Ein Schutzpatron ist immer gut, man muss nur daran glauben. Im Riesengebirge, beiderseits der tschechisch-polnischen Grenze, übernimmt Rübezahl diesen Job.
Ein Schutzpatron ist immer gut, man muss nur daran glauben. Im Riesengebirge, beiderseits der tschechisch-polnischen Grenze, übernimmt Rübezahl diesen Job.
Menschen haben ihre Sagen und Mythen. Die Schotten glauben an Nessie, Norweger schieben ihren Trollen alles Mysteriöse in die Schuhe, Matrosen fürchten sich vorm Klabautermann, Mittelerdlinge vor Sauron und Rheinschiffer vor der Loreley. Die Bewohner des Riesengebirges lieben ihren legendären Berggeist Yeti – pardon, Rübezahl –, der mal als launischer Waldschrat, randalierender Riese oder als Freund der Armen und Entrechteten, also quasi als Robin Hood der Berge auftaucht. Wie so oft bei Legenden lassen sich auch bei Rübezahl die historischen Spuren schwer verfolgen. Klar ist lediglich, dass er 1553 erstmals schriftlich erwähnt wurde und noch heute in den finsteren Wäldern des Riesengebirges leben soll.
Muss er auch, denn sonst hätten die zahlreichen Andenkenläden in den Touristenorten beiderseits der Grenze keine Existenzgrundlage mehr, sind doch Rübezahlfiguren, -kostüme und sonstige Devotionalien die absoluten Bestseller. Tourismus und Forstwirtschaft sind seit Generationen die wichtigsten Einnahmequellen im Riesengebirge, wobei die meisten Besucher im schneereichen Winter kommen. Anfang Juni ist hier kaum was los, auf den riesigen leeren Parkplätzen von Spindlerúv Mlýn, Karpasc oder Pec pod Sniezka könnte man Fahrsicherheitstrainings veranstalten.
Von Trutnov kommend schwinge ich mit der Ténéré frühmorgens nordwärts in die Berge. Die hohen kahlen Kuppen um die Schneekoppe verstecken sich in dunklen Wolken. Mit 1602 Meter ist die Schneekoppe seit 20 Jahren der höchste Berg Tschechiens. Bis 1991, als sich die Tschechoslowakei in zwei souveräne Staaten aufteilte, fiel diese Ehre der 1000 Meter höheren Gerlachspitze in der Hohen Tatra zu. Die aber liegt nun in der Slowakei. Egal, die gute Straße legt sich mit den Bergen an, kurvt immer höher durch den finsteren Fichtenwald. Es wird kälter und feuchter, je näher ich der Grenze komme. Einzelne rustikale Holzhäuser, traditionell in Rot oder Schwarz mit senkrechten weißen Streifen, ducken sich auf den Bergwiesen unter den drohenden Wolken. Jenseits der 1000-Meter-Marke rolle ich durch den alten Wintersportort Mala Upa, wechsle hinüber nach Polen und wedle talwärts nach Karpasz. Die Tankstelle am Ortseingang kommt wie gerufen, nach 630 Kilometern geht dem XT-Tank so langsam der Saft aus.
Karpasz, das zu schlesischen Zeiten noch Krummhübel hieß, hat sich voll dem Tourismus verschrieben. Pensionen, Hotels, Skilifte, Wellness-Badetempel, Wildweststadt und Polens längste Rodelbahn werben um Besucher. Die skurrilste Sehenswürdigkeit ist aber die über 800 Jahre alte norwegische Stabkirche Vang. 1840 wollten die Bewohner von Vang eine größere Kirche, verkauften ihre alte für 427 Mark an den preußischen König, der sie in Einzelteilen zerlegt von Norwegen nach Krummhübel transportieren ließ.
Für den Motorradfahrer hat Karpasc indes kaum etwas zu bieten, außer einer unendlichen Ortsdurchfahrt. Also lege ich Kurs Nord an, verspricht doch die Landkarte hinter Jelenia Gora jede Menge kurviger Nebenstraßen. In Jelenia Gora, dem ehemaligen Hirschberg, lässt sich der Strukturwandel der letzten Jahrhunderte bestens erleben. Die Außenbezirke werden dominiert von Lidl, Obi, Penny und westlichen Autohäusern, danach eine Zone sozialistischer Baukunst, Plattenbauten in allen Zustandsstadien von kunterbunt renoviert bis erschreckend abgewrackt, die abgelöst wird von alten Stadthäusern, die zumeist dringend auf frische Farbe warten, und schließlich das historische Zentrum, uralte Bürgerhäuser, malerische Gassen, barocke Gewölbegänge, lebendig und überraschend schön.
Die Karte hat nicht zu viel versprochen. Kaum habe ich Jelenia Gora das Rücklicht gezeigt, tauche ich in die polnische Provinz ein. Kleine Dörfer mit stilvollen Holzhäusern, rumpelige, verkehrsfreie Alleen, kreisende Störche, es riecht nach Feuer und frischem Heu. Mohnblumen und blühender Raps, blauer Himmel und Wolken über dem Riesengebirge. Perfekte Bedingungen, um einfach nur spazieren zu fahren. Ich ignoriere die Karte, lasse mich treiben und auf Wege locken, die noch niemals Asphalt gesehen haben. Verfahren ist kaum möglich, die Berge im Süden sind immer präsent.
