"Ride free, Willie G." Wie oft hat er diesen Spruch schon geschrieben - unermüdlich, immer freundlich, stets locker drauf. Auf Papierfetzen, Jacken, Wände, Motorräder oder nackte Haut … „I really don‘t know!“, antwortet der alte Herr, während seine wachen Augen funkeln. Es ist sein Leitspruch, sein Ansporn, sein Leben. Vor 80 Jahren erblickte er als William Godfrey Davidson in Milwaukee, USA, das Licht der Welt. Vater William Herbert, den man wie seinen Erstgeborenen „Bill“ ruft, ist gerade mal 28 Jahre alt, und Großpapa William A. (63) ist der älteste jener drei Davidson-Brüder, denen Harley-Davidson einen Teil seines Doppelnamens verdankt.
Der Clan ist groß und hält fest zusamemen
In Bill Juniors Adern fließt schottisches Blut, und die Davidsons sind stolz darauf. Der Clan ist groß und hält fest zusamemen. Mit stoischem Perfektionismus, analytischem Sinn für Finanzen und dem unerschütterlichen Glauben an ihre Idee haben sie es zusammen mit den Harleys zu beachtlichem Wohlstand gebracht. Motorräder bestimmen das Leben der Familie. Das Warten auf den Donner des V2, der abends die Heimkehr des Vaters von der Arbeit im Harley-Werk ankündigt, die Faszination für die Rennfahrer, die ihn von den Postern in seinem Zimmer aus angrinsen, und die Sehnsucht, selbst in den Sattel zu steigen - Bill Junior teilt all dies mit seinem jüngeren Bruder John A.
Wenn sie artig waren, nimmt ihr Dad sie zu Motorradrennen oder in die Fabrik an der Juneau Avenue mit. Die Brüder staunen über die hauseigene, für Unbefugte unzugängliche Sammlung historischer Harleys in den „Archives“, bewundern die Rennmaschinen im Race Department und lauschen gebannt den Storys der Testfahrer. Ihr Vater bringt ihnen den Umgang mit Gas, Bremse und Kupplung bei, John und Bill lernen schnell. Als Bill unter den wachsamen Augen seines Dads mit 15 Jahren auf sein erstes Bike steigt, die DKW-Kopie 125 S, reichen nur wenige Meilen, bis der Motorradbazillus endgültig zuschlägt. Zusammen mit John turnt Bill als Teenager auf leichten Maschinen im Gelände herum, in den 50er-Jahren gewinnt er auf seiner Harley 165 und dem K-Modell diverse regionale Offroad-Wettbewerbe.
Doch neben Bikes und Cars hat der junge Bill noch eine weitere große Liebe: Sie heißt Nancy und ist bezaubernd. Er geht mit ihr aus, fährt mit ihr Motorrad - und heiratet sie 1957. Die Hochzeitsreise führt nach Laconia, New Hampshire, wo sie gemeinsam Bills „Helden“, den Harley-Werksfahrer Joe Leonard, im Rennen anfeuern. Nancy und Bill sollen für immer unzertrennlich bleiben, zwei Söhne und eine Tochter werden aus der Ehe hervorgehen.
