meine Kopilotin trotz des hinderlichen Stegs im Einfüllstutzen der Indian Chief Vintage schnell verinnerlicht, was auch dazu führt, den Maschinisten bald von anderen Tätigkeiten zu entbinden – mit stolzem Blick wird dann der Motor von kleiner Mädchenhand gestartet, und auch das Einklappen des Seitenständers gehört schließlich zum Hoheitsgebiet von Hannah. Jeder, der Kinder hat, weiß, was als Nächstes passiert: Die Dinge verselbstständigen sich, schleifen sich ein, die elterliche Kontrollfunktion wird zurückgefahren. Was später irgendwo im Outback von Schweden meinen Puls aber wieder dramatisch beschleunigen wird. Der Tank ist gefüllt, der Deckel verschraubt, der Motor wird gestartet – und die Indian vom Seitenständer gewuchtet! Arrrg … mein Schreckschrei ist wahrscheinlich bis Bullerbü zu hören. Und was höre ich? Ein trockenes „war Absicht, Papa!“. Dem Motorradgott sei Dank, dass moderne Seitenständer bei Entlastung nicht mehr einschnappen!
Dass sich meine Herzfrequenz schnell wieder normalisiert, hat auch viel mit dem beruhigenden Taktschlag der 111 Cubic Inches unserer Indian Chief Vintage zu tun. In den satt verchromten Blenden ziehen Wälder, Wiesen und Wolken vorbei. Der Wind rauscht in den Ohren, Sonnenstrahlen lassen das endlose Asphaltband glitzern und flimmern. Der Rückspiegel ist so eingestellt, dass ich meine Tochter stets im Augenwinkel habe. Auch Hannahs Blick geht gedankenverloren in die Ferne, ihre Lippen bewegen sich, wahrscheinlich hört sie gerade zum x-ten Mal ihren Lieblingssong. Soll ich – mal wieder – unterbrechen und fragen, ob noch alles okay ist? Genau in diesem Augenblick fängt sie meinen Blick auf und deutet ihn genau richtig: Der Daumen geht nach oben, alles gut, weiterfahren!
Schon lange haben wir die schwedische Westküste mit traumhaften Aussichten auf das Kattegat verlassen und sind am nicht minder eindrucksvollen Vätternsee vorbei weiter Richtung Norden gepilgert. Stockholm ist plötzlich nur noch einen Katzensprung entfernt. Am Mälaren schlagen wir unser Zelt auf und entspannen einige Tage mit dem Rest der Familie, bevor wir uns wieder ins herrlich knautschige Ledersofa der Indian Chief Vintage fläzen und den Kompass auf Kurs Südsüdwest ausrichten.
Warum ist eigentlich schon Trelleborg ausgeschildert?
In unseren Köpfen haben sich inzwischen Dimension und Zeit komplett verschoben. Sind die Kilometer am Anfang unserer Reise noch zäh wie Honig in Zehnerschritten heruntergetröpfelt, fliegen sie jetzt in Hundertergröße an uns vorbei. Erbarmungslos rast der Tripzähler der Indian Chief Vintage voran und die Ostküste vorbei: 2.000, 2.400, 2.700 … das geht doch gar nicht. Viel zu schnell haben wir Öland durchkreuzt, und warum ist eigentlich schon Trelleborg ausgeschildert?
Nach einer kurzen Nacht spuckt uns die „Nils Holgersson“ in Travemünde aus ihrem Bauch. Hinter mir wird der Rest der Ferien verplant: „Wärst du arg traurig, wenn ich noch bei Oma und Opa in Braunschweig bleibe und du dann alleine weiterfahren musst?“ Ich schlucke. Minuten später spüre ich den festen Griff um meinen Bauch und dann den Helm auf meiner Schulter – eingeschlafen! Doch kaum habe ich die Indian Chief Vintage behutsam ausrollen lassen, geht auch schon der Daumen nach oben, und Hannahs Augen strahlen aus dem Rückspiegel: „Los, Papa, lass uns weiterfahren!“ Noch 150 Kilometer …
Infos und Tipps
Skandinavien-Fahrer wissen: Kurven sind im Norden eher rar. Dafür lässt sich direkt aus dem Sattel heraus eine traumhafte Landschaft genießen. Unser Tipp für alle, die mit Kind verreisen wollen!
Allgemein: Wann darf der Nachwuchs an Bord, wie lange sollte man unterwegs sein? Das Ganze in Faustregeln zu vereinheitlichen – unmöglich und zudem wenig zielführend. Rein rechtlich ist es so, dass Kinder auf dem Motorrad die Fußrasten erreichen müssen. Viel mehr schreibt der Gesetzgeber nicht vor. Umso wichtiger sind deshalb praktische Erfahrungswerte.
