Am Anfang steht der Baum, diese seltsame Art Ampel. Und am Ende steht die Laufzeit auf einer großen Anzeigetafel. Davor steht Schiss, dahinter die Vermutung: Es geht in Beschleunigungsrennen eigentlich nicht um Beschleunigung. Es geht um etwas vollkommen anderes, etwas, das sich in der Geschwindigkeit nicht einmal ausdrückt. Es geht um etwas, das hinter das Spektakel zurücktritt, aber das ganze Spektakel trägt: Hoffnung. Ein Selbstversuch.
Die Sache wird interessant, als der Dicke mit dem Essen durch ist. Gerade hat er einen mächtigen Lappen Salami-Pizza von seiner flossigen Linken heruntergekaut. Zwischen den Zähnen forscht seine Zunge noch nach Wurst- und Käseresten, da sagt er: „Manche Leute, die brauchen ein Leben lang, um zu wissen, wer sie sind. Aber hier, hier kannst du auch in ein paar Sekunden eine ganze Menge über dich und das Leben erfahren.“
Um Himmels Willen das Geschoss nicht verreißen!
Bis dahin schien das Angebot, sich einmal selbst auf dem Dragstrip zu versuchen, wenn auch nur mit einer Serien-Harley, genau eine vernünftige Wahl zuzulassen: kneifen. Wieso ein paar Hundert Meter geradeaus schießen, die Gänge ohne zu kuppeln durchreißen, sich krümmen hinter dem Lenker, um Himmels Willen das Geschoss nicht verreißen, rechts eine Betonwand, links, ein bisschen weiter nur entfernt, ebenfalls eine Betonwand – warum? Worauf sollte das hinauslaufen, wenn nicht auf eine stupide Nummer, die außer beängstigend vielen Gelegenheiten, sich lächerlich zu machen, wenig versprach? Nun aber sah die Sache anders aus, zumindest, wenn der Dicke mit dem Schnurrbart recht hatte.
Mike, der Dicke, sitzt in einem klimatisierten Blechhäuschen mit getönten Scheiben und geschmackloser blauer Auslegware
vor einem angejahrten Rechner, die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. Der Mann ist der Starter in Irwindale. Zwischen ein paar Schnellstraßen, den Abraumhalden von Kiesgruben und Stromleitungen, die sich nebenan im Umspannwerk treffen, liegt der Irwindale Speedway großflächig in die graubraune Trostlosigkeit im Umland von Los Angeles betoniert. Keine schlechte Kulisse für einen Tarantino-Film und die ideale Gegend, um nachts aus dem fahrenden Auto heraus verstümmelte Leichen im zähgrasigen Straßengraben zu entsorgen.
"Nicht denken. Fühlen. Tun"
Vor Mikes Starterhäuschen steht in der Affenhitze ein kurzer Mann mit langem Haar und Sonnenbrille. Normalerweise ist Gene Thomason keiner, der sich Zeit nimmt. Zeit nehmen die anderen, während er sich beeilt, damit die anderen von der Zeit möglichst wenig nehmen. Gene Thomason ist Dragracer. Wann immer er nicht spricht, sind seine Lippen ein Strich, und wenn er spricht, gibt er seinem Blick etwas Bedeutungsschweres. Seine Miene entkommt der Ernsthaftigkeit auch deshalb nicht, weil er etwas sehr Ernstes zu erklären hat, nämlich, wie man sich auf dem Dragstrip verhält, ohne ernsthaft Schaden anzurichten. Oder zu nehmen.
Dazu gehört, auch ohne Motorrad nicht zu lange irgendwo rumzustehen. Um die Startlinie liegt der Asphalt unter einer glänzend schwarzen Gummischicht. Vor jedem Rennen wird dieser Belag mit einem fiesen Haftspray präpariert, das sich über Wochen hin nicht verflüchtigt. Also bewegt der kurze Mann alle paar Sekunden seine Füße, während er doziert. Die Schuhe bleiben sonst kleben.
