Seit einem, vielleicht sogar zwei Jahrzehnten geht es in der MotoGP diszipliniert und überwiegend „sauber“ zu. Gary Nixon, US-Champion von 1979 und berüchtigter Hell-Raiser, sagte 2011 kurz vor seinem Tod trefflich: „Mann, das Tempo dieser Jungs ist so hoch, dass sie keine Zeit mehr zum Feiern haben!“ Heutzutage wähnt man sich im GP-Paddock in erster Linie an einem Arbeitsplatz. Jeder kümmert sich nüchtern-professionell um seine Aufgabe.
Zu Nixons Zeiten liefen die Dinge vollkommen anders. Damals bestand das Fahrerlager größtenteils aus wilden Männern, die so schnell wie möglich dem Nine-to-five-Lifestyle entfliehen wollten und an jeder Ecke nach Abenteuern suchten. Aus diesem Kreis gibt es mittlerweile nur noch ein überlebendes Mitglied: Am besten hält man nach den Tabak-Dunstschwaden Ausschau, die um einen so langsam ergrauenden, wilden Haarschopf herumschwelen. Ladies und Gentleman, Vorhang auf für Mister Carlo Pernat!
"Er ging mir echt auf die Eier!"
Der Italiener treibt sich seit den 1980ern in den Fahrerlagern der Straßen-WM, den Boxen und auf den Pressekonferenzen herum. Er kennt jeden, und für fast alle hat er schon einmal gearbeitet. Tätig war er im Team-Management, Marketing und der PR für Vespa, Gilera, Cagiva und Aprilia. Außerdem arbeitete er als persönlicher Manager von Max Biaggi, Loris Capirossi und Marco Simoncelli. Heute betreut er Andrea Iannone.
1995 verschaffte er als Chef der Aprilia-Rennabteilung Valentino Rossi seinen ersten Job als Rennfahrer. Er unterstützte den damals unbekannten Teenager mit einem gewissen Betrag, damit dieser in der 125er-Europameisterschaft antreten konnte.
Pernat ist ein unfassbar unterhaltsamer Geschichtenerzähler. Den Tag, an dem er Rossi zum ersten Mal fahren sah, wird er nie vergessen. „Valentinos Vater Graziano und ich sind Freunde, und Valentino kann seinem Vater nicht oft genug für die Hilfe danken, die er von ihm bekommen hat“, meint Pernat nach einem oder auch drei Drinks im Fahrerlager-Restaurant. „Zwei Wochen lang rief Graziano mich jeden Tag an. Er ging mir echt auf die Eier! Am Ende sagte ich zu, nach Misano zu fahren und mir den Jungen mal anzusehen.“
"Ich dachte, das ist der neue Schwantz!"
Pernat schwenkt um und berichtet, wie er einige Jahre zuvor noch für Cagiva arbeitete: „Uns wurde gesagt, wir sollten einem neuen, unbekannten Fahrer die Möglichkeit geben, unsere 500er-GP-Maschine zu testen. Sein Name war Kevin Schwantz. Bei den Testfahrten war er einfach unglaublich – er fuhr unfassbare Linien und ging mit der 500er um wie mit einem Fahrrad. Er hat uns wirklich beeindruckt, aber er unterschrieb dann bei Suzuki.“
Als Carlo Pernat Valentino Rossi zum ersten Mal fahren sah, fühlte er sich gleich an Kevin Schwantz erinnert: „Ich dachte, das ist der neue Schwantz! Es war genau dasselbe Szenario, Valentino fuhr unmögliche Linien und ging absolut spielerisch mit der Maschine um. Ich unterzeichnete direkt einen Dreijahresvertrag mit Graziano und Valentino! Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt voraussehen, dass er neun Weltmeisterschaftstitel gewinnen würde. Aber er hat mich damals wirklich beeindruckt.“
Pernat verließ Cagiva 1990, um für Aprilia zu arbeiten. Damals war die Schmiede aus Noale noch ein kleines Licht im GP-Zirkus. Als Pernat dem Hersteller 1998 wieder den Rücken kehrte, hatte Aprilia sieben Fahrer- und Konstrukteurs-Weltmeistertitel in der Tasche.
"Also füllten wir ihn ab und er unterschrieb"
„Mein Glück war es, für zwei Hersteller arbeiten zu dürfen, die sich in der Hand von Rennsportverrückten befanden: Claudio und Gianfranco Castiglioni bei Cagiva und Ivano Beggio bei Aprilia. Als Cagiva die neue 500er gebaut hatte, sprang Claudio auf und tauschte Bürostuhl gegen Rennanzug. Claudio Castiglioni war stets der Erste, der die neue Maschine testete“, sagt Pernat. „Bei Cagiva arbeiteten wir häufig bis Mitternacht im Büro: Claudio, Gianfranco, ich und ein paar andere Leute saßen da. Wir hatten die Füße auf dem Tisch und tranken Bier. Manchmal waren auch ein paar Mädchen dabei. Währenddessen ersonnen wir Namen für unsere neuen Straßenbikes. Der Name ‚Mito‘ und viele andere wurden an solchen Abenden geboren.“
Im italienischen Motorrad-Business führte damals an den Castiglionis kein Weg vorbei. 1986 befand sich Ducati am Boden. Sie bauten ein paar Hundert Bikes pro Jahr und stellten Dieselmotoren für Trucks her. Eines schönen Tages landete ein Helikopter auf dem Firmendach und drei Ritter, die Castiglionis und Pernat, stiegen aus. „Wenn die Brüder Ducati damals nicht gekauft hätten, wäre der Laden den Bach heruntergegangen“, schätzt Pernat.
Bevor Carlo Pernat zu Aprilia abwanderte, verwandelte er Cagiva in einen erfolgreichen Rennstall. Einen seiner größten Coups landete er 1987, als er Randy Mamola engagierte – Cagivas erste echte Titelhoffnung. Pernat erinnert sich an die Nacht, in der er Mamolas Manager Jim Doyle davon überzeugte, den Vertrag zu unterzeichnen: „Jim, Randy, Gianfranco, Claudio und ich saßen zusammen am Tisch. Zu 80 Prozent war der Vertrag für beide Seiten in Ordnung, aber Jim wollte mehr Geld. Ich wusste von Jims Schwäche für Grappa. Also füllten wir ihn ab und er unterschrieb.“ Carlo Pernat war nie zu erschrocken, sich auch einmal etwas unlauterer Mittel zu bedienen, wenn er etwas erreichen wollte. Racing ist mehr als nur im Kreis herumzufahren. Es ist wie Krieg, nur ohne den Einsatz von Waffen.
Racing-Bosse trafen sich im Castiglioni-Palace
Eine andere Story spielt 1985 im nordargentinischen Salta, wo es um die Entscheidung in der 125er-Motocross Weltmeisterschaft ging. Das Duell zwischen Honda und Cagiva spitzte sich zu. Die Spritqualität war ein echtes Problem, deswegen brachten alle großen Teams ihr Benzin aus Europa mit. Pernat: „Ich kannte die Leute beim Zoll und ich wusste, was zu tun war. Sie gaben uns unseren Sprit. Honda allerdings nicht. Der Weltverband FIM bat mich darum, Honda etwas von unserem Sprit zu verkaufen. Ich meinte: Klar, gar kein Problem. Das macht dann 200 Dollar pro Liter. Honda winkte natürlich ab. Aber ich sagte nur: Okay, mein Angebot habt ihr gehört.“ Die Honda-Motoren überlebten das Rennen nicht, und der Sieg ging an Cagiva. Am Montag darauf traf übrigens das Benzin für Honda ein.
Die Castiglionis verstanden es, ihren Einfluss im Business auf ziemlich clevere und nicht selten auch hinterlistige Art zu vergrößern. Ihre Geschäfte in der Motorradwelt steuerten sie von Varese aus. Sie führten dort ein schickes Hotel, das „The Palace“. Über mehrere Jahre hinweg trafen sich die Racing-Bosse aller großen Firmen im Palace und diskutierten über die Zukunft des Sports. Darunter waren große Namen wie zum Beispiel Mitsuo Itoh von Suzuki, Mike Maekawa von Yamaha und Suguru Kanazawa von Honda. „Für ihren Aufenthalt dort bezahlten sie nichts, es war für alles gesorgt“, lacht Pernat. „Meistens hatten wir ein paar Tage nach Ankunft der Gäste ein Meeting, das für die Castiglionis in der Regel ziemlich gut verlief. In dieser Zeit kam von Honda und Yamaha jede Menge Unterstützung für Cagiva. Maekawa half uns mit dem Chassis und Honda erlaubte uns, Kokusan-Zündanlagen zu verwenden. Ich flog nach Japan und kam mit vier oder fünf von den Dingern wieder zurück.“
"Max war kein einfacher Mensch"
Während seiner Zeit bei Aprilia war Pernat dafür berüchtigt, die Gentlemen von der Presse auf seine Seite zu ziehen. „Nach vielen Rennen habe ich mir die ganzen italienischen Journalisten geschnappt, bin mit ihnen ins Casino gefahren und bezahlte den Abend.
