Sie sind billiger als im Ruhrpott ne Mantaplatte. Außerdem soo frisch. Lecker, gesund - und die Manneskraft stärkend sollen sie auch sein. Schlappe 2,80 Euro kostet auf dem Markt von Cancale ein Sixpack fangfrischer Aus-tern. Wer das delikate Glibberzeug mag, wird nicht schon nach einem halben Dutzend die Segel streichen und dürfte sich an der bretonischen Küste fühlen wie im Paradies. Andernfalls kann man sich immerhin am Türkis des Meeres sattsehen, das es in Cancale wie auch anderswo gratis gibt.
Die Hölle war am Vorabend unsere Ankunft am Mont Saint Michel: 32 Grad, 150 Prozent Luftfeuchtigkeit, 4000 Treppenstufen bis zum vorgebuchten Hotel, das wie in einem Termitenhügel irgendwo versteckt lag. Auch für Motorräder ist Endstation auf dem großen Parkplatz am Fuße des pyramidenförmig aus dem Uferschlick ragenden Klosterberges, der weniger mit als eher von seinen Gästen lebt. Doch spätestens wenn der Strom der Tagesausflügler verebbt ist und man als Nachtschwärmer durch das mondwärts strebende Gassengewirr stromert, wird der heilige Berg zum Positiv-erlebnis. Morgens dann ein magischer Moment, wenn die Sonne wie ein himmlischer Schweißbrenner am Dachstuhl der Abteikirche züngelt. Für Nachahmungs-täter: Es waren dann doch nur 63 Stufen, bis das Gepäck in der Auberge Saint Pierre von den nassen Schultern rutschen durfte.
Wie ein großer Föhn pustet uns der Fahrtwind vom hochheiligen Mont Saint Michel in einen hochsommerlichen Tag. Kostet es woanders gelegentlich etwas Schweiß, eine optimale Route auszutüfteln, so bestimmt in der Bretagne die zerklüftete Küste, wo’s langgeht. Eine 2730 Kilometer lange Demarkationslinie zwischen den Elementen, gespickt mit spektakulären Ausblicken aufs Wasser, das sich mit jedem Wellenschlag neu positioniert; dazu an Land viel Unverrückbares aus Stein, das mal vom Menschen, mal von der Natur geformt wurde und zur Bretagne gehört wie die krosse Kruste zum Baguette.
Wir lassen unsere Motorräder von der Leine, werden aber dauernd von Attraktionen eingebremst. „Piraten an Steuerbord“, hat es früher im Einzugsgebiet von Saint-Malo oft geheißen. Heute ist das alte Seeräubernest mit seinem gewaltigen Mauerring alles andere als ein Grund zur Flucht. Und sei es nur, um die notwendigsten Vorräte zu ergänzen: neues Kettenspray und fettes Eis am Stiel.
Zwei Stunden später stehen wir am Cap Fréhel, einem der vielen exponierten Punkte der Bretagne, die, kaum hat man sie auf der Karte entdeckt, schon „gebucht“ sind. 70 Meter tief fällt die Küste steil ab ins smaragdgrüne Meer, aus einem dichten Teppich von Heide und Moor ragen dicht nebeneinander gleich zwei Leuchttürme empor. Zu allem schönen Überfluss ist das Cap Vogelschutzgebiet, sodass des Ausflüglers Blick verzückt auf Lummen und Tord-alken fällt. Manchmal auch auf deutsche Motorradkennzeichen: „Ich habe noch Ihren Großvater gekannt; ich war damals fünf Jahre alt, als die zu uns gekommen sind.“ Zumindest für diese alte französische Dame ist der Krieg noch immer ein Trauma.

Den Rest des Tages im Schnelldurchgang: erst ein einladendes Ensemble aus goldgelbem Sandstrand und würzig duftenden Pinien, dem der Badeort Sables-d’Or-les-Pins nicht zufällig seinen Namen verdankt. Dann das Postkartenmotiv am Hafen von Erquy, wo ein winziger Leuchtturm wie ein Bademeister am Beckenrand darüber wacht, dass sich die trockengefallenen Boote bei auflaufender Flut brav wieder freischwimmen. Und schließlich im Wettlauf mit dunklen Wolken nach Trégastel, wo die Reifen knirschend im Kies vorm Park Hôtel Bellevue ausrollen.
Zeit für ein Zwischenfazit, zumal wenn der Autor seit 1985 zum vierten Mal in der Bretagne ist. Was hat sich - außer einem selbst natürlich - geändert? Am wenigsten Landschaft und Orte, die wohl noch in 100 Jahren „typisch bretonisch“ sein werden. Deutlicher schon das Motorrad, denn im Gegensatz zur säuselnden CBF 1000 war beim ersten Mal eine kernige VF 1000 F2 Protagonistin. Und während damals die Fahrt buchstäblich ins Blaue ging, dabei aber die abendliche Zimmersuche viel Zeit und Nerven kostete, sind die Quartiere heute zwar bequem vorgebucht, zwängen aber auch in ein zeitliches Korsett.
