Rhein oder nicht Rhein? Das ist hier die Frage, die gar nicht so einfach zu beantworten ist. Am Ende seiner Reise verzweigt sich der Rhein, schon lange bevor er die Nordsee erreicht, in unzählige Arme, heißt mal Rijn, Waal, Maas oder Lek, die ihrerseits durch Kanäle zu einem riesigen Wasserstraßen-labyrinth verbunden sind. Nur eins ist hier klar: Am Schluss schwappt alles ins Meer.
Vom hübschen kleinen Ort Westkapelle mit seinem massiven 54-Meter-Leuchtturm folge ich dem Deich nordwärts. Wer in Hollands Westen nach Aussichtspunkten sucht, klettert auf den Leuchtturm oder den Deich und sieht eine Landschaft, der jegliche Dramatik fehlt. Der Horizont ist waagerecht. Immer.
Die N57 springt von Insel zu Insel, überquert auf langen Brücken das Rheindelta und endet im größten Hafen Europas: Rotterdam. Ein 40 Kilometer langer, verwirrender Komplex aus Hafenbecken, Raffinerien, Kraftwerken, Öltanks, Containerterminals und Rangierbahnhöfen. Erst an der Maasvlakte, wo die Hafenausfahrt ins Meer mündet, kann ich die Ténéré auf dem Deich abstellen, durch-atmen und die Aussicht übers offene Meer genießen.
Zudem ist die Maasvlakte der optimale Platz zum „Schiffe gucken“. Jeder der 35000 Hochseedampfer, die Rotterdam pro Jahr anlaufen, kommt hier vorbei, vom Küstenmotorschiff aus Brunsbüttel bis zum 350 Meter langen Eisenerzfrachter aus Brasilien. Die große weite Welt besucht Holland, und für manche Schiffe ist die Reise hier beendet. Für mich fängt sie erst an: 1230 Kilometer will ich gegen den Strom fahren, bis zum Quellenstu-dium in den Schweizer Alpen.
Abseits der Autobahnen und Großstädte wirkt das Land idyllisch und beschaulich, kleine Häuser, oft reetgedeckt, direkt am Kanal mit Bootsanlegestelle und blumenübersäten Gärten. Rotter-dam scheint Lichtjahre entfernt. Entlang des Lek, auch Nederrijn genannt, rollt die Yamaha entspannt durchs topfebene Land. Wiesen, Kühe, im Westwind rauschende Pappeln, unzählige Kanäle, ab und zu eine Windmühle und kleine Dörfer wie Nieuw-Lekkerland, Ottoland oder Hoogblokland. Eine überaus beruhigende Szenerie.
Bei Zaltbommel erreiche ich den schiff-reichen Hauptarm des Rheins. Steinerne Buhnen schieben sich vom Ufer in den Fluss, brechen die Strömung und sorgen in Ufernähe für ruhiges Wasser. Zwischen ihnen gibt es kleine Sandstrände, die bei sommerlichen 32 Grad gut besucht sind: Kinder toben, Männer grillen und Frauen führen topmodische Bikinis vor. Rimini ist überall.
Zwischen Dodewaard und Nijmegen verläuft die spannendste Straße seit der Nordsee. Sie jongliert auf der Deichkrone und macht jede der erstaunlich vielen Kurven des Deichs mit. Endlich kommt Fahrspaß auf, und die Zahl der einheimischen Motorradfahrer steigt drastisch. Kurven sind in Holland ein kostbares Gut. Was dem einen seine Alpen, ist dem anderen sein Deich.
Vorbei an Nijmegen überquere ich die fast unsichtbare Landesgrenze und bin am Niederrhein. Die Landschaft ändert sich kaum, wenn es nun auch kleinere Wälder zu bestaunen gibt.

Und einen bizarren Erlebnispark: das Kernwasser-Wunderland bei Kalkar mit dem ehemals heiß umstrittenen schnellen Brüter. In den 70er-Jahren strahlte hier die Fata Morgana der Atomindustrie, die das nukleare Prestigeobjekt mit schlagkräftiger Hilfe der Bundesregierung ins Niemandsland betonierte. Vier Milliarden Euro wurden versenkt, zahllose Prozesse geführt, Schlachten am Bauzaun geschlagen, aber letztlich ging das Kraftwerk nicht in Betrieb. 1995 kaufte ein holländischer Millionär die Anlage, baute sie zu einem merkwürdigen Freizeitpark um und wirbt nun damit, dass alles garantiert strahlungsfrei sei.