Grundsätzlich sollte der Nachwuchs vor einer so großen Tour bereits ausgiebig mit dem Motorradfahren vertraut sein – ob es die täglichen zwei Kilometer zur Schule sind oder an den Wochenenden die eigene Region erkundet wird. So bekommt man als Fahrer auch schnell ein Gefühl dafür, wie es um die Konzentration und Aufmerksamkeit des kleinen Passagiers bestellt ist. Bei der Streckenplanung immer großzügig Pausen einkalkulieren und nach Möglichkeit schon ein alternatives (früheres) Etappenziel im Tankrucksack haben, sollte die Müdigkeit zu- oder das Wetter umschlagen.
Motorrad: Ein Supersportler oder Power-Naked-Bike würde selbst den Fahrer schnell auf dem Zahnfleisch gehen lassen – wie sähe es dann erst für kleine Kopiloten aus? In unserem Fall hat sich die Indian bestens bewährt. Seidige Motorcharakteristik (harte Lastwechsel können Fahrer und Passagier auf Dauer mürbe machen), ein extrem bequemer Soziusplatz, rundum gut umfasst von Seitentaschen, Gepäckrolle und (!) Sissybar. Kinder lieben diese Art von „Cocooning“ – und dieses Geborgenheitsgefühl überträgt sich auch auf den Fahrer, der entsprechend gelassen Gas geben kann.
Reiseziele: Auch hier am besten auf das eigene Gefühl verlassen. Natürlich wäre auch eine Alpentour ein (machbares) Highlight. In unserem Fall hat sich Skandinavien (hier Dänemark und Schweden) als „easy going“ angeboten. (Motorrad-)Fahrerisch zwar deutlich weniger anspruchsvoll, dafür kommt aber das Kind an Bord voll auf seine Kosten. Bei Touren entlang der Kattegat- und Ostseeküste sowie im Landesinneren von Schweden (Als Tipp: Småland) laden malerische Strände, mittelalterliche Festungen, kleine Astrid-Lindgren-Dörfer und (Bade-)Seen immer wieder zu spontanen und erfrischenden Stopps ein. Was für die Weiterfahrt Gold wert ist!
Ausrüstung: Kinderbekleidung gibt es inzwischen in großer Auswahl – sei es in den großen Shopketten (Louis, Polo, Gericke) oder bei den Fachhändlern (z. B. von Büse oder Held). Ideal für lange Touren ist natürlich eine allwettertaugliche Textilkombination, gepaart mit wasserdichten Handschuhen und Stiefeln. Auf dieser Tour kam ein empfehlenswertes Set von Held zum Einsatz: Kinderjacke Jill (129,95 Euro), Tourenhose Sarai (139,95 Euro) und die Damen-Stiefel Shiva (169,95 Euro). Handschuhe hat man natürlich zweimal im Gepäck: mit luftigem Mesh das Damen-Sommermodell Desert (79,95 Euro) oder die wasserdichten Ronjas (59,95 Euro). Bezuginfos: www.held.de. Vorteil größerer Mädchen: Sie können sich auch bei kleinen Damengrößen bedienen. Ein echter Knaller, der toll ausgestattet ist und top sitzt: aus der Alpinestars-Ladykollektion die Lederjacke Oscar Shelley (459,95 Euro). Bezuginfos: www.alpinestars.com. Für die schnelle und problemlose Kommunikation an Bord empfehlen sich offene Helme, die mit großem Visier das ganze Gesicht abdecken. Auf dieser Reise hat der Shoei J-Cruise (ab 449 Euro) mit Top-Komfort (Sitz, Belüftung, Lautstärke) und -Ausstattung (Sonnenblende!) bestens überzeugt. Bezuginfos: www.shoei.com. Unverzichtbar ist ein Bluetooth-Headset zum Gegensprechen und Musikhören. Wie der Partnerkit von Cardo, hier als Modell Sho-1 bereits für den Einbau in Shoei-Helme konfiguriert (319,95 Euro), der im wahrsten Sinne kinderleicht zu bedienen ist. Bezuginfos: www.cardo.com
Unterkünfte: Kinder wollen schnell Gleichgesinnte finden und herumtoben. Was liegt da näher, als auf Campingplätzen einzuchecken. Zumal erst Zelten den Motorradurlaub wirklich rund macht. Unsere Tipps für Dänemark und Schweden: Tangloppen Camping in Ishøj bei Kopenhagen (www.tangloppen.dk); Mariefreds Camping, 30 Kilometer westlich von Stockholm mit herrlicher Badebucht und Blick auf Schloss Gripsholm (www.mariefredscamping.se) und Kalmar Camping Rafshagsudden, direkt an der Ostsee (www.kalmarcamping.se).