Autos, Motorräder und Hot Rods
Bills dritte große Leidenschaft gilt dem Malen und Skizzieren, und am liebsten bringt er - wie könnte es anders sein - Autos, Motorräder und Hot Rods zu Papier. Schon die Highschool-Kunstkurse fesseln ihn, doch das Kunststudium an der University of Wisconsin bietet seiner Faszination für Gestaltung wenig Raum. Ein Artikel in der Zeitschrift „Post“ soll sein Leben ändern: Er liest über Dream Cars, entworfen von Studenten des Art Center College of Design in Los Angeles, die ihr Interesse an Kunst und Fahrzeugen miteinander verbinden. Feuer und Flamme davon, überredet Bill seine Eltern, in LA studieren zu dürfen. Dort entdeckt der Künstler mit Benzin im Blut die überaus bunte Custom-Szene der Westküste. Eines Nachts im Jahr 1953 trifft er an einer Tankstelle einen Biker, der die Springergabel seines Harley-Big-Twins mit einem 21-Zoll-Vorderrad kombiniert hat - ein Novum in jener Zeit. Bill ist elektrisiert, endgültig wird ihm klar: „Die Form folgt der Funktion, doch Form und Funktion dienen der Emotion.“

Mit dem Design-Diplom in der Tasche reist er zurück nach Milwaukee, zurück zu Nancy - und direkt an den Zeichentisch von Clifford Brooks Stevens. Jener Mann, der 1944 zusammen mit Raymond Loewy und acht weiteren Profi-Gestaltern die Industrial Designers Society of America gründete, gilt als einer der angesagtesten Grafik- und Produkt-Designer seiner Ära. Für ihn arbeitet Bill am Styling von Möbeln und Außenbordern, wird für Studebaker und Willys tätig und wäre vielleicht Autodesigner geworden, hieße er nicht Davidson. Doch als Enkel eines der Firmengründer der Motor Company nimmt man gewisse Pflichten nur allzu gern wahr - zumal Harley-Davidson die Produktgestaltung bis dahin der Intuition künstlerisch veranlagter Ingenieure und Manager sowie externen Kreativ-Unternehmen überlassen hatte. Schon 1957 liefert Bill der Company erste nebenberuflich erstellte Entwürfe: Tank und Logo der allerersten Sportster-Modelle.
Da der 29-Jährige vor Ideen nur so sprüht, holt ihn sein Vater William H. Davidson, seit 1942 Präsident der Motor Company, in die Firma. Man schreibt das Jahr 1963, als Bill Junior das Styling Department gründet. Und weil die Harley-Mitarbeiter auch seinen Vater "Bill" nennen, taufen ihn die Kollegen jetzt kurzerhand „Willie G. Das „Team“ des frisch gebackenen Chefdesigners besteht aus ihm selbst und einem weiteren Mitarbeiter, der die Entwürfe als Modellbauer dreidimensional umsetzt. Willie G. hat völlig freie Bahn und verfeinert zunächst behutsam den Look der Tanks und Blechteile bestehender Modelle. Er verleiht der Electra Glide 1965 neben ihrem Namen den eleganten Schriftzug am Fender und entwirft die legendäre „Bat Wing“-Verkleidung sowie die berühmten Touring-Hartschalenkoffer.
Sein Vater räumt frustriert den Chefsessel
Doch während Brigitte Bardot Harley-Davidson mit ihrer gleichnamigen Hymne ein Denkmal setzt und „Easy Rider“ die Leinwände erobert, bläst der Motor Company ein eisiger Wind ins Gesicht. 1969 gerät sie in die Hände des großen Mischkonzerns American Machine and Foundry (AMF), dessen Produktspektrum von Booten bis zu Bowlingbahnen reicht. Willie G. ist konsterniert, als er erfährt, dass nun am Tank der Bikes ein AMF-Logo links neben dem Harley-Davidson-Schriftzug platziert werden muss. 1971 räumt sein Vater frustriert den Chefsessel. Willie G. und John A. bleiben, während in den folgenden Jahren diverse AMF-Manager versuchen, Harley-Davidson mit erheblichen Investitionen zu einem profitablen Massenhersteller zu machen.

Glücklicherweise lassen die neuen Firmenlenker dem Chefdesigner weiter zahlreiche Freiheiten. Er entwickelt das berühmte Number-one-Logo und das dazu passende Motorrad: die Super Glide, eine Synthese aus Sportster und Big Twin, ein „Factory Custom Bike“, das ab Werk einen Look hat, den sonst nur Customizer erschaffen. Sie wird zum Ahn einer ganzen Baureihe, denn zur Mitte des Jahrzehnts erhalten Willie G. und sein Team, zu dem seit 1974 auch sein Freund Louis Netz zählt, grünes Licht, noch radikalere Modelle zu entwerfen: Low Rider (1977), Café Racer (1977) und Wide Glide (1980) entstehen und schreiben Motorradgeschichte. Willie G. benötigt keine Marketingstudien, die ihm den Weg weisen. Er stellt sein Design auf die Probe, indem er mit dem Prototyp verreist und die Reaktionen anderer Biker testet. Darauf ist man bei Harley-Davidson so stolz, dass man es in der Werbung für den Café Racer verkündet und William Godfrey dort erstmals öffentