Einmal im Jahr treffen sich die besten Autofahrer der Welt in der finnischen Provinz zur größten Blechakrobatik-Show der Welt. Und mit nichts lässt sich die Finnland-Rallye besser begleiten als mit dem Motorrad.
Einmal im Jahr treffen sich die besten Autofahrer der Welt in der finnischen Provinz zur größten Blechakrobatik-Show der Welt. Und mit nichts lässt sich die Finnland-Rallye besser begleiten als mit dem Motorrad.
Ari ist sauer. Es ist im Allgemeinen nicht leicht, das eher stoische Gemüt eines gestandenen Finnen aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber das hier ist was anderes. Die Sauna ist zu kalt. Der ungeübte Mitteleuropäer, den er zu seiner Rallyeparty eingeladen hat, würde das Wetter in der holzgetäfelten Kabine durchaus als kreislaufherausfordernde Mischung aus Tropenschwüle und Wüstennachmittag werten, aber der Eingeborene fürchtet bei 70 Grad offenbar bereits, sich eine Blasenentzündung zuzuziehen. Ari geht raus, um sich zu beschweren.
Wie lächerlich kommt sich der zugereiste Teutone mit seinem Mikrofaser-Ölzeug vor. Der Wetterbericht wähnte das deutsche Sommertief auf dem Weg nach Norden. Das Thermometer in Helsinki zeigte stattdessen 29 Grad. Sauna war schon während des Rittes nach Jyväskylä angesagt. Seit sechs Wochen liegt ein mehr oder weniger stabiles Hochdruckgebiet über dem nordöstlichsten Zipfel Europas. Es ist hier oben der wärmste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnung.
Draußen am See lassen sich die Kinder noch nach neun in den See plumpsen. Bis spät in den Abend bleibt der Himmel rot. Auf dem Weg in die gemietete Blockhütte zieht Bodennebel auf, die Seen sind so glatt wie in Kunstharz gegossen, ein junger Elchbulle springt über eine Wiese davon, als ihm das Röhren des Zweizylinders zu nahe kommt. Man hätte im iPod vielleicht anstatt Zappelmusik was Ruhiges von Sibelius auflegen sollen.
Überhaupt strahlt Finnland an allen Ecken Ruhe aus. Die langen Fahrten durch tiefe Wälder haben etwas Meditatives. Die Menschen bewegen sich eher langsam, das gilt auch für ihre Stimmen, die immer etwas tiefer klingen als für unsereins gewohnt. Böse Zungen behaupten, Jyväskylä passe gut dazu, es sei ein verschlafenes Nest, das allenfalls an Wochenendabenden lebendig wird, wenn Horden junger Menschen mit der finnischen Handtasche (zehn Halbliterdosen Bier im Pappgebinde) zur nächsten Party streben.
Rund 100000 Menschen wohnen hier, der berühmteste Sohn der Stadt war der Architekt Alvar Aalto - wenn man mal die Sportler außer Acht lässt. Aus Jyväskylä stammt Matti Nykänen, der legendärste unter den fliegenden Finnen, der einst über sämtliche Großschanzen der Welt herrschte, bis der Alkohol anfing, ihn zu beherrschen.
Aber da gibt es ja noch die anderen fliegenden Finnen, schmale Bürschchen mit Milchgesichtern, die zuweilen auch mit 30 noch vor der Disco den Ausweis zeigen müssen. Aber Vorsicht: Diese Bubis sind in ihrer Welt Giganten. Als Achtjährige hocken sie auf Papas Schoß zum ersten Mal am Steuer, mit zwölf überschlagen sie sich mit Papas Traktor, mit 14 sind sie auf den privaten Forstwegen erstmals schneller als es Papa je war. Mit 18 haben sie dann Führerschein und Motorsport-Lizenz, um sich ganz legal mit 200 Sachen zwischen manns-dicken Fichten und bärenfetten Felsen durchzuzoomen, unter den Rädern festgebackenen Lehm mit einer dünnen Steinchenauflage oder nicht selten auch nur Luft. Wenn nicht gedriftet wird, steht Fliegen auf dem Programm. Ein Ingenieur rech-net vor, dass die Autos bei 1200 Testkilometern über 20 Kilometer in der Luft sind.
