Südwest-Ungarn

Südwest-Ungarn Wo Stille hörbar ist

Der ungarische Motorradjournalist János Mezo entdeckte in seiner Heimat einen fast vergessenen Landstrich, Örség – die Wachhut. Und erkor sie zu seinem Extra-Tourentipp für alle Südosturlauber.

Wo Stille hörbar ist Mezo

Oft habe ich gegrübelt, was ich einem Besucher von Ungarn zeigen würde. Und hätte es vermutlich jahrelang so gemacht wie alle anderen, Budapest, Plattensee und die Puszta vorgeführt. Doch dann habe ich etwas kennen
gelernt, das mehr zu bieten hat als Balaton und Puszta zusammen: Orség – die Wachhut. Vor zehn Jahren kursierte die Nachricht, dass in Südwest-Ungarn halbe Dörfer leer und ganze Anwesen für ein Butterbrot zum Verkauf stünden. Das erweckte Neugier. Obwohl weder extrem markant noch geographisch sehr einprägsam, bildet die Wachhut eine Besonderheit. Nördlich und östlich eher pragmatisch von den Landstraßen 8 und 86 (Körmend–Zalalövo) begrenzt, im Westen und Süden von den Staatsgrenzen Österreichs und Sloweniens, machte sie sich eher durch ihre historische Rolle einen Namen. Denn die Bewohner der Wachhut bildeten einst das Bollwerk gegen Angriffe von Westen. Sie lebten steuerfrei, mussten sich dafür aber zur Landesverteidigung verpflichten. In weiten Teilen der Region ließen sich zu diesem Zweck meist slawische Gruppen nieder, verzichteten auf große Dorfstrukturen, bildeten stattdessen auf den Hügeln verstreut kleine Siedlungen. Zur optimalen Verteidigung in sich geschlossen gebaut, dazwischen weite, luftige Räume für Wiesen, Auen und Wälder, die heute den Charakter der Wachhut prägen. Nichts Spektakuläres, keine atemberaubenden Wasserfälle oder mächtigen Berge, sondern eine märchenhaft friedliche Landschaft, die ein bisschen an die Siedlung der Hobbits aus dem Herrn der Ringe erinnert. Die wenigen verbliebenen und einem Völkergemisch entsprungenen Bewohner pflegen ihre alten Mutter-
sprachen und kleiden sich mitunter noch in ihren ursprünglichen Volkstrachten.
Über die Landstraße 86 nähere ich mich von Norden an. Natürlich nicht ohne vorher das Schloss Esterházy in Fertod zu besuchen, Sitz der einflussreichsten Familie der ungarischen Geschichte. Inzwischen stark renovierungsbedürftig, jedoch kaum weniger charismatisch. Ich biege auf die
Landstraße 8 ab, und nicht weit hinter Körmend weist ein Schild nach Óriszentpéter und in die Wachhut. Die Häuser werden seltener, die Straße fädelt sich zwischen Äckern und Wäldern hindurch,
an ein paar alten Bauernhöfen vorbei bis zur Raab, dem größten Fluss der Region. Dahinter beginnt dichter Wald, und ein Schild informiert über die Wachhut.
Kurz darauf empfängt mich Óriszentpéter, der 1300 Seelen starke Mittelpunkt der Region. Eine Großgemeinde, deren Bewohner in weiträumig verteilten Kleinstortschaften leben. Von hier ist jede Ecke der Wachhut leicht zu erreichen. Mitten im Zentrum das älteste Gebäude der Gemeinde, die romanische Sankt Peters Kirche. Im Friedhofsgarten zeigen die verwitterten Grabsteine ein Stück Geschichte.
Zur Seite gekippt die einen, halb im Boden versunken und vergessen die anderen. Eingemeißelte slawische, ungarische und schwäbische Namen in der für das Karpatenbecken so typischen Mischung.
