Normalerweise hält die Insel ihre Besucher im Herbst mit dem ungestörten Genuss von Stränden, Straßen und Pisten in den letzten wärmenden Sonnenstrahlen gefangen. Aber es kann auch deutlich heftiger kommen.
Normalerweise hält die Insel ihre Besucher im Herbst mit dem ungestörten Genuss von Stränden, Straßen und Pisten in den letzten wärmenden Sonnenstrahlen gefangen. Aber es kann auch deutlich heftiger kommen.
Ich sitze hinter Schloss und Riegel. Wie neulich ein paar deutsche Biker, die mit übersteigertem Selbstwertgefühl versuchten, bei den Carabinieris ihre coolen Braincaps zu legitimieren. Ich bin allerdings in einem ganz anderen Gefängnis gelandet. Direkt unterm funkelnden sardischen Sternenhimmel. Schuld trägt das Navigationsgerät. Das mich den ganzen Tag mit tollen Routen und Abstechern versorgte und – als unbemerkt die Dämmerung hereinbrach – auf »kürzester Strecke« zu meinem Quartier nahe des Bergarbeiterdörfchens Igurtosu lotsen sollte. Fast schon im Blindflug ging’s über eine steile, holprige Piste zu Tal. Bis dieser Zaun auftauchte. Samt Schranke. Mist.
Um die Schranke komme ich gerade so noch rum, doch irgendwas stimmt hier nicht. Aber das Navi zeigt unbeirrt eine konstant kürzer werdende Distanz zum Ziel. Also weiter. Bis zum nächsten Tor. Ebenfalls zu. Inzwischen ist es komplett finster. Da fällt mir der Parkwächter vom Strand in Piscinas ein. Der von einer Strafgefangenenkolonie in der Gegend erzählte, bei Is Arenas. Der Blick auf das Schild auf der anderen Seite des Tores bestätigt die Befürchtung – ich bin drin. Ganz offensichtlich. Was tun? Bei Nacht auf der üblen Piste zurückklettern? Besser nicht. Also das Tor inspizieren. Nur eine kleine Kette hält das Schloss. Die Eisensäge am Multi-Tool könnte es packen. 20 filmreife Minuten später ist sie offen. Die extremste Szene auf Sardinien, tief im Südwesten an der Costa Verde. Selbst nach 14 Reisetagen auf der Insel starker Tobak.
Begonnen haben diese zusammen mit ein paar Freunden in der quirligen Hafenstadt Olbia, geografisch diagonal entgegensetzt im Nordosten. An wunderschönen Stränden im Norden und Süden der Stadt und mit ersten Offroad-Abstechern. Wie zu dem naturbelassenen Berchida-Strand und später auf Asphalt zur Cala Gonone. Wenige Kilometer weiter kommt es entlang der gewundenen SS125 Richtung Dorgali bereits zu ersten fahrerischen Hochgenüssen. Stetig aufsteigend schwingt sich das griffige Asphaltband durch die üppigen Kiefernwälder des National Parks Golfo di Orosei e del Gennargentu gen Süden. Sardiniens bekannteste Schlucht, die Gola su Gorroppu, fliegt tief unten zur Rechten vorbei, und wenig später zweigt eine Stichstraße zur Codula di Luna hinab, der Mondbucht. Auf grobem, löchrigem Asphalt geht es durch dichten Wald und an duftendem Orleander vorbei durchs Hinterland des Golfo di Orosei, einem steinigen Kletterparadies. Leider endet der befahrbare Weg weit oberhalb des Meeres. Doch zum Zelten taugt der Platz hervorragend – bis sich kurz vor Sonnenaufgang eine Herde halbwilder, braun-rosa gescheckter Schweine grunzend über die Lebensmittelvorräte hermacht.
Sardiniens Hirtengesellschaft ist eine offene Angelegenheit. Esel, Ziegen, Pferde, Schafe oder eben Schweine laufen überall frei umher. Nähere Begegnungen mit ihnen sind folglich keine Seltenheit. Dem Meer näher zu kommen erweist sich an dieser Stelle dagegen als weit schwieriger. Erst nach einer vierstündigen Wanderung an Schweinesuhlen und Kletterfelsen vorbei ist das glasklare, schnorcheltaugliche Wasser erreicht. Weiter im Süden fallen die Meereszugänge leichter, wie sich später herausstellen soll. Etwa an der Felsnadel der Punta Pedra Longa oder den herrlich roten Porphyr-Stränden von Marina di Gairo.