Die letzte Eiszeit hat das ansonsten platte Land zusammengeschoben wie ein Wellblechdach. Die vielen Naturstraßen winden und buckeln sich durch die Gegend und bilden eine endlose Sammlung von Kuppen und Senken. Die meisten davon sind voll Wasser gelaufen. Finnland ist zu 85 Prozent von Wald bedeckt, der Rest sind Seen. „Land der tausend Seen“ ist die Untertreibung des Jahrhunderts, es sind in Wahrheit 180000, in Mittelfinnland allein 65000 stehende Gewässer.
Die Landschaft ist wegen all der Bäume, Felsen und Gewässer ziemlich unwegsam, es gibt zu den Wertungsprüfungen nur wenige Zufahrtswege. Schon die mächtige russische Armee scheiterte im Zweiten Weltkrieg mit dem Plan, sich das relativ frisch unabhängig gewordene Finnland mal so eben unter den Nagel zu reißen, weil die Panzer auf den schmalen Waldwegen im Stau standen. Hältst du den ersten auf, stehen alle.
Heutzutage findet am Rallye-Wochen-ende eine wahre Völkerwanderung statt, eine Viertelmillion der Söhne Suomis machen sich regelmäßig zur Rallye auf. Neben Kühlboxen voller Bier schleppen manche gleich noch Musikanlagen oder ganze Sofas in den Wald. Und so stauen sich heute die Finnen auf dem Weg nach Leustu, und wenn das erste Rallye-Auto schon gestartet ist, werden noch längst nicht alle einen Parkplatz gefunden haben. Weiter vorn stehen freundliche junge Mädchen, die aber unbarmherzig abkassieren. Mancher stellt seinen Wagen einfach vorher am Straßenrand ab und marschiert per pedes. Die grüne Partei mault, das sei alles eine sinnlose Verbrennung von Ressourcen und zudem ungesund. Der Veranstalter kontert, dass dieses Juli-Wochenende für viele Finnen das einzige ist, wo sie mal ein Dutzend Kilometer zu Fuß laufen.
Die beste aller Lösungen aber hat einen Motor und zwei Räder. Die Rechnung ist ganz einfach: Wer nicht im Stau steht, schafft mehr Prüfungen. In 80 Prozent aller Alltagssituationen mag der Motorradfahrer gegenüber dem Auto im Nachteil sein, bei der Finnland-Rallye ist er der König. Außer der Rallye Mexiko ist der finnische Veranstalter der erste, der ein spezielles Ticket für Stollenritter anbietet. Organisationschef Jarmo Mahonen ist selbst begeisterter Biker, der zum temporären Nabel der Welt angereisten Delegation des Weltmotorsportverbandes FIA führte er erst einmal stolz seine neue Sechszylinder-BMW vor.
Die schlankere F 800 GS bahnt sich mühelos den Weg an der Blechlawine vorbei. Der kleine blaue Aufkleber auf der Frontscheibe lässt sämtliche Kassierer zügig zur Seite treten und das Zweirad durchwinken. Für Inhaber des Biker-Passes sind spezielle Parkplätze reserviert - selbstverständlich möglichst nah an der Rallyestrecke, zuweilen gar ganz vorn am Flatterband. Während viele Fans noch Kilometer vor sich haben, steht der Reiter schon längst am Grillikioski und hat sich schon mit der ersten Makkara gestärkt, einer mehligen Bratwurst, von der bei diesem Aufmarsch mehr als eine Million verkauft werden.
Der Grund für den alljährlichen Rummel liegt zunächst in der Tradition. Mit Autos durch die Gegend rutschen, gehört auf im Sommer geschotterten und im Winter vereisten Straßen für jede Hausfrau zum Alltag. Desweiteren geht es um die Erfolgsaussicht: Die Finnen lieben Sieger, nur hat ein so kleines Volk nicht allzu viele davon, nicht mal im Wintersport. Im Motorsport ist das mickrige Finnland aber eine Weltmacht, das jeden dritten Rallye-WM-Titel geholt und bereits drei Formel-1-Weltmeister hervorgebracht hat.