Selbst wer des Französischen nicht so mächtig ist, ahnt, was die Côte de Granit Rose zu bieten hat. Die zartrosa schimmernden Granitbrocken an der Küste zwischen Perros-Guirec und Trébeurden sehen aus, als seien sie während der erdgeschichtlichen Kindertage von Riesen modelliert und aufgetürmt worden und tragen so bezeichnende Namen wie Schildkröte oder Napoleons Hut. Eine Kletterpartie durch die bizarre, von der letzten Flut noch glitschige Felsenwelt am Strand von Trégastel macht dank griffiger Sohlen der Motorradstiefel sogar richtig Freude.
Eine klasse Kombination von Küste und Panoramastraße, in der Bretagne nicht so häufig wie etwa an Norwegens Fjorden, findet sich bei Trémazan. Rechts vom Gasgriff fliegen die im silbrig-gleißenden, vom Meer reflektierten Licht der Sonne erkenbaren Roches d’Argenton vorbei, und unterm Vorderrad verwischt die Struktur des Asphalts zu einem Muster, als pfeile die Honda durch einen Schwarm von Sardinen.
In Camaret, einem ehemals bedeutenden Langustenhafen, hat man den touristischen Wert alter Fischkutter erkannt und einen pittoresken Schiffsfriedhof entstehen lassen. Statt alle ausgemus-terten Kähne mit dem Caterpillar zu entsorgen, erleben nun ein paar ausgesuchte Wracks wie Industriedenkmäler zwischen Duisburg und Dortmund ihren zweiten, rostblühenden Frühling. Aber auch wer nicht zur maritimen Nekropsie tendiert, wird den charmanten Ort mögen: eine bunt herausgeputzte Häuser- und Restaurantzeile an der Hafenpromenade, der trutzige Festungsturm Vauban sowie die Kapelle Notre-Dame-de-Rocamadour mit ihren Segelschiffmodellen unter der Decke des Kirchenschiffes. Dazu mit ein wenig Glück früh morgens um sechs am Himmel eine Explosion der Farben wie in einem Zylinderkopf bei 10000 Touren -Camaret rangiert in der Bretagne-Liga ziemlich weit oben.
Einen großen Bogen dürfte Manni Mus-termann mit seinem Motorrad um Brest machen. Statt der modernen Hafenstadt, wo einst die U-Boote der Großväter-Generation im Bunker lagen, stehen eher so romantisch raue Orte wie die Pointe de Penhir und Pointe du Raz auf der Agenda. Es ist das Finistère, das „Ende der Welt“.
Mit geifernder Gischt bricht sich der Ozean am Fels, treibt immer neue Regimenter der weißen Kavallerie gegen die bretonischen Bastionen. Beliebt ist die Pointe de la -Torche, wo die Weltelite der Surfer Rock ’n’ Roll auf den Wellen tanzt.
Damit an gefährlichen Küsten möglichst niemand zu Schaden kommt, wurden bekanntlich Leuchttürme erfunden. Ein Prachtexemplar dieser Spezies ist der Phare d’Eckmühl: 65 Meter hoch, 285 Wendeltreppenstufen, alle fünf Sekunden ein Lichtblitz mit einer Reichweite von 24 Seemeilen. Weitere Details sind bei einer Turmbesteigung von der Fremdenführerin Heike Weigl zu erfahren; sinnigerweise stammt sie aus dem bayerischen Eggmühl, das über den „Umweg Napoleon“ Namensstifterin des Leuchtturms wurde. Apropos Bayern: Wie der Freistaat legt auch die Bretagne Wert auf eine gewisse Autonomie. So pflegt man eine eigene Sprache, die im Restland kaum verständlich ist, und auf den in Frankreich allgegenwärtigen Kriegerdenkmälern sind die Soldaten hier nicht fürs Vaterland, sondern die Heimat gestorben.
Ein ideales Fleckchen für den Feier-abend ist Concarneau. Wie eine Austernperle liegt im Hafenbecken die nur über eine steinerne Brücke zu erreichende Altstadt, die Ville Close. Zutritt für unromantische Seelen verboten. Später tobt hier ein Straßenfest, dass die Ankerketten nur so wackeln: Chapeau Concarneau.
Auch am folgenden Tag gelingt es nicht, die Motorradtanks nonstop leer zu fahren, denn immer wieder schreit die Bretagne stopp! Bei Doëlan versteckt sich an einem beschwipst durch Obstplantagen torkelnden Sträßchen hinter dicken Hortensienbällen die Cidrerie des Vergers de Pen Ar Ster mit hervorragendem Apfelwein, dann die Halbinsel Quiberon, die mit 2000 Sonnenstunden pro Jahr lockt. Die schmale Landzunge ragt weit in den Atlantik und lässt an ihrer wilden Westseite, der Cote Sauvage, kein Baden zu. Auf der windgeschützten Ostseite tut sie in einer großen sandigen Badebucht so, als könne sie kein Wässerchen trüben. Eine weitere Attraktion ist Carnac: Etwa 3000 Dolmen und Menhire stehen dort mehr oder weniger ordentlich aufgereiht in der Botanik. Was aussieht wie die Hinkelsteinsammlung von Obelix, gibt der Wissenschaft auch heute noch reichlich Rätsel auf. Keine Frage aber, dass sich Auray mit seinem heimeligen Hafenviertel am Ufer des Flüsschens Loch bestens für den letzten Abend in der Bretagne eignet, bevor statt Möwen und Meer wieder das Rauschen der Autobahn regiert.