Die solare Strahlung auf der Nase, treibe ich die Ténéré südwärts. Der Rhein mäandert in weiten Kurven durchs grüne friedliche Land. Aber dann kommt die Schimanski-Stadt Duisburg in Sicht. Schluss mit der Beschaulichkeit, qualmende Schornsteine, abgewrackte Stahlwerke, triste Vororte und der größte Binnen-ha-fen der Welt. Der Strukturwandel der Kohle- und Stahlindustrie hat Duisburg mächtig zugesetzt, hat vieles verändert, nicht immer zum Guten.
Das Dorf an der Düssel, nur wenige Kilometer rheinaufwärts, ist von ganz anderem Charakter. Landeshauptstadt, Zentrum der Schönen und Reichen, extravagante Architektur am neuen Medienhafen und internationaler Flughafen. Düsseldorf macht auf Weltstadt und liegt dabei im ständigen Wettstreit mit der eigentlichen Metropole am Rhein - Köln, Synonym für das jecke Leben zwischen Karneval, Kölsch, Klüngel und Kirche. Mag Düsseldorf auch moderner sein - was der Kölner natürlich bezweifelt -, gegen das einzigartige Stadtpanorama um Dom und Strom macht Düsseldorf nun wirklich keinen Stich. Vor allem der gigantische Dom mit seinen 157 Meter hohen Zwillingstürmen dominiert die Stadt. Wer mag, kann den düsteren Riesen hautnah erleben, über 509 Stufen einen der Türme besteigen, die gotische Baukunst aus 600 Jahren bewundern und die Aussicht genießen. Die reicht bei klarem Wetter von Düsseldorf bis zum Siebengebirge.
Gebirge - endlich ist das platte Land vorbei. Vor uns liegt der schönste Teil des Rheins, der Durchbruch durchs Rheinische Schiefergebirge. Birgit ist nun mit von der Partie. Als Kölnerin hat sie zwar ihr Leben am Ufer des Stroms verbracht, hat aber noch nie nachgesehen, woher das ganze Wasser eigentlich kommt. Einen guten Teil davon steuert die Mosel bei, die am Deutschen Eck in Koblenz all ihr Wasser dem Rhein schenkt.
Die nächsten 60 Flusskilometer bis Rüdesheim haben es in sich, sind als Mittelrheintal mit der Auszeichnung „Unesco-Weltkulturerbe“ geadelt worden. Nirgendwo sonst ist die Burgendichte höher als hier. 31 mittelalterliche Gemäuer thronen beiderseits des Rheins in aussichtsreicher Lage. Für die Burgherren im 13. und 14. Jahrhundert hatte die Wahl des Bauplatzes vor allem zwei Gründe: strategisch auf der sicheren Seite zu sein und ordentlich Zoll von den vorbeifahrenden Schiffen zu kassieren. Wegelagerei im Mittelalter.
Heute sind die Burgen der Gipfel der vielstrapazierten Rhein-romantik. Die allerdings nur zu oft in Kitsch, Lärm und Kommerz versinkt, besonders augenfällig in Boppard und Rüdesheim. So schön das Tal auch ist, das permanente Getöse von Bahn und Autos nervt. Und Kurven gibt es auch nicht. Das lässt sich leicht ändern, klettern doch wunderbare Straßen aus dem Tal hinauf Richtung Taunus oder Hunsrück. In Boppard biegen wir ab, schwingen durch ein Dutzend Serpentinen und noch mehr Kurven hinauf in die Berge, verlieren uns auf paradiesisch ruhigen kleinen Nebenstraßen, die durch alte Buchenwälder kreuzen, und stranden schließlich hoch über St. Goar an einem fantastischen Aussichtspunkt.

Direkt unter uns hat der Rhein seine berühmteste Dreifachkurve ins Gebirge gefräst, zirkelt in engem Radius um den Loreley-Felsen und zwingt die Kapitäne, ihre langen Schiffe in abenteuerlichen Drifts ums Eck zu bugsieren. Dank moderner Steuertechnik und ampelgeregelter Durchfahrt ist das heute meist kein Problem mehr. Aber in den Zeiten, als die Femme fatale Lore von ihrem Felsen Ley die Binnenschiffer mit ihrem Gesang betörte, setzten diese ihre Kähne reihenweise auf Grund. So erzählt es jedenfalls die Legende. Heute verzaubert die Loreley vor allem Besucher aus Übersee.