Der letzte heißt Kimi Räikkönen, und der hatte das Im-Kreis-Fahren irgendwann satt und wechselte ins grobstollige Lager. Kimi hat ein überragendes Fahrtalent, er driftet mit seinem Citroen DS3 WRC mit Allrad-antrieb und 300 Turbo-PS gekonnt um die Ecken, springt tapfer über die Kuppen, aber am Ende wird der frühere GP-Star bescheidener Neunter. Das hier ist eben nicht Rundstrecke, sondern was für Erwachsene.
Der Temposchnitt auf den finnischen Schotterpisten liegt nicht selten jenseits von 120 km/h. Auf den schnellsten Kuppen liegt die Absprunggeschwindigkeit bei 170 km/h, das Auto hüpft und tanzt, will ständig ausbrechen auf Strecken, die kaum einmal länger als 200 Meter geradeaus führen, und doch ist im Getriebe meist die fünfte oder sechste Welle eingelegt, man muss dann halt ein bisschen mehr lenken.
Die meisten Rallyestars wirken auf den ersten Blick unscheinbar, sind aber extrem abgebrühte Hunde. Wer nach sechsfacher Rolle ins Unterholz anschließend verkündet: „Das Tempo war schon in Ordnung, nur die Kurve war zu eng“, erntet höchste Achtung. Ein finnischer Jungstar darf jederzeit ein Auto im Wert eines Einfamilienhauses verschrotten, so lange er bis dahin in Führung lag.
Rallyefahrer gelten selbst unter Motorsportlern als völlig gaga, vielleicht gibt es deshalb so viele Berührungspunkte mit Enduro oder Motocross. Tabellenführer Sébastien Loeb ist selten zu Hause, wenn doch, brät er meist mit einer KTM durch die Lande. Ex-Weltmeister Tommi Mäkinen stieg nach dem Rallye-Ausstieg zum Spaß auf eine Wettbewerbs-Enduro um. Egal ob zwei oder vier Räder, Hauptsache schnell und quer.
Christian Loriaux ist technischer Direktor bei Ford und hat sich gerade bei den legendären Six Days angemeldet. Mit seiner 250er KTM wird er sich für einen guten Zweck eine Woche nach der Rallye auf Trampelpfaden durch finnische Wälder arbeiten. Sein Ziel: „Ich will länger durchhalten als Steve McQueen. Der war in Ostdeutschland mal 64ster, aber am dritten Tag ist er abgeflogen.“ Der siebenfache Enduro-Weltmeister Kari Tiainen reist im Gegenzug regelmäßig mit dem Motorrad zum Rallye-Wochenende an, um zu sehen, was die Kollegen auf vier Rädern in den Wäldern von Keuruu, Laukkaa und Jämsä aufführen.
Und das käme vielen wie ein Hollywood-Filmtrick vor, wäre man nicht selbst dabei gewesen, als Latvala durch den mittelschnellen Rechtsknick in einer Senke rodelt, dann das Steuer nach links reißt, das Hinterteil seines Ford Fiesta haarscharf an ein paar jungen Birken entlangschmirgeln lässt und durchs Seitenfenster zielend breitseits über die nächste Kuppe jagt, wo ein gewachsener Fels am Innenrand das komplette Auto aushebelt. Das alles passiert auf vier Metern Breite bei Tempo 120. Es müsste ihn jetzt quer in die Schonung tragen, wo ein mindestens dreifacher Überschlag anstünde, das passiert aber nicht. Sanft federt das Chassis ein, die Reifen finden nach einem Meter Rutschpartie wieder Grip. Schon steht der Finne wieder voll auf dem Gas, beschmeißt die lauernden Fotografen im Wald mit Schippen voller Dreck und tobt weiter zur nächsten Kuppe.