Eigentlich doziert Gene, der sich als Dragracer selbst den Namen Super-Gene gegeben hat, noch gar nicht. Er spricht über eine Gruppe, die vor ein paar Tagen bei ihm war, die ebenfalls auf dem Gummi geklebt und in der grellen Sonne geschwitzt hat. Wenn Gene eine neue Gruppe in die Geheimnisse des Dragracings einzuweisen versucht, dann ist das Erste, was er tut, aufzuzählen, was die Gruppe davor alles falsch gemacht hat. Vor allem: ihm nicht ordentlich zugehört. Mit priesterlicher Eindringlichkeit formuliert er Sätze, die oft mit „Versucht auf keinen Fall…“, „Stellt immer sicher, dass…“ oder „Ihr müsst unbedingt, sonst…“ anfangen. Im Kern läuft das, was er erzählt, darauf hinaus, dass es tatsächlich nicht schwer ist, schnell geradeaus zu fahren. Das kann jeder Trottel. Richtig schnell geradeaus fahren kann aber nicht jeder Trottel. Es ist viel weniger primitiv, als es aussieht, dafür aber umso gefährlicher. Man muss in sehr kurzer Zeit sehr viel richtig machen. Man könnte auch sagen, es kann sehr schnell sehr viel schiefgehen. „Schnell reagieren heißt sehr schnell falsch reagieren. Dann konzentriert man sich darauf, richtig zu reagieren. Und reagiert zu langsam.“
Am Start müsse man, sagt er und macht zur Veranschaulichung beschwichtigende Gesten mit den Händen, ruhig und entspannt sein und „settled in a nice rhythm“. Sonst könne man es gleich bleiben lassen. „Nicht denken. Fühlen. Tun“, sagt Dragracer Gene. „It is all in your head“ – es passiert alles in deinem Kopf.
Unter der Jacke mischt sich Hitze- mit Angstschweiß
Das stimmt allerdings. Es passiert gerade viel zu viel in diesem Kopf. Und die Gedanken in diesem Moment sind nicht mehr und nicht weniger als der Ausdruck von Schiss. Zum Beispiel davor, schon den Burnout zu versauen. Wenn es der erste Burnout überhaupt ist im Leben, macht das nicht eben gelassener. Sehr präzise kann der Mensch unter großer Anspannung funktionieren. Aber das muss nicht so sein. Unter Druck werden manchmal die simpelsten Abläufe durcheinandergebracht. Wer hat noch nie mal rechts und links verwechselt? So was ist schnell passiert. Und dann lässt man rechts die Bremse los, statt links die Kupplung wieder zu ziehen. Und kann es nicht auch sein, dass der Reifen gar nicht durchdreht, wenn bei 7000 Umdrehungen die Kupplung greift?
Dieser Gene hatte keine Zweifel daran. „Die Kupplung“, hatte er gemeint, „verträgt Power, aber sie will keine Hitze, also lass sie einfach flatschen, und der Reifen geht von 100 Prozent schlagartig auf null Prozent Traktion.“ Sicher? Abwürgen, umfallen, querkommen, weghoppeln, Haken schlagen und nach bemitleidenswert ungeschicktem Zweiradballett jämmerlich in der Betonbegrenzung enden – der Fantasie sind keine so engen Grenzen gesetzt. Von einer hausgroßen Plakatwand lächelt eine lustige Krake. Sie wirbt für einen Auto-Recycler. Der nimmt bestimmt auch Motorräder.
Im Anzug mischt sich der Hitzeschweiß mit dem Angstschweiß, der Mund ist trocken, der Magen unruhig. Es ist so weit. Der Typ bei den Burnout-Pfützen winkt auf Hüfthöhe kurz mit dem Zeigefinger. Das ist das Zeichen, die Strecke ist frei. Langsam rollt die Maschine durchs Wasser. Dahinter krampft sich die rechte Hand um den Bremshebel und bringt die Drehzahl auf 7000. Deutlich zittrig hält die Linke die Kupplung. Noch ein klebriges Schlucken, dann lässt sie los. Es ruckt kurz und – der Reifen qualmt, ganz ruhig, ganz unspektakulär.
