Porträt Ken Roczen
Deutschlands bester Motocrosser

Ken Roczen, Deutschlands bester Motocrosser blickt nicht zurück, sondern nach vorn. Er will nach oben, nach ganz oben. An die Spitze der US-Supercross-Elite.

Deutschlands bester Motocrosser
Foto: KTM

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – da ließe sich jetzt munter philosophieren. Leider jedoch alles ziemlich kompliziert und vermutlich auch zu viel des Guten, jedenfalls für den durchschnittlichen Erdenbürger. Der kommt ja in der Regel ohne größere Blessuren, meistens aber leider auch bedeutungslos aus dem Zeitenkatapult der Weltgeschichte heraus.

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Bei Top-Sportlern sieht das schon anders aus. Eine Winzigkeit genügt oft schon, um so einem Sportlerleben eine völlig andere Richtung zu geben. Was das mit unserem „German-Motocross-Wunderkind“ Ken Roczen zu tun hat? Springen wir ein bisschen in seinen Lebensabschnitten umher und suchen diese Winzigkeiten.

"Diesen Jungen kann in der Motocross-Welt gar nichts stoppen"

Mattstedt, Thüringen, im Frühjahr 2006. Der elfjährige Ken ­Roczen befindet sich genau an der Grenze zwischen unbedarfter Kindheit und steiler Profikarriere. Tollt übermütig mit seiner Dogge und den Kumpels umher. Rast und fliegt täglich ganz unbeschwert über die Crosspiste neben dem Elternhaus. In der Schublade des Kinderschreibtischs liegt allerdings schon ein Fünfjahresvertrag mit einer eigens für ihn zusammengeführten Sponsorengruppe. Treibende Kraft dahinter ist der damalige Suzuki-Manager Bert Poensgen, der wie immer publikumswirksam orakelt: „Diesen Jungen kann in der Motocross-Welt gar nichts stoppen. Abgesehen von einer schweren Verletzung. Oder von den Eltern.“

Der zukünftige Star-Crosser sitzt derweil in der elterlichen Küche und diktiert seine eigene Version der Zukunft in den Notizblock des Reporters: „Mit 15 kann ich in der Motocross-WM starten, dann werde ich Weltmeister. Und dann ­gehe ich in die USA.“ Punkt, aus, keine Zweifel, sondern die Lang­frist-Planung eines Elfjährigen, angesichts derer man sich als reflektierender Erwachsener doch nachdenklich fragt, was man selber in diesem Alter auf die Reihe brachte.

Auch zum Thema Ernährung besitzt der Möchtegern-Champion – in der Hand eine knackige ­Thüringer Bratwurst – eine klare Meinung: „So muss das aussehen – ­außen knusprig, innen saftig und bloß nicht so ein Leichenfinger.“ Schon damals starke Worte – nach starken Taten. Bis auf wenige Krabbel- und Windeljahre, sitzt dieser Ken Roczen sein ganzes Leben auf Motocrossmopeds, fährt und fährt und fährt – und gewinnt eigentlich immer. Ist er mal wieder Jüngster seiner Klasse oder ist tatsächlich mal ein anderer schneller, dann gewinnt er eben im darauffolgenden Jahr. Junioren-Vizeweltmeister, dann Weltmeister. MX2-Vizeweltmeister und dann Weltmeister – in diesem Rhythmus. Wie er es der zweifelnden Welt vorhersagte, zieht er es durch. Genau wie auch die Sache mit den USA. Und das ist jetzt der Punkt, wo wir den ersten Zeitsprung vornehmen müssen.