Wir seilen uns wieder ab ins Tal und schauen uns die außergewöhnlichste aller Rheinburgen an: Pfalzgrafenstein, die wie ein mittelalterliches Fantasie-Schlachtschiff auf einer kleinen Insel mitten im Fluss gebaut wurde und nur per Boot zu erreichen ist. Die Atmosphäre zwischen meterdicken Mauern, 650 Jahre alten Eichenbalken und Dutzenden von Zinnen und Türmchen ist einzigartig.
15 Kilometer weiter endet das enge Tal abrupt und geht bei Bingen in die Rhein-ebene über. Zeit, ein paar Meter zu machen, den Fluss links liegen zu lassen und die Motorräder durch Frankreich südwärts zu treiben. Spannend wird es wieder hin-ter Basel, wo der Rhein grün und klar in Sichtweite des Schwarzwalds strömt.
Vorbei an Bad Säckingen, -Rheinau und Diessenhofen, verziert mit wunderschönen alten Häusern und historischen Holzbrücken, nehmen wir den Bodensee ins Visier und bestaunen natürlich noch den imposanten Rheinfall bei Schaffhausen.
Wenig später knacken die Berge beiderseits des dicht besiedelten Tals die 2000-Meter-Marke. Der Rhein ist eingedeicht, kanalisiert und hat als ständigen Begleiter die lärmige Autobahn. Doch hinter Chur wird alles besser, das Tal enger, die Berge höher und der Fluss wilder. Bei Reichenau teilt er sich in seine beiden Quellflüsse Vorder- und Hinterrhein. Der Hinter-rhein verschwindet in der dramatischen Viamala-Schlucht. 300 Meter hohe Wände lassen dem Fluss kaum noch Platz, er rauscht und wirbelt über Stufen und enge Löcher, darf sich zwischendurch in ruhigen und glasklaren Strudeltöpfen ausruhen. Ab Avers folgen wir dem Averser Rhein, klettern mit den Enduros immer höher in die alpine Welt bis nach Juf auf 2126 Meter. Uralte Häuser mit Dächern aus massiven Steinplatten, Kuhglockengebimmel und Bauern, die das Heu per Hand wenden. Pure Alpen-idylle. Aus dem Seitental des Lago di Lei fließt sogar italienisches Wasser in den Hinterrhein.
Seine Quelle ist fast in Sichtweite, versteckt sich unter dem schrumpfenden Gletscher des Rheinwaldhorns, das sich hoch über dem San-Bernardino-Pass erhebt. Der Bernardino ist eine fahrerische Offenbarung, seine Südrampe kurvt fast 2000 Meter abwärts bis Bellinzona, wo das Leben schon deutlich italienische Züge trägt. Wir polen die Einzylinder auf Nordkurs, flitzen über den Lukmanierpass nach -Disentis zum Vorderrhein, der hier auf Rätoromanisch Rein Anteriur genannt wird. Im Gegensatz zu Bellinzona ist Disentis Bilderbuch-Schweiz: Geranien im Überfluss, Holzhäuschen, grünste Wiesen, gemächlich, traditionell und touristisch.
Nur noch 25 Kilometer bis zur Quelle. Das weite Tal verengt sich, steuert auf den Oberalppass zu. Im Halbrund der Dreitausender stürzen Dutzende Wasserfälle in die Tiefe. Einer von ihnen entspringt dem Tomasee. 2345 Meter hoch gelegen, gilt er als die Quelle des verkehrsreichsten Stroms Europas, 1230 Kilometer von der Mündung bei Rotterdam entfernt. Womit unsere Rheinreise zumindest thematisch beendet wäre. Aber am Oberalppass einfach umzukehren, wäre töricht.Denn der Oberalp ist der Aperitif zu den spannends-ten Pässen der Schweizer Alpen: Grimsel, Susten und Furka. Die können wir unmöglich auslassen. Rhein oder nicht Rhein, das ist hier keine Frage mehr. Das magische Pässe-Dreieck ruft.

