Als der GP-Promoter Dorna 2010 die Moto2 als neue Klasse schuf, ging es darum, den hungrigen Nachwuchsfahrern gleiche Bedingungen zu schaffen – mit Einheitsmotoren der Honda CBR 600, Einheitsreifen von Dunlop sowie Elektronik, Sprit und sogar Kupplungen wie aus einem Guss. Das einzige Schlachtfeld für Ingenieure bot sich noch bei den Chassis. Und so machten sich vor der Premierensaison acht Hersteller daran, Rahmen und Schwingen für die mittlere Grand Prix-Klasse zu bauen.
In diesem ersten Jahr war der Wettbewerb um das beste Chassis extrem hart. Fünf verschiedene Hersteller waren in den Top Ten vertreten: Moriwaki, Suter, Speed Up, Motobi und FTR – aber keine einzige Kalex. Wie sich die Zeiten doch ändern. Denn 2015 präsentierte sich die Moto2 quasi als Kalex-Cup. Der deutsche Chassis-Hersteller beherrschte die Serie. Nur einer der besten 14 Fahrer fuhr ein anderes Fabrikat, und nur ein einziger Nicht-Kalex-Pilot konnte wenigstens eines der 18 Rennen gewinnen: Sam Lowes mit seiner Speed Up-Moto2. 2016 steigt auch er auf Kalex um.
2010 holte Kalex keinen einzigen Punkt
Wie konnte das passieren? Ist das Kalex-Paket tatsächlich so dominant oder sind andere Mächte am Werk? Die Kalex-Geschichte ist beeindruckend. Die in Bobingen bei Augsburg beheimatete Konstruktionsfirma entstand aus der Holzer-Gruppe heraus, die sehr erfolgreich im Autorennsport unterwegs ist. Die Mitarbeiter Alex Baumgärtel und Klaus Hirsekorn aber waren auch Motorrad-Enthusiasten. 2008 bauten die beiden ihr erstes Chassis für ein Motorrad, das von einem RSV Mille-Twin befeuert wurde, und stellten es in jenem Jahr beim PS-TunerGP erstmals einer breiten Öffentlichkeit vor. Das zweite Chassis war dann gleich für die Moto2, im Premierenjahr 2010. Nur das Sito Pons-Team traute sich damals, mit einem völlig unbeschriebenen Blatt im Grand Prix an den Start zu gehen.
In dem Jahr holte Kalex keinen einzigen Punkt. Doch schon in der folgenden Saison gewannen sie mit Stefan Bradl den WM-Titel. Dieser Erfolg veränderte alles. 2012 hatte Kalex schon 12 Fahrer, die Punkte holten, im Jahr darauf 13, dann 14 und in der vergangenen Saison 19. Zwei Drittel des Moto2-Feldes fuhren Kalex. Suter hingegen, Sieger des ersten Moto2-Rennens 2010 in Katar, ging den Weg in entgegengesetzter Richtung. 14 Punktefahrer waren es 2010 für die Schweizer, 2015 gerade mal noch einer. 2016 wird es keinen mehr geben, denn Suter hat den Moto2-Kampf jetzt gegen Kalex aufgegeben. Bei den anderen Konstrukteuren ist die Sache ähnlich. Immer weniger Fahrer steigen auf Speed Up, während die ersten Weltmeister Moriwaki wie auch Motobi, FTR und Harris längst schon unter dem Vormarsch von Kalex ausgestiegen sind. Die Bobinger gewannen schließlich vier der letzten fünf Moto2-WM-Kronen.