Als Siegertyp kann man es nicht allen recht machen

Kalifornien, Sommer 2012. „Eigentlich“ hat es Ken Roczen jetzt geschafft. Er scheint am Ziel seiner Träume. Lebt jetzt mit Papa Heiko, seinem Trainer und ständigen Begleiter, in seiner erklärten Traumregion. Aber da steht ja das „eigentlich“, und das will erklärt sein. Rückblende, Saisonvorbereitung 2011. Der Familien- und Wohlfühlmensch Ken Roczen, der seine ganze Karriere auf Suzuki-Crossern saß, wechselte die Marke und startete von nun an im offiziellen KTM-Werksteam. Ein kompliziertes Konstrukt von Sponsorverträgen, das der pfiffige KTM-Sportmanager Pit Beirer geschickt interpretiert, macht es möglich. Rein sportlich ändert sich am Vorwärtsdrang des Thüringers wenig. Er gewinnt souverän den Weltmeistertitel 2011. Im Suzuki-Lager aber hinterlässt der Sonnyboy enttäuschte Freunde. Seine langjährigen Förderer müssen mit ansehen, wie Österreich die Ernte einfährt, welche die Japaner gesät haben. Für den jungen Ken ist das die erste Erfahrung, dass man es als Siegertyp nicht allen recht machen kann. Und weitere werden folgen.

Ein knallhartes Geschäft, ein Haifischbecken

Zurück nach Kalifornien, zurück in den Sommer 2012. Um das Thema „Roczen in den USA“ zu verstehen, muss man die Weltkarte des Motocross betrachten. In Europa existiert eine mittelprächtig funktionierende WM, deren Protagonisten neidisch über den Großen Teich schielen, während den Amis die Europa-Szene gepflegt am Hinterrad vorbeigeht. In den Vereinigten Staaten gibt es in rie­sigen Stadien pompös inszeniertes Supercross und in den Sommermonaten die eher traditionellen „Outdoor-Nationals“. Was aber zählt, ist Supercross. Da sind die Stars, da steckt das Geld, da gibt es den Glamour und die Zuschauer und die Mädels mit reichlich Silikon. Das ist ein knallhartes Geschäft, ein Haifischbecken. Und mittendrin schwimmt nun der erfolgsverwöhnte Europa-Karpfen Ken. Extreme Reiserei, ungewohnte Lebensverhältnisse und die schnellsten Offroadkutscher der Welt, die ganz schnell kapieren, dass dieser Europäer gute Linien findet. Aber auch, dass er am Ende manchmal körperlich ein wenig nachlässt, vor allem im Freien. Die Kritiker flüstern schon, dass ihm womöglich das erste Mal in seinem ­Leben die Grenzen aufgezeigt werden. Aber Ken, der Steher, kontert und macht nach einem guten, aber eben nicht perfektem Jahr 2012 seine Hausaufgaben für 2013. Er gewinnt in einem dramatischen ­Finallauf in buchstäblich letzter Runde die West Lites-Serie und ­erreicht bei den „Outdoor-Nationals“ Platz zwei. Jetzt kurz durchschnaufen, dann folgt der Absprung in den letzten Abschnitt.

2014 startet er in der großen 450er-Klasse

Florida, Dezember 2013. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – jetzt klappert es richtig in Roczens Würfelbecher, denn für ihn geht es mit dem Beginn der Supercross-Saison 2014 am 4. Januar in Anaheim/Kalifornien um den womöglich wichtigsten Schritt in seiner Karriere. Er startet von nun an in der großen 450er-Klasse und tritt gegen die Allerbesten an. Im Wettkampf um die dicksten Fleischtöpfe in der Arena. Aber auch darum, der beste Motocrossfahrer aller Epochen zu sein. Dieses Ziel formulierte er schon vor Jahren. Ab 2014 kann er es beweisen. Dabei ist der Zeitpunkt nicht so richtig günstig, denn nach seinem einzigen Auftritt in Europa mit einem formidablen Ritt beim Motocross der Nationen in Teutschenthal kam auf einmal irrsinniges Tempo in die Lebenswelt des US-Neubürgers. Das Fahrwerk an seiner Werks-KTM behagte ihm nicht, Gerüchte machten die Runde, er wechsle zurück zu Suzuki.