Zurück auf der SS 125 rollen wir nach Oliena und Orgosolo im Sopramonte-Gebirgszug. Allmählich treten anstelle der quirligen Strände das ruhige Insel-innere mit den dicht bewaldeten Barbagia-Bergen. Auf dem Weg nach Orgosolo lockt eine Schotterpiste hinauf in den Sopramonte und zur 1206 Meter hohen Punta Solitta. Allerdings wird die Piste kurz vor dem Gipfel so steil, dass die Räder keinen Grip mehr finden und sich die Africa Twin kaum mehr sicher abstellen lässt. Okay, also den Rest zu Fuß.
Kontrastprogramm in Orgosolo. Wo in der Hauptstraße hunderte Murales prangen, jene politischen Wandmalereien, die sogar manches deutsche Polit-Ereignis abbilden. Neben Darstellungen der endlosen italienischen Korruptionsskandale ist Helmut Schmidt mit dem Nato-Doppelbeschluss genauso karikiert wie das RAF-Mitglied Gudrun Ensslin. In den 30er Jahren noch aufgerieben von Familienfehden, schloss sich Orgosolos Hirtengesellschaft 1969 zusammen, um höchst engagiert das kommunale Weideland auf dem Pratobello vor der Einrichtung eines Nato-Militärübungsplatzes zu bewahren. Als die Soldaten und Panzer anrückten, stellte sich ihnen die gesamte Bevölkerung Orgosolos entgegen und erzwang schließlich den Truppenabzug.
Der Gedanke an das Nato-Vorhaben sorgt bei der Fahrt hinauf zum Pratobello für Gänsehaut. Ein Traumsträßchen führt zunächst durch lichten Wald, in dem Vieh weidet und unter fast jedem Baum ein schattiges Picknickplätzchen liegt. Dann wechselt die Vegetation von Stein- zu Korkeichen und Kastanien, später zu Kiefern. Die Bewohner des kleinen Dorfs Funtana Bona erlauben, einen der Picknickplätze zum Campen zu nutzen. So reicht die Zeit vor Sonnenuntergang noch, um die Piste zum 1316 Meter hohen Monte Novo San Giovanni zu erkunden. Wo eine herrliche Rundumsicht anschaulich die Größe Sardiniens verdeutlicht: Das Meer ist trotz endloser Fernsicht nirgends zu sehen.
An Nuoro vorbei führt die Strecke weiter Richtung Westküste – und durchquert kilometerweit ein Waldbrandgebiet, in dem nur die mächtigen Steineichen mit schwarzen Stämmen und eingerollten Blättern überlebt haben, der Rest ist vernichtet und von Totenstille umfangen. Bei Macomer existieren noch die Überreste frühgeschichtlicher Turmbauten, sogenannter Nuraghen, heute allerdings meist nicht mehr als ein Haufen riesiger Felsklötze. Dann endlich kommt bei Villanova Monteleone wieder das Meer in Sicht. Gute 20 Kilometer noch bis Alghero, der einzigen katalanischen (spanischen) Stadt auf italienischem Boden. Eine Stadt zum Bleiben übrigens – wenn nicht die pure Lust an den herrlichen Kurven der Küstenstraße weiter bis ins knapp 50 Kilometer südliche Bosa locken würde. Die Sonne steht schon tief im Westen und begleitet mit letzten goldenen Strahlen den dramatischen Streckenverlauf. Vorbei an Sarazenentürmen, mal hoch oben im Fels, dann tief unten fast am Wasser. Tage, die keinen ihrer Kilometer spüren lassen.
Auf der Landkarte sah die topf-ebene Sinis-Halbinsel beinahe etwas abschreckend aus, doch die Wirklichkeit ist überwältigend anders. Was Neptun den Sarden an den Strand von Porto is Arutas zauberte, ist ein Gesamtkunstwerk. Fünf Kilometer lange Bänder aus reflektierenden, reiskornartigen Steinchen, geformt von Meeresströmungen, die an der vorgelagerten Quarzsandinsel Mal di Ventre ihr mahlendes Werk verrichten. Zwischen den Badeorten Mari Ermi und Is Arutas entstand so der berühmte Reiskörnerstrand. Schnorchler werden entdecken, dass es unter Wasser heller als darüber ist!
Nun gilt es nur noch eine kleine Durststrecke von der Sinis-Halbinsel durch die Tiefebene von Arborea zu überwinden. Hier wird der überwiegende Teil von Sardiniens Milchproduktion abgewickelt, und entsprechend sieht es aus: Eine fruchtbare, von Entwässerungsgräben durchzogene Ebene, endlose Pappelreihen und am Meer ein ausgedehnter Pinienhain. Ehemals ein sumpfiges Malariagebiet, das Mussolinis Planer trockenlegten und die Stadt anschließend in »Mussolina« umtauften.