Diese Phase war voller Sex, Drugs und Rock ´n‘ Roll und für mich ein natürlicher Teil meiner Motorradwelt. Ich meine, warum kaufen die Leute wohl Motorräder? Um frei zu sein! Um zu tun, was auch immer man will!“ Ende 1998 verließ Pernat Aprilia, um sich verstärkt der Betreuung einzelner Fahrer zu widmen. Sein erster Klient hieß Max Biaggi. Allerdings hielt diese Beziehung nicht lange. „Max war kein einfacher Mensch, denn er vertraute niemandem. Ich weiß bis heute nicht, warum. Vielleicht lag es daran, dass seine Mutter ihn verließ, als er noch sehr klein war.“
Pernat hat eine faszinierende Theorie darüber auf Lager, was vielleicht im Grand Prix-Sport passiert wäre, wenn Biaggi und Mick Doohan sich nicht in die Haare bekommen hätten: „Max gewann seinen ersten 500er-Grand Prix auf der Honda, fing sich dann aber Streit mit Doohan ein. Das war ziemlich blöd, weil Doohan ihn 1999 in Folge dessen nicht mehr im Werksteam haben wollte. Stellt euch vor, was passiert wäre, wenn Max und Mick einfach Freunde gewesen wären. Biaggi hätte einen Platz im Repsol-Team bekommen. Mick verletzte sich damals, und mit Werksmaterial hätte Max den Titel sicherlich gewonnen. Und was wäre dann mit Valentino passiert, als er zu den 500ern aufstieg? Zu Honda hätte er nicht gehen können wegen Max. Also hätte er bei Yamaha angeheuert, um dort erst die YZR 500 zu pilotieren und dann die erste M1, die wirklich kein gutes Motorrad war. Max hat sich damals mit seinem Verhalten auf jeden Fall ins eigene Fleisch geschnitten.“
3 Millionen Euro jährlich, 10 Motoren, 25 Chassis
Carlo Pernat hatte so große Namen wie Biaggi, Rossi, Capirossi, Simoncelli und Iannone unter seiner Fuchtel. Fünf grundverschiedene Typen, die er wie folgt charakterisiert: „Iannone und Biaggi verbindet vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit, während Simoncelli mehr wie Rossi gewesen ist. Capirossi war irgendwo zwischendrin. Flexibilität ist als Manager am wichtigsten. Du musst dich auf den Fahrer einlassen, nicht andersherum. Mit Valentino bin ich ganz anders umgegangen als mit den anderen Fahrern. Meine Methode ist es, den Fahrer 360 Grad zu umkreisen und ihn permanent zu begleiten. Von der ersten Testfahrt der Saison bis zur allerletzten. Du musst immer da sein, um bei allen möglichen Angelegenheiten helfen zu können. Egal, ob es eine psychologische Sache, Beistand und Hilfe im Umgang mit der Presse, den Sponsoren oder dem Team ist. Viele von den modernen Managern lassen sich nur hier und da mal blicken, um Verträge zu unterzeichnen. Ich kann diese Typen nicht leiden.“
Es wird kaum ein Zufall sein, dass Pernats letzte Schützlinge Capirossi, Simoncelli und Iannone allesamt seine heißblütige Einstellung zum Leben und zum Racing teilen. Pernat begleitete Capirossi während seiner Zeit in der Premier Class mit Pons Honda, Ducati und Suzuki. Für den 125er- und 250er-Weltmeister wäre es ein Leichtes gewesen, der Star im MotoGP-Team von Kawasaki zu werden, überlegt Pernat: „Als Kawasaki 2002 in die MotoGP-WM einstieg, leckten sie sich die Finger nach Loris. Sie boten ihm einen Dreijahresvertrag mit einem Auskommen von drei Millionen Euro jährlich und flogen uns nach Tokio ein, wo uns der oberste Boss der Heavy Industries im Restaurant seines Wolkenkratzers empfing. Wir aßen also und redeten. Er versprach uns, wir könnten bekommen, was auch immer wir wollten: zehn neue Motoren, 25 neue Chassis. Sie hatten wirklich ein riesiges Budget.“
Auf der Rennstrecke wurde er zum Biest
Doch es gab ein Hindernis. „Dann allerdings erzählten sie uns, das Team sollte aufgrund der Partnerschaft beider Firmen auf jeden Fall Reifen von Dunlop verwenden. Wir bevorzugten Michelin, also hielten wir vertraglich fest: Wenn wir Dunlops verwenden müssen, fahren wir nicht. Dürfen wir dagegen Michelins benutzen, fahren wir. Wir kehrten nach Italien zurück und Ducati bot uns einen Riesendeal für 2003, 2004 und 2005 an. Der war so gut, dass ich gleich Michelin anrief und sie darum bat, auf gar keinen Fall Reifen an Kawasaki zu verkaufen“, erzählt Pernat. Man könnte nun schockiert reagieren. Doch so funktioniert Racing eben. Pernat ist nur einer von ganz wenigen, die offen und unverblümt darüber sprechen.