Moto2-Champ Zarco wechselte 2015 auf Kalex
Suters treuester Fahrer war der Schweizer Tom Lüthi, der für die Marke von 2011 bis 2014 vier Rennen gewinnen konnte. Danach traf er aber auch eine Entscheidung pro Kalex. Nach dem Motto: Wenn du sie nicht schlagen kannst, musst du bei denen mitmachen. „Ich glaube nicht, dass man eine Kalex braucht, um gewinnen zu können. Man kann immer noch mit einer Suter oder Speed Up siegen“, meint Lüthi, der 2005 auf einer 125er Weltmeister wurde. „Aber 2014 haben ich und mein Team beschlossen, mit dem Bike weiterzumachen, das auch die anderen fahren. So kannst du eine Variable in deinem Kopf ausklammern und dich auf deinen Job konzentrieren.“
Der amtierende Moto2-Weltmeister Johann Zarco ging einen ähnlichen Weg wie Lüthi. Nach zwei erfolglosen Jahren auf Suter wechselte er 2015 auf Kalex und gewann acht Rennen. „Erstens wollte ich auf einem Siegerbike sitzen und zweitens haben wir gemerkt, dass Dunlop härtere Mischungen in die Reifen packte – die Kalex funktioniert mit härteren Reifen viel besser“, erklärt der Moto2-Champ, der seinen Titel 2016 verteidigen will. „Der dritte Grund ist, dass die Kalex das beste Motorrad ist, denn man fühlt sich darauf auf jeder Strecke gut. Das Bike funktioniert einfach über einen größeren Einstellbereich. Selbst wenn es nicht hundertprozentig passt, kannst du damit immer noch schnell sein und kämpfst nicht so sehr mit dem Grip. Dein Kopf ist viel freier. Wir meinen, dass ein sensibleres Bike mit dem richtigen Setup besser funktioniert, aber du musst an die ganze Meisterschaft denken, du brauchst ein Bike, das immer gut ist.“
Kalex-Rahmen ist weicher und verzeiht mehr
So lautet die Theorie der letzten Jahre: Eine perfekt eingestellte Suter ist das schnellste Moto2-Bike überhaupt, aber der Kalex-Rahmen ist weicher und verzeiht mehr. Deshalb funktioniert er auch bei den meisten Fahrstilen, Streckenführungen und Grip-Verhältnissen. Natürlich gibt Kalex keine Details preis, aber wahrscheinlich hat der Rahmen ein bisschen mehr Flex. Außerdem ist es überflüssig zu erwähnen, dass jeder halbwegs intelligente Fahrer ein Motorrad wählen wird, das mit 90-prozentiger Effektivität auf allen Strecken unterwegs ist als eines, das nur auf drei oder vier Pisten zu 100 Prozent passt und dafür nur mit 80 auf den anderen.
„Wenn du mit der Suter ein perfektes Setup gefunden hast“, erläutert Lüthi, „ist das Bike viel präziser, mehr wie ein richtiges GP-Bike. Aber genau dieses Setup zu finden, ist verdammt schwer. Die Kalex ist nicht so präzise und sie bewegt sich mehr, aber man kann damit immer noch sehr schnell unterwegs sein.“
Unterschiede in der Moto2 sehr gering
Kalex-Mitbegründer Alex Baumgärtel ist der Siegeszug seiner Firma fast peinlich. „Wir fühlen uns immer noch wie Rookies in diesem Geschäft, denn wir haben vor gerade einmal sechs Jahren ganz klein angefangen“, gibt er sich über den Erfolg erstaunt. „In dieser Klasse geht es so eng zu, dass es ganz schwer zu erklären ist, warum gerade unser Chassis das bessere ist. Die meisten Fahrer sagen, dass unseres weicher ist als das von Suter, andere wiederum sagen genau das Gegenteil, was wir kaum glauben können. Wir haben die Suter nie auf Steifigkeit oder Geometrie untersucht, denn du musst einfach deinen eigenen Weg gehen.“
„Wir hatten Glück mit Stefan Bradl. Das war unser Turboantrieb“, so Baumgärtel. „Glücklicherweise haben wir mit ihm die richtige Richtung gefunden. Hast du nicht den richtigen Fahrer zur richtigen Zeit, verrennst du dich. Besonders in der Moto2, wo die Unterschiede so gering sind. Das ist wie Bobfahren; jeder hat den gleichen Antrieb, also gibt es keinen Leistungsunterschied. So, als hätte man gar keinen Motor. Die ersten drei trennen immer nur Hundertstel. Wenn die Verkleidung fliegenfrei ist, holst du vielleicht ein Tausendstel mehr auf der Geraden.“
Auch Sam Lowes wechselt die Seiten
Wenn sich aber die Chassis so ähnlich sind, woher kommt dann die Kalex-Dominanz? Vielleicht funktioniert das Bike auf den meisten Strecken besser, aber da gibt es noch mehr Aspekte. Die meisten Motorrad-Rennfahrer sind keine normalen Menschen. Sie besitzen einen übermenschlichen Glauben an sich selbst. Wenn also ein Konkurrent auf einem anderen Bike gewinnt, glauben sie sofort, dass sie mit diesem Bike auch gewinnen würden. Dass der andere besser sein könnte, fällt ihnen gar nicht ein. Würden sie das denken, könnten sie gleich aufhören.