In der Kühle seines klimatisierten Häuschens tippt der dicke Mike nun die Startnummer ein. Er sieht zu, wie oben am Baum die beiden Pre-Stage-Lampen leuchten, als das Vorderrad die erste von zwei Lichtschranken am Start quert. Noch kann nichts passieren. Herumnesteln am Visier. Die Nase juckt. Noch mal in der Sitzkuhle zurechtrücken. Heiß im Helm. Wissen die Hände, was sie tun sollen? Kann sein. Die Anspannung vielleicht ausatmen können? Nein. Vortasten, zentimeterweise, nach vorn gestemmt über den Lenker – was, wenn gleich die Füße die Rasten gar nicht finden? Noch einen Zentimeter weiter, nicht zu viel Gas, zwei Finger liegen locker an der Bremse, das Handgelenk ist wie eine Feder vorgespannt, Drehzahl 4000, zweite Lichtschranke, das Herz pumpt im Hals, die Stage-Lampen gehen an – und plötzlich, viel zu plötzlich brennt der ganze Baum. Los!
"Wir denken beim Dragracing nicht in Sekunden"
Der Lauf verfliegt, wie ein Niesen aus der Nase schießt: rasant, heftig, befreiend. Später stehen auf einem kleinen Zettel, er sieht aus wie ein schlampig abgerissener Kassenbeleg, fünf Zahlen: Reaktions- und Startzeit, 100-Meter- und Gesamtzeit, darunter die Geschwindigkeit im Ziel. Die Zahlen zeigen, ob es ein guter Lauf war oder ein schlechter. Dieser war nicht schlecht. Er war sauschlecht. Und gerade deshalb gut. Ein irgendwie mittelmäßiger Run hätte vielleicht der einzige bleiben können, weil er sich hinnehmen und abhaken und vergessen ließe. Der sauschlechte nicht. Ihm müssen weitere folgen, weniger aufgeregte, bessere. Aber: Nie läuft alles perfekt, immer geht etwas schief. Und vielleicht gerade weil das so ist, will, nein, muss man es wieder und wieder und wieder versuchen. Beim nächsten Mal besser starten, weniger Drehzahl, mehr Konzentration, nicht wieder in den Begrenzer, früher schalten, schneller aufreißen, bis zum Anschlag. All das stimmt, doch die Zeit auf dem Zettel stimmt wieder nicht. Denn man hat den zweiten Schaltpunkt verpasst – immer dasselbe. Und doch immer wieder anders. „Wir denken beim Dragracing nicht in Sekunden. Schon eine Zehntel ist hier ein ganzer Tag. Wir denken in Tausendstel“, hatte der ernste Gene am Anfang gesagt.
So mögen sich die Zahlen ähneln, die Laufzeiten, die auf der großen Anzeigetafel im Ziel strahlen. Doch die Läufe selbst tun das nie. Deshalb bleibt die Hoffnung auf den einen Run schlechthin, auf den idealen Versuch, bei dem die Welt einmal andersherum läuft: perfekt. Das ist die Hoffnung, die das Spektakel Dragracing so spannend hält – für jeden, der dort am Start steht, wie für jeden Zuschauer.
Wie schnell könnte man sein? Welche Zahl würde zeigen, dass die Welt für ein paar Sekunden den Atem angehalten hat, und zwar deshalb, weil man dieses eine Mal alles richtig gemacht hat? Am Baum dauert die Welt nur Sekunden, und das Leben ist vierhundert Meter lang. Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Start. Ziel. Schnell. Vielleicht. Vielleicht beim nächsten Mal. Es ist nicht die Beschleunigung, um die es in Beschleunigungsrennen geht. Das also hatte Mike, der dicke Starter, gemeint. Er hatte recht. Und ich habe nicht gekniffen.