Südlich davon beginnen die bizarren Formen des Küstengebirges der Costa Verde. Wo sich Europas zweithöchste Sanddünen vor dem tiefblauen, glasklaren Meer aufbauen und dahinter der namensgebende immergrüne Wald liegt. Doch Vorsicht! Hier ist die Stelle, an der man unversehens hinter Schloss und Riegel geraten kann. Aber hier beginnt auch das Paradies Sardiniens. Zwischen der Steilküste bei Fontanamare im Süden, mit dem gewaltigen, der Küste vorgelagerten Felsen Pan di Zucchero bei Masua sowie den kleinen Verbindungswegen über die Cala Domestica nach Buggerru. Und jener prächtigen Panorama-Enduro-Piste zum Arcu Genna Bogai. Von dort weiter auf der Teerstraße Richtung Süden oder Norden – im magischen Dreieck von Iglesias, Portixeddu und Marina di Arbus gibt Sardinen noch einmal alles. Zahllose Kräuter duften, und die Ausblicke aufs Meer sind nahezu karibisch. Wer nicht versehentlich die Strafkolonie erwischt, erfährt die schönsten Strecken Europas.
Anreise
Die ganzjährig verkehrenden Fährschiffe starten vorwiegend in Genua (zehn Stunden) oder Livorno (sechs Stunden) in Richtung Olbia an der Nordostküste oder Porto Torres im Nordwesten. Eine Person inklusive Motorrad (Moby Lines) zahlt hin und zurück auf beiden Routen rund 100 Euro. Außerdem im Rennen: Corsica-Ferries, SNCM, Tirrenia und Grandi Navi Veloci. Gute Übersicht bieten die Internetportale www.ocean24.de, www.ferrylines.de, www seatour24.com. Bis Ende November fährt der DB Autozug noch unter dem Aktionscode »Saisonabschluss 07« für 99 Euro (einfache Fahrt) von mehreren Bahnhöfen in Deutschland gen Süden, unter anderem nach Livorno. Im nächsten Frühjahr eröffnet in Alessandria ein neuer Terminal, der sich für Sardinienreisende ebenfalls anbietet. Preise: ab 350 Euro hin und zurück von Düssel-dorf. Näheres unter www.autozug.de.
Klima/Reisezeit
Meiden sollte man nur den Hochsommer. In den Ferienmonaten Juli und August landen an manchen Tagen bis zu 60000 Reisende auf der Insel. Davon sind 80 Prozent Italiener und 20 Prozent Ausländer. In den Monaten davor und danach ist es überall leerer und die touristische Infrastruktur wird auf ein Minimum heruntergefahren. Beste Zeit zum Motorradfahren: April bis Juni sowie September/Oktober. Im Winter ist es zwischen 12 und 23 Grad warm, es kann aber sehr windig und regnerisch sein.
Straßen/Pisten
Sardinien bietet nicht nur eine Vielzahl außergewöhnlich toller Straßen für Motorradfahrer, sondern auch jede Menge Pisten. Denn im Hinterland und an manchen entlegenen Küsten gehört die Schotter-verbindung zum ganz normalen Verkehrsweg. Nur in den Nationalparks ist das Fahren jenseits der Straßen reglementiert. Besonders schöne Strecken finden sich an der Costa Verde, in der Gegend um Orgosolo am Sopramonte oder in der Barbagia, dem großen Steingarten der Insel. Auf der Sinis-Halbinsel kann man auf Staubpisten hinter dem Meeressaum entlang fahren. Die Kümmerly + Frey-Karte (siehe Literatur) zeigt viele der erwähnten Pisten recht gut, während sie in der Generalkarte schwerer erkenn-bar sind. Wer es genauer will, kann sich im Spezialbuchhandel um italienische Militärkarten bemühen: Instituto Geografico Militare, Carta Topo-grafica d’Italia in verschieden Maßstäben (1:25000, 50000 oder 100000), allerdings mindestens zehn Jahre alt (militärische Karenzzeit). Top-Strecken: Dorgali–Arbatax, Alghero–Bosa, Arbus–Portixeddu, Iglesias–Fluminimaggiore, Buggerru–Fontanamare, Buggerru-Genna Bogai (offroad).
Organisierte Trips
Wer nicht allein reisen will, kann im kommenden Jahr mit dem MOTORRAD action team Ende September eine neuntägige Sardinien-Straßentour unternehmen. Preis: 1990 Euro. Infos und kosten-loser Katalog unter Telefon 0711/182-1977 oder www.actionteam.de.
Übernachten
Die meisten Unterkünfte liegen in den Badeorten an der Ost- und Nordküste. Der Westen und der Süden sind dagegen nur punktuell erschlossen. Im Inselinneren ist das Angebot noch dürftiger. Eine Ausnahme bilden die oft ganzjährig geöffneten Agriturismo-Betriebe, die aber wenig mit dem rustikalen Charme von Ferien auf dem Bauernhof gemein haben, obwohl sie meist in unmittelbarer Nähe zu Bauernhöfen liegen. Preise: 25 bis 35 Euro für die Übernachtung, Halbpension ist oft möglich, und absolute Luxusversionen gibt’s ebenfalls. Näheres: www.agriturismo.it. Ebenfalls interessant ist die Seite www.bikershotel.it/, die 40 Einträge für Sardinien bietet.