Als Kalex nun begann, Rennen zu gewinnen, wollten immer mehr Fahrer den Rahmen haben. Und so gewann Kalex wiederum noch mehr Rennen. Obwohl mit der Zeit natürlich auch immer mehr Fahrer auf Kalex kein Rennen gewannen. „Das ist wie bei den Lemmingen“, lacht Baumgärtel über das Phänomen. Jetzt wechselt auch Sam Lowes die Seiten, obwohl er Gewissensbisse spürt. „Die Fahrer sind doch schuld daran, dass es so gekommen ist“, lächelt der Austin GP-Sieger, der 2016 auf Gresini-Kalex fährt, bevor er im Jahr danach mit Aprilia in den MotoGP geht. „Wenn unser Setting gepasst hat, war die Speed Up genauso gut wie die Kalex. Aber 99,9 Prozent der Saison war es kein Vorteil auf dem Motorrad zu sitzen, denn unser Setup-Fenster war viel enger als das von Kalex. Die ist nicht unbedingt besser, aber wenn du nicht so viel probieren musst, ist das für dein Selbstvertrauen viel besser und du kannst freier an dir arbeiten. Ein Wochenende war mein Bike einfach geil und am nächsten hatte ich überhaupt keine Chance.“
Ingenieure bekommen eine ganze Menge Feedback
So war das aber schon häufig im Rennsport. In den 1990ern wollte jeder eine Honda NSR 500 auf Michelin-Reifen haben – das war die Siegerkombination. Doch wenn einer das Glück hatte, so etwas in die Finger zu bekommen, gab es natürlich trotzdem keine Erfolgsgarantie.
Es ist natürlich von Vorteil für einen Hersteller, wenn so viele schnelle Jungs dein Produkt benutzen: Die Ingenieure bekommen eine ganze Menge Feedback von allen möglichen Fahrern mit unterschiedlichen Fahrtechniken und -stilen. Damit können sie ihr Bike viel schneller und effektiver entwickeln. Suter musste mit dem Gegenteil klarkommen: Sie hatten 2015 keinen Piloten in den Top 20. Woher sollte also das dezidierte Feedback kommen?
Kalex-Chassis kostet 65.000 Euro
„Speed Up hatte zu kämpfen, denn das einzige Feedback kam von mir“, erzählt Lowes. „Viele gute Fahrer sitzen auf Kalex und damit haben die die besten Infos. Außerdem entwickelt Dunlop auch noch in deren Richtung, weil dort die meisten Fahrer sind. Die Dunlop-Ingenieure hören immer deren Kommentare. Darüber hinaus hängt viel von den Teams und deren Arbeitsweise ab. 2014 war Mika Kallio auf der Marc VDS Kalex so verdammt schnell, und 2015 auf der Italtrans-Kalex hat er gar nichts mehr gerissen.“
Ein Kalex-Chassis kostet 65.000 Euro. Da muss bei Baumgärtel mittlerweile ganz schön der Rubel rollen? Doch der verneint. „Ich habe mein ganzes Geld in das Moto2-Projekt investiert. Wirklich alles. Aber heute habe ich weniger auf der Bank als in der Zeit, bevor ich dem Motorrad-Virus verfallen bin. Im Autosport entsprechen die Gehälter einem Industriestandard. Hier sind die Zahlungen kleiner. Aber das gleicht sich aus, wenn man Leidenschaft dafür empfindet. Als unsere Dominanz Form annahm, war ich eigentlich dagegen, denn du brauchst die Motivation, mit deinen Konkurrenten zu kämpfen. Wir sind nicht dabei, um einfach reich zu werden. Wäre das der Fall, würden wir andere Jobs machen. Außerdem wissen wir nicht, wie lange das anhält. Man ist schnell drin, aber auch schnell wieder draußen. Dazu muss ich mir nur die Mitbewerber anschauen.“

Baumgärtel hat recht, und ein gutes Beispiel dafür finden wir bei den Fahrwerken. Bis vor Kurzem dominierte Öhlins dieses Thema komplett in der Moto2, ähnlich wie im MotoGP. Aber in der Moto2 gab es ab 2014 eine regelrechte Abwanderung der Top-Fahrer zur KTM-Tochter WP, womit Zarco, Alex Rins und auch Tom Lüthi fahren.
Erstaunlicherweise fuhr Zarco 2015 als Kalex-Neukunde seinen WM-Titel auf einem Chassis von 2014 ein. Was belegt, dass Kalex schon seit einiger Zeit sehr gut funktioniert. Tatsächlich gab es in den ersten Jahren eine Menge Updates am Rahmen, aber in letzter Zeit so gut wie keine mehr. „Jetzt haben wir immer weniger“, bestätigt Baumgärtel. „Letzte Saison hatten wir zum Auftakt zwei Schwingen. Da aber alle in der Vorsaison das richtige Feeling aufbauen wollten, testete kaum jemand damit, bis Takaaki Nakagami damit Dritter in Misano wurde. Sein weicher Hinterreifen war im Ziel noch in sehr gutem Zustand. Da sagten alle plötzlich, okay, vielleicht sollten wir die Schwinge doch probieren.“ Lemminge!