Reisezeit
Der Rhein ist bekannt für sein mildes Klima. Deshalb kann die Reise - halbwegs zivilisierte Temperaturen vorausgesetzt - bereits im April starten. Die hohen Alpenpässe im Quellgebiet des Rheins öffnen allerdings frühestens im Mai. Als besonderer Tipp für den Mittelrhein zwischen Bingen und Koblenz gilt die erste November-woche, wo das leuchtende Gelb der Weinberge das Tal verzaubert.
Übernachten
Freie Auswahl. Vom Campingplatz für acht Euro bis zum Fünf-Sterne-Hotel oder einer zünftigen Übernachtung in einer Burg für 250 Euro geht alles.In den meisten Orten gibt es ausreichend Privatpensionen. Fast jede Stadt hat eine Touristeninformation, wo es auch Zimmernachweise gibt.
Sehenswert
Entlang des Rheins gibt es schier unendlich viel zu entdecken. Deshalb hier nur eine subjektive Auswahl von Höhepunkten. Die dicksten Pötte sieht man an der Einfahrt des Rotterdamer „Europoort“ bei Maasvlakte. Ebenfalls beachtlich sind die gewaltigen Sturm-flutsperrwerke wie das zweiflügelige Maeslantkering bei Rozenburg, das Rotterdam vor den Gewalten der Nordsee schützen soll. Unbedingt sehenswert: die 19 Windmühlen bei Kinderdijk. Höhepunkte des Niederrheins sind vor allem die Ruhe und Weite der Landschaft, garniert mit hübschen Städten wie Xanten. Von ganz anderem Kaliber sind die Großstädte Duisburg und Oberhausen mit ihren inszenierten Industrieruinen (Landschaftspark Duisburg-Nord), das selbstbewusste Düsseldorf oder die Domstadt Köln. Die beste Übersicht auch auf gotische Details bietet die Aussichtsplattform auf einem der 157 Meter hohen Domtürme. Die besten Einblicke in die „Kölsche Seele“ gibts dagegen in einem der zahlreichen Brauhäuser - oder natürlich zur Karnevalszeit. Einer der Höhepunkte ist das Mittelrheintal zwischen Koblenz und Rüdesheim. Die weltberühmten Rheinwein-Orte lohnen einen Besuch wegen ihrer mittelalterlichen Fachwerk-Architektur. Besonders schön: Linz, Boppard, Oberwesel und Bacharach. Viele der 31 Burgen können besichtigt werden, einige bieten Übernachtungen oder Ritterspiele an. Näheres dazu bei den Touristen-Informationen. Wenig spannend geht es zwischen Mainz und Basel zu, der Rhein ist oft kanalisiert. Sehenswert sind aber die Altrheinarme, hier vor allem die Flussoase Taubergießen. Östlich von Basel gibt es erneut malerische Orte, und der Fluss ist deutlich schmaler. Die meisten Orte am Bodensee lohnen einen Besuch. Südlich des Bodensees wird es ab Chur spannend: Die Viamala-Schlucht, jedes Seitental, das sich hoch in die Berge schlängelt, die beiden Rheinquellen und abschließend die Alpenpässe sind erlebenswert. Ab Bellinzona lockt sogar der Abstecher zum Lago Maggiore.
Motorrad fahren
Die Straßen, die dem Rhein hautnah folgen, bieten zwar die besten Blicke auf den Strom, selten aber fahrerische Höhepunkte. Abwechslung versprechen die zahlreichen Nebenstraßen, die vor allem im Mittelrheintal hinauf in Hunsrück oder Taunus kurven (siehe Reportage in Motorrad 9/2009). Weiter südlich locken Abstecher in den Schwarzwald und die Vogesen. In den Alpen findet schließlich jeder Straßen nach seinem Geschmack.
Literatur
Viele Reiseführer beziehen sich nur auf den Mittel-rhein, etwa der HB-Bildatlas „Der Rhein zwischen Mainz und Köln“ für 8,50 Euro. Der Bildband „Der Rhein zwischen Schaffhausen und Nordsee“ von Manfred Fenzl (Edition Maritim, 44 Euro) deckt schon mehr ab. Karten: Michelin-Blatt 532 Niederlande Süd, Maßstab 1:200000, Generalkarten von Mairdumont, Blätter 4, 5 und 6. Für die Schweiz: Shell Länderkarte, Maßstab 1:301000 oder Generalkarten Schweiz in 1:200000.