Etwas später kam die Simoncelli-Familie auf ihn zu: „Das war 2007 nach dem Grand Prix in der Türkei. Wir saßen in einer Hotelbar irgendwo in Istanbul. Marcos Vater Paolo wollte mit mir zusammenarbeiten, also arrangierten wir ein Treffen an einem Auto-Grill bei Cremona. Dort sprachen wir miteinander und unterzeichneten am Ende einen Vertrag. Eigentlich hatte ich schon längst entschieden, dass ich mit Marco arbeiten wollte. Wenn er mich nicht ausgesucht hätte, hätte ich ihn ausgesucht. Marco war Loris in einigen Punkten sehr ähnlich – ein toller Typ und ein bodenständiger Mensch. Immer freundlich, kein Bullshit. Wenn er aber auf einer Rennstrecke war, wurde er zum Biest!“
Morddrohung gegen Simoncelli
Pernat und die Familie Simoncelli wurden gute Freunde: „Nach Laguna Seca 2011 machten wir uns auf zu einem großen Roadtrip durch Colorado. Marco, seine Familie, ich und ein paar Freunde, die mit eigenen Autos hinterherfuhren. Es war ein wunderbarer Trip. Marco versuchte mich dazu zu bringen, mit dem Rauchen aufzuhören. Er durchwühlte mein Gepäck und machte alle meine Zigaretten kaputt.
Einen halben Tag lang hatte ich keine mehr geraucht, und ich hätte ihn am liebsten umgebracht! Wir fuhren den Highway entlang, er überholte und sah mich aus dem Fenster heraus an. Aus seinen Ohren und Nasenlöchern hingen meine Kippen. Er war ein Typ, der alle in seiner Umgebung zum Lachen bringen konnte.“
Bereits vor Simoncellis Tod war aber nicht immer alles eitel Sonnenschein: „Nachdem Marco und Dani Pedrosa in Le Mans 2011 aneinander gerasselt waren, gab es eine große Kampagne gegen ihn in Spanien. Einige Tage vor dem Rennen in Barcelona steckte ein Brief in Marcos Briefkasten, der zwei Kugeln und einen Zettel enthielt. Darauf stand: ‚In Barcelona wirst du tot sein, noch bevor du an der Startlinie stehst.‘ Als wir am Flughafen ankamen, erwarteten uns vier Interpol-Bodyguards, die uns das gesamte Wochenende über nicht von der Seite gewichen sind.“
"Mit Andrea Iannone ist es nicht leicht"
Als Marco Simoncelli im Oktober 2011 in Sepang tödlich verunglückte, verabschiedete sich Carlo Pernat vorerst vom Rennsport: „Marcos Tod ist ein schrecklicher Verlust. Ich weiß nicht, ob er dazu in der Lage gewesen wäre, einen MotoGP-Titel zu holen. Aber er hätte auf jeden Fall alles daran gesetzt, und die Leute hätten ihn dafür geliebt.“
Sechs Monate nach Simoncellis Unfall klingelte bei Carlo Pernat das Telefon. Der Mann am anderen Ende der Leitung war Andrea Iannone. Pernat war zurück im Spiel. „Mit Andrea ist es nicht leicht. Ich glaube fest daran, dass er das Zeug zum Gewinnen hat. Er ist unglaublich talentiert und wenn er sich nur etwas mehr formen lassen würde, könnte er der nächste Weltmeister sein. Es läuft ein bisschen wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Privat ist Andrea ein freundlicher Mensch, aber beim Racing ist er sehr verbissen.“
Damit endete das Gespräch mit dem 68-jährigen Italiener. Carlo Pernat trank aus, verließ den Tisch und kehrte ins Paddock zurück, umhüllt von einer Wolke aus Tabakqualm. Er mag ein Dinosaurier im GP-Zirkus sein. Aber in diesem Moment sah es so aus, als hätte sich der Dinosaurier dazu aufgemacht, eine Horde wehrloser Schafe zu terrorisieren.