Reifen sind alles
Paradoxerweise sorgen Einheitsreifen dafür, dass es in den Rennen primär um die Reifen geht. Nicht wie früher, als die Teams frei wählen konnten, welcher Reifen für sie funktioniert. Als es noch einen offenen Wettbewerb unter den Reifenherstellern gab, wurden die Pellen so entwickelt, dass sie zu den einzelnen Bikes passten. Heute müssen die Bikes für den Einheitsreifen entwickelt werden, also für Dunlop in der Moto2 und Moto3, bis 2015 für Bridgestone im MotoGP, ab jetzt dort für Michelin. Das kann einfach oder schwierig sein, abhängig vom Bike, dem Fahrer und den Ingenieuren. Aber auch die Reifen sind keine Konstante, denn sie ändern sich von Jahr zu Jahr und oft von Rennen zu Rennen.
Dunlops Moto2-Reifen machte 2015 einen Wandel bei der Balance der Motorräder, beim Fahrstil und dem Setup nötig. „2015 hatte der Hinterreifen offensichtlich mehr Grip, während vorne weniger Grip da war“, sagt Kalex-Boss Alex Baumgärtel. „Die Grip-Balance wanderte deutlich nach hinten, aber die Fahrer pushten dadurch noch mehr über die Font.“
Viele Fahrer hatten dann das Gefühl, dass die WP-Gabel besser mit dem 2015er-Vorderreifen funktionierte, und schon wollten alle diese Gabel haben. Dieses Paket verlangte von den Fahrern aber, dass sie viel präziser in die Kurven einbogen.
Und das wiederum erklärt, warum der Moto2-Stil heute viel smoother ist als zu Marc Márquez’ Zeiten. Der Zarco-Stil ist Beleg dafür. Statt dem wilden, schlingernden Rodeo von Márquez 2012 geht es jetzt um zentimetergenaue Smoothness.
Suter steigt 2016 aus
2015 war der Schlusspunkt für Suter. Die Marke, die 2012 mit Márquez den Titel gewann, holte in der letzten Saison nur 20 Konstrukteurspunkte (Kalex: 445). Dabei gab es große Pläne, 2016 zurückzuschlagen – mit einem völlig neuen Bike mit Umlenkung (eine Art auf den Kopf gestelltes CBR 600-System) und größerem Einstellbereich am Chassis. Damit sollte das Bike in allen Situationen besser auf die Dunlops abgestimmt werden können.
Trotzdem hat Suter sein Moto2-Engagement jetzt für 2016 abgesagt, weil es nicht gelang, einen der Top-Fahrer für das Motorrad zu begeistern. Das Problem war simpel: Kein Fahrer wollte von Kalex zu Suter wechseln, bevor das Motorrad belegen kann, dass es besser ist. Wenn aber Suter keinen Top-Fahrer bekommt, wird daraus auch nichts werden. Lemminge!
Zu viele Piloten an Kalex verloren
Suter-Ingenieur Dominique Langouet ist über die Firmenentscheidung entsetzt, das Motorrad einfach in die Ecke zu stellen. „70 Prozent an dem Bike sind komplett neu“, sagt er. „Bei unserem 2015er-Motorrad konnten wir 15 Millimeter am Radstand variieren. Bei der neuen Suter sind es 30 Millimeter. Wir haben das Motorrad mit Dominique Aegerter getestet, und die Ergebnisse waren sehr gut. Die Traktion hinten hat sich gewaltig verbessert. Mit der größeren Radstandsvariablen sollten wir außerdem die Gewichtsverteilung für jeden Fahrertyp, jede Strecke und die Reifen perfekt hinbekommen.“
Langouet gibt aber auch zu, dass Suter viele Piloten an Kalex verloren hat, weil sie zu viel Politik bei den Fahrern gemacht haben, indem nur ein paar ausgewählte Teams gute Teile bekommen haben, andere dafür nicht. „Vielleicht waren wir nicht fair genug“, so Langouet. Aber er stimmt auch Baumgärtels Lemming-Theorie zu: „In der Moto3 ist es doch das gleiche. Erst war Honda auf keinem guten Level und jeder wollte eine KTM. Jetzt ist Honda voll dabei und jeder will plötzlich eine haben – obwohl man mit beiden Modellen gewinnen kann.“ Gut für Kalex, schlecht für Suter – momentan zumindest.