Ich rolle weiter über die kurvige Straße Richtung Szalafó und wähle den Abzweige nach Pityeszer. Das ondulierende Asphaltband verführt einerseits, die Kurven zu genießen, doch die Stimmung der Gegend verhindert jeden Tempo-Trieb. So leise wie möglich fahre ich weiter, vermeide jedes übermäßige Motorengebrüll. Und entdecke prompt einen riesigen Fuchs! Völlig entspannt schnürt er über das Feld neben der Straße, blickt herüber und lässt sich nicht im min-
desten beirren. Waldstücke mischen sich wieder zunehmend unter
die Äcker, und Holzschilder weisen zu den Siedlungen, die an
Freilichtmuseen erinnern. Wenig später entdecke ich in Pityeszer
tatsächlich ein echtes Dorfmuseum mit drei historisch korrekt hergerichteten Bauernhöfen voriger Jahrhunderte.
Hinter Szalafó verlasse ich die Straße, holpere vorsichtig über
einen Feldweg zum Waldrand. Im meterhohen, seidigen Gras stelle ich den Motor ab, schlage das Zelt auf und mache mich daran, die Umgebung zu
erkunden. Die Dämmerung bricht herein, und langsam legt sich eine Dunstschicht auf die Wiesen. Plötzlich
tauchen Köpfe und Hörner über dem Nebel auf. Eine Gruppe von Rehen nähert sich. Ich bleibe völlig reglos, bis sie vorsichtig innehalten und in sicherer Distanz
verharren. Auf dem Bauch pirsche ich mich heran,
um sie zu fotografieren.
Allmählich senkt sich die Dunkelheit, und ich entzünde ein kleines Lagerfeuer, während aus dem Wald die Laute des nächtlichen Lebens dringen. Mal knackt ein Zweig, dann schreit ein Vogel, Kleintiere rascheln durchs Unterholz.
Am nächsten Morgen erwache ich von einem nebeligen und doch bereits wärmenden Sonnenlicht. Tauperlen glitzern in dem
Netz um den Rückspiegel, das eine Spinne über Nacht gewoben hat. Kaum wieder auf dem Motorrad, spricht mich ein Mann an, ob ich nicht sein Haus ansehen wolle. Wunderschön hergerichtet, wirkt
es ebenfalls wie ein Museum. Doch hier dient alles noch dem täglichen Leben. In der Scheune steht ein uralter Stationärmotor neben einer Kürbiskerndresche aus Holz plus sämtlichen Utensilien zur Ölherstellung. Als Gastgeschenk reicht er selbst gebackenes und in
Kürbiskernöl getunktes Brot. Ich bin völlig überwältigt.
Schließlich möchte ich noch die Wahrzeichen der Wachhut sehen: die geschürzten Glockentürme. Der schönste findet sich an der Kirche von Pankasz. 1755 aufwendig gezimmert, ragt er auf einer frisch gemähten Wiese in den blassblauen Himmel. Wie viel es noch zu
entdecken gäbe! Trotz inzwischen etlicher Besuche war ich nach wie vor nicht in dem mit Torfmoos bedeckten Tal des Szoce-Bachs, habe nur zwei Nächte am Ufer des Vadása Sees verbracht und das türkische Denkmal von Gasztony immer noch nicht besucht. Dafür aber endlich die netten Töpfer von Magyarszombatfa, die sich über jeden Interessenten freuen. Oft muss ich an die Gewitternacht denken, als ein Schuldirektor seine Turnhalle als Zufluchtsstätte für unsere Motorradgruppe öffnete. Und an die slawische Familie, die die komplette fünfzehnköpfige Truppe am nächsten Morgen zum Frühstück einlud. Bei der wir uns nur mit dem Abladen eines Pferdewagens voll Futterrüben bedanken konnten. Viele solch lieb gewordener Erinnerungen, die Nächte am Waldrand, der Fuchs,
die Rehe und das Gefühl, ein Teil der Natur zu sein – deshalb weiß ich jetzt, was ich den Motorradfahrern von
Ungarn zeigen würde. Und ich würde sie mit den Worten empfangen, die
auf der alten Holztafel einer slawischen Siedlung stehen: »Bog daj pri nas« – Grüße Dich Gott bei uns!

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