Reiseinfos

Anreise:
Den Mont Saint Michel, Startpunkt der beschriebenen Tour, erreicht man am schnellsten über die (gebührenpflichtige) Autobahn. Von Köln zum Beispiel sind es über Amiens, Le Havre und Caen etwa 790 Kilometer bis zum heiligen Berg. Retour sind es von La Baule via Nantes, Paris und Brüssel rund 940 Kilometer bis zum Dom am Rhein.
Unterkunft:
Wer sich bei einer Bretagne-Tour am Verlauf der Küste orientiert, findet dort eine Vielzahl unterschiedlichster Quartiere, vom Campingplatz über einfache Hotels bis zur Nobelherberge. Während der Sommerferien kann eine Reservierung nützlich sein. Gut untergebracht waren wir in folgenden Häusern: Auberge Saint Pierre, 16 grande Rue, F-50170 Le Mont-Saint-Michel, Telefon 00 33/(0)2 33 60 14 03, www.auberge-saint-pierre.fr, DZ ab 98 Euro; Park Hôtel Bellevue, 20 rue des Calculots, F-22730 Trégastel, Telefon 00 33/(0)2 96 23 88 18, www.hotelbellevuetregastel.com, DZ ab 76 Euro; Hôtel de France, Quai Toudouze, F-29570 Camaret, Telefon 00 33/(0)2 98 27 93 06, www.hotel-france-camaret.com, DZ ab 54 Euro; Hôtel du Port, 11 Avenue Pierre Guéguin, F-29900 Concarneau, Telefon 00 33/(0)2 98 97 31 52, www.hotelduport-concarneau.com, DZ ab 48 Euro.
Sehenswert:
Nicht, dass sich in der Bretagne nicht schön Motorradfahren ließe, doch einzigartige Orte zwingen immer wieder zum Stopp: 1. Mont Saint Michel: Der Klosterberg lässt sich am intensivsten beim Übernachten vor Ort erleben. 2. Saint-Malo: Hier lohnt ein Spaziergang auf dem mittelalterlichen Stadtwall. 3. Côte de Granit Rose: Aberwitzige Felsformationen laden ein zu abenteuerlichen Kletterpartien. 4. Camaret-sur-Mer: beschaulicher Fischerort mit schaurig schönem Schiffsfriedhof. 5. Pointe du Raz: Hier endet die Welt, bricht sich die aufgewühlte See wie am Bug der Titanic. 6. Phare d‘Eckmühl: Leuchtturm wie aus dem Bilderbuch, die Wendeltreppe führt Besucher hoch hinauf, das angegliederte Museum tiefer ein in die Materie. 7. Concarneau: Zielstrebig die im Hafenbecken ruhende Altstadt ansteuern und früh morgens den Fischmarkt besuchen. 8. Quiberon: Halbinsel mit zwei Gesichtern, für Klippengucker die wilde Côte Sauvage im Westen, für Sonnenanbeter die geschützte Badebucht im Osten. 9. Carnac: 3000 Hinkelsteine. 10. Auray: verträumtes Hafenstädtchen etwas abseits der Küste und Beispiel dafür, dass sich Abstecher auch ins Landesinnere lohnen.
Reisezeit:
Die Monate vor und nach der französischen Urlaubssaison im Juli und August. Das Wetter gilt auch im Sommer als wechselhaft, was die Dramatik erhöht.
Literatur und Karten:
Reisehandbuch "Bretagne", Michael Müller Verlag, 22,90 Euro. Karten: Michelin, Blätter 308 und 309, Bretagne West und Ost, jeweils im Maßstab 1:150000 und für 7,50 Euro zu haben. Adressen: Zentrale Auskunftsstelle ist Atout France, Zeppelinallee 37, 60325 Frankfurt am Main, Telefon 09 00/1 57 00 25 (0,49 Euro/Min), www.franceguide.com. Darüber hinaus bietet im Südwesten der Bretagne das Fremdenverkehrsbüro von Névez für Motorradfahrer ausgearbeitete Rundtouren an, wahlweise mit oder ohne Unterkunft; vier Übernachtungen inklusive Frühstück kosten pro Person 125 Euro; L‘Office de Tourisme de Névez, 18 Place de l‘Eglise, F-29920 Névez, Telefon 00 33/(0)2 98 06 87 90, www.nevez.com