Und doch ist Latvala nicht der Sieger, Weltmeister Sébastien Loeb ist noch schneller. Der Franzose ist vermutlich der beste Autofahrer in der Geschichte der Menschheit, und das unterschreiben auch die Finnen. Der ehemalige Kunstturner aus dem Elsass hat fünfmal die Rallye Monte Carlo gewonnen, er ist auf dem Weg zum achten WM-Titel - in Folge wohlgemerkt. Was aber noch mehr zählt ist, dass er zum zweiten Mal in Finnland gewinnt. Das hat noch kein anderer Nichtfinne geschafft.
Die Finnen in Finnland geschlagen, das bietet in der Sauna reichlich Gesprächsstoff. Selbige ist nun so langsam auf Betriebstemperatur angelangt. Es herrschen muckelige 85 Grad, und Heikki hat gerade den Grad der Unerträglichkeit mit einer ordentlichen Schüppe Wasser noch um einen Tick erhöht. Risto kommt rein und nimmt auch gleich die Kelle in die Hand. „Noch eine?“ „Ähhh.“ „Ich werte das als ein Ja“, sagt er und schmeißt noch einen Wasserschwall auf den Ofen. Als sich der siedende Nebel lichtet, ist es Zeit, sich den wirklich wichtigen Themen zu widmen: Also Ari, wie war das jetzt noch mal bei der letzten Sauna-WM? War der Russe gedopt und der Finne wurde ohnmächtig, oder war es umgekehrt?
Der Weg nach Jyväskylä ist weit und der Trip nicht billig, aber die spektakuläre Flugshow brennt sich garantiert lebenslang in die Netzhaut ein.
Anreise:
Finnlines bietet von Rostock und Travemünde aus nahezu täglich Fährverbindungen nach Helsinki an (www.finnlines.com). In der Hochsaison Ende Juli kostet eine einfache Fahrt mit Motorrad 180 Euro. Die Ostseeüberquerung dauert knapp 30 Stunden. Wer sparen will, sollte sich für die Nacht rechtzeitig einen Ruhe-sessel sichern, selbst in einer Dreierkabine kostet ein Bett 216 Euro. Von Helsinki sind es noch einmal rund 300 Kilometer bis Jyväskylä.
Unterwegs:
Die finnische Polizei ist wachsam, führt regelmäßig Alkoholkontrollen (auch morgens) durch und schießt mit dem Laser aus allen Lagen. Wer mehr als vier km/h über dem Tempolimit (100 km/h auf Landstraßen, 120 km/h auf Autobahnen) liegt, muss zahlen. Vorsicht: Die Höhe der Strafe richtet sich auch für Deutsche nach dem Einkommen. Viele kleinere Landstraßen sind nicht asphaltiert, allerdings sind die Schotterpisten oft in besserem Zustand als viele deutsche Asphaltstraßen. Ohne Stollenreifen ist in engeren Kurven Vorsicht geboten. Die dünne Steinchenauflage bringt das Vorderrad schnell auf Abwege.
Übernachtung:
Die Hotels in Jyväskylä sind für Juli 2012 bereits jetzt fast ausgebucht. Am meisten Spaß macht der Finnland-Trip, wenn man in der Gruppe reist und sich ein Häuschen am See mietet. Der Preis für eine Woche liegt bei einem Haus für vier Personen meist zwischen 500 und 600 Euro. Wer nicht selbst im Netz buchen will, kann sich an die Tourismusbehörde (rally@jyvaskylabooking.fi) wenden.
Finnland-Rallye:
Sie gehört zur Rallye-Weltmeisterschaft und findet rund um das Rallyezentrum in Jyväskylä am letzten Juli-Wochen-ende von Donnerstagabend bis einschließlich Samstag statt. Gefahren werden drei Etappen auf rund 20 abgesperrten Wertungsprüfungen mit etwa 340 Gesamtkilometern. Tickets gibt es in der Gegend an allen Neste-Tankstellen. Der Biker-Pass kostet 70 Euro, Eintritt zu allen Prüfungen und Parken inklusive. Außer den Wer-tungsprüfungen ist ein Besuch im Service-Park unbedingt zu empfehlen. Infos unter www.nesteoilrallyfinland.fi