Camping ist auf Sardinien im Sommer sehr verbreitet, und bei Hochbetrieb wird’s an der Ostküste schwierig, ein ruhiges Plätzchen zu finden. Im Westen ist das Angebot zwar dünner, dafür geht’s hier meist ruhiger zu. Im Inselinnern finden sich kaum Campingplätze, doch wildes Zelten wird oft toleriert.
Ein paar Tipps: Camping Nurapolis (Sinis-Halb-insel) in Narbolia, E-Mail: camping@nurapolis.it. Sciopadroxiu (Costa Verde), Marina di Arbus, an der Straße Igortosu–Piscinas. Camping Le Palme (Costa Verde), Marina di Scivu, an der Straße zum Scivu-Strand, www.campinglepalme.com.
Essen und Trinken
Die ehemalige Hirtenküche Sardiniens im Inselinneren ist eine Küche, bei der Wildbret, junge Schweine (porceddi), Wurstwaren wie die überall präsente Salsiccia, Schaf und einhei-misches Gemüse auf den Tisch kommen. Besonders empfehlenswert: das »sardische Notenpapier« (Pane Carasau), ein dünnes getrocknetes Hirtenbrot, und der Peccorino sardo, der sardische Schafskäse, oder die maultaschenähnlichen Culurgionis. Die jüngere Meeresküche stammt dagegen von Spaniern und Genuesen, die Sardinien zeitweise beherrschten: beispielsweise Fischsuppe oder in Essig marinierte Meeräschen. Restaurant-Tipp: »Il Refugio« in Baunei (Ogliastra) an der Kirche von San Pietro. Es gibt traditionelle Gerichte vom Holzfeuer. Gut isst man meist auch in den einfachen Strandbars.
Literatur und Surftipps
Sowohl der »Sardinien«-Band aus dem Michael Müller Verlag (Eberhard Fohrer, 660 Seiten, 10. Auflage 2006, 22,90 Euro) als auch der ent-sprechende Band von Reise Know-How (Peter Höh/Kristine Jaath, 696 Seiten, 4. Auflage 2006, 21,50 Euro) bieten maximale Infos für Indivi-dualreisende und sind daher auch für Motorrad-urlauber optimal geeignet. Sehr detailfreudige und empfehlenswerte Karten kommen von Kümmerly + Frey oder Marco Polo (Generalkarte Italien), beide im guten Maßstab 1:200000. Siehe auch Straßen/Pisten. Gute Web-Pages sind: www.sardinien.com, www.sardinien.de und www.wikipedia.org/wiki/Portal:Sardinien
Die Strecke
Olbia, la Caletta, Berchida, Dorgali, Codula di Luna, San Pietro, Punta Pedra Longa, Bari Sardo, Marina di Gairo, Orgosolo, Oliena, Funtana Bona (Monte Novo San Giovanni), Nuoro, Macomer, Villanova Monteleone, Alghero, Bosa, Sinis-Halbinsel, P. is Arutas, Guspini, Marina di Arbus, Piscinas, Igurtosu, (Montevecchio), Is Arenas, Scivu, Portixeddu (Capo Pecora), Buggerru, Cala Domestica, Masua (Pan di Zucchero), Portovesme, Isola di San Pietro (Carloforte), Buggerru, (offroad: Buggerru–Valico di Genna Bogai), Fluminimaggiore, Igortosu, Nuoro, Capo Coda Cavallo, Olbia.
Die zweitgrößte Mittelmeerinsel ist quasi ein Kontinent en miniature und bietet auf 270 mal 120 Kilometern Ausdehnung enorme landschaftliche Vielfalt: die sandige Gallura, das Gebirge des Gennagentu-Massivs, Hochebenen wie die von Wildpferden bevölkerte Giara di Gesturi, tief eingeschnittene Schluchten wie die Gola su Gorroppu, unwegsame Stein- und Korkeichenwälder und vor allem kilometerlange Strände in allen Variationen. Auf die rostigen Zeugen einer vergangenen Mienenarbeiterkultur stößt man im Südwesten an der Costa Verde. Ihre Silber-, Zink-, Blei- und Kupfer-bodenschätze wurden bis ins 19. Jahrhundert abgebaut. In den sandigen Abschnitten der Costa Verde sind bei Ingurtosu und Montevecchio die Spuren in Form von rostigen Förderanlagen und verfallenen Arbeitersiedlungen noch überall sichtbar.