Die Spekulationen verstummten jedoch blitzartig, als KTM deutlich machte, dass es noch einen gültigen Vertrag gebe. Zusätzlich gab es ein neues Management, ein Umzug nach Florida stand an, dann das Zerwürfnis mit Vater und Trainer Heiko. Ab sofort trainiert Roczen bei Fitness-Guru Aldon Baker. Eine Trumpfkarte, denn der südafrikanische Ex-Radprofi arbeitet nur mit einer auserwählten, aber solventen Kleingruppe, zu der auch der amtierende Supercross-Champion Ryan Villopoto zählt. Typisch amerikanisch kicken sich die Fahrer bis zum Startgatter gegenseitig hoch, dann hat die wilde Meute freien Lauf. Daher heißt es jetzt, neben dem Talent auch die letzten Reserven zu mobilisieren. Das bedeutet: Ausdauertraining mit dem Rad, ­Eisen pumpen, Laktatwert, permanente Pulsüberwachung und ­eine radikale Ernährungsumstellung.

Bei Aldon Baker stehen Zucker und Burger auf der Roten Liste. Zum Ausgleich gibt es Drill, ausgeklügelte Psychologie und Rundumbetreuung bei jedem Training und Rennen. Der 44-jährige ­Fitness-Papst, der bei etlichen Quälübungen seinen Schützlingen höchstpersönlich noch was vormacht, formte vor Jahren aus einem aufgequollenen Ricky Carmichael einen Seriensieger, betreut ­Moto-GP-Star Nicky Hayden und viele mehr. Aber er macht sich auch schon Sorgen. Besonders um das Vater-Sohn-Verhältnis der Roczens.

Der Profi weiß: „Das ist eine Ablenkung, die Kenny nicht gut tut.“ Genau darum möchte der Jungstar die Beziehung auch ­gerne kitten: „Wir haben seit dem Motocross der Nationen nicht mehr miteinander gesprochen. Es ist sehr hart für ihn, mich nicht mehr zu trainieren, er ist verletzt. Aber ich hoffe sehr, dass er mich zumindest bei den Rennen an der Westküste wieder besucht.“ Wenn die beginnen ist diese Geschichte schon erschienen und Ken Roczens Zukunft schon wieder Vergangenheit. So schnell kann das gehen – jenseits von Mattstedt.

Der Weg des Ken Roczen

Jahn
2006 in Mattstedt: Strähnchen, elf Jahre alt und ausgestattet mit einem Fünfjahresvertrag.

Mit dem am 29. 4. 1994 in Thüringen geborenen Ken Roczen startete 2006 ein in Deutschland bis dato einmaliges Projekt. Allen voran Bert Poensgen von Suzuki und Wolfgang Thomas von Fox Deutschland betrieben zusammen mit Motul, Bridgestone und dem ADAC Nachwuchsförderung auf höchstem Niveau. Das Paket: ein ­finanziell abgesicherter Fahrer samt Familie und Förderer, die sich in den Kopf gesetzt hatten, einen deutschen Motocross-Weltmeister hervorzubringen. Der Plan war gewagt, ging aber dank eines Jahrhunderttalents auf. Der junge Ken war nervenstark, sein Vater verschwendete keinen Gedanken an einen Ausstiegsplan wie Schule oder Beruf. Es gab immer nur eine Richtung: vorwärts.

Ken Roczen räumte alle erreichbaren Titel ab: ADAC Junior Cup-Sieger, Deutscher Meister, Junioren-Weltmeis­ter, MX-Masters-Sieger und im Jahr 2011 schließlich MX2-Weltmeister. Die Förderer von damals können sich heute – zum Teil – noch die Hände reichen und zufrieden lächeln. Wolfgang Thomas von Fox blieb väterlicher Freund des Jungstars, Bert Poensgen war bis vor Kurzem sein ­Manager, der ADAC profitiert von seinem Aushängeschild auch bei der Breitenförderung. Traurigkeit herrscht nur beim Vater, der nach 15 Jahren gemeinsamen Teamworks unter dem derzeit ­zerrütteten Vater-Sohn-Verhältnis leidet. In Deutschland steht momentan weit und breit kein neuer Ken Roczen am Startgatter. Die Hoffnungen ruhen nun zukünftig ganz auf dem Engagement des ADAC und seiner erfolgreichen MX-Academy.

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