Die gleiche Taktik wende ich anderntags auf tschechischer Seite an. Nördlich von Vrchlabi winden sich winzige Straßen durch die Berge, passieren sehenswerte Orte wie Rokytnice, Benecko und Vitkovice mit ihren typischen gemütlichen Holzhäusern, blühende Bergwiesen, unzählige Rennradfahrer, nette Gasthöfe und weite Blicke zu den rundlichen Kuppen des Riesengebirges. Schwierig wird es allerdings, mit diesen Bergen auf Tuchfühlung zu gehen. Der Nationalpark Riesengebirge, auf Tschechisch Krkonoše, ist Wanderern und Mountainbikern vorbehalten. Die Yamaha muss draußen bleiben. Könnte sich aber in Zukunft ändern.
Erst in Spindlermühle finde ich einen Zugang, eine kleine Mautstraße, die sich hinauf zur Spindlerbaude direkt auf der Grenze schlängelt. Der Schrankenwärter stellt mir eine Genehmigung aus, und schon bollert die Ténéré entlang der jungen Elbe durch den Fichtenwald bergan. Oben auf 1200 Meter herrschen raue Bedingungen, der kalte und kräftige Wind treibt Wolkenfetzen über die Hochfläche, Bäume wachsen hier schon längst nicht mehr. Auf der benachbarten Schneekoppe liegt die Jahresdurchschnittstemperatur bei 0,2 Grad, das Klima wird als subpolar bezeichnet. Fast wie auf den skandinavischen Fjells.
Noch höher hinauf geht es nur zu Fuß. Keine schlechte Idee, ich wollte doch schon immer mal die Quelle der Elbe sehen. Also rausche ich wieder talwärts bis zum Elbgrund, tausche die Motorradstiefel gegen die Wanderschuhe und folge dem Waldweg. Hier darf die junge Elbe, die Tschechen nennen sie Labe, noch wild und völlig unreguliert sprudeln. Der dichte Fichtenwald sperrt das Licht aus. Erst weiter oben wird es heller, meine Stimmung angesichts der erstaunlich vielen Baumleichen dafür trüber. Baumsterben, letzter Akt. Tote Stämme knarzen im Wind, zeugen von der immensen Luftverschmutzung (vor allem durch Kohlekraftwerke verursacht), die in den 60er- bis 90er-Jahren den Wald im Riesengebirge leider massiv zerstört hat. Vorbei am Elbfall klettere ich die letzten Meter bis zur Quelle, ein einfacher Betonring, aus dem ein spärliches Rinnsal sickert. Aber was hatte ich erwartet? Fangen nicht alle großen Flüsse ganz klein an? Beim Abstieg zieht Nebel auf, in der mystischen Atmosphäre verwandeln sich die toten Bäume in gespenstische Gestalten. Ein Wald voller Fabelwesen, Trolle, Feen, Klabautermänner und – natürlich – Rübezahl.
Das Riesengebirge beiderseits der polnisch-tschechischen Grenze ist mit 40 Kilometer Länge übersichtlich klein. Trotzdem hat Rübezahls Reich so viel zu bieten, dass selbst nach einer Woche keine Langeweile aufkommt.
Reisedauer: 3 Tage — Gefahrene Strecke: 600 Kilometer.
Anreise: Für Sachsen gehört das Riesengebirge, das einstmals Böhmen von Schlesien trennte, zur Kategorie Tagestour, liegt Zittau doch nur läppische 60 Kilometer entfernt. Die schnellste Route aus dem Hamburger Raum führt über Berlin und Dresden. Von Westdeutschland kommend, geht es zügig über die Autobahnen A44, A7 und die neue A38 vorbei an Leipzig bis Dresden und weiter nach Tschechien. Süddeutsche können am besten über Nürnberg, Pilzen und Prag ins Riesengebirge reisen.
Sehenswert: Bei klarem Wetter lohnt die Seilbahnfahrt auf die Schneekoppe, mit 1603 Meter der höchste Berg im Riesengebirge. Die Wanderung entlang der jungen Elbe bis zur Quelle auf 1387 Meter Höhe ermöglicht intensive Einblicke in die Natur des Nationalparks, wie sie aus dem Motorradsattel unmöglich sind. Viele tschechische Städte verfügen über wunderschöne historische Marktplätze im Zentrum. Freunde rustikaler alter Holzhäuser werden beiderseits der Grenze fündig. Die norwegische Stabkirche Vang in Karpascz lohnt ebenfalls einen Besuch.
Unterkunft: Tourismus hat im Riesengebirge eine lange Tradition, vor allem im Winter. Dementsprechend gut ist die Infrastruktur. Vom einfachen Campingplatz für fünf Euro bis zum Fünf-Sterne-Luxus-Hotel ist alles vorhanden, mit dem größten Angebot im mittelpreisigen Segment der Pensionen. Das Preisniveau liegt spürbar unter dem in Deutschland.
Literatur & Karten: Von Marco Polo gibt es den Reiseführer „Riesengebirge“ für 9,95 Euro. Detaillierter ist der gleichnamige Führer aus dem Trebner-Verlag für 13,95 Euro. Eine gute Karte kommt von Marco Polo: Blatt 2 der Generalkarte Tschechien im Maßstab 1:200000. Wer auch kleinste Wege finden möchte und wandern will, ist mit der Kompass-Karte „Riesengebirge“ in 1:50000 bestens bedient.
Infos:
www.e-riesengebirge.de
www.tschechische-gebirge.de/riesengebirge
www.riesengebirge.pl
www.riesengebirge24.de
www.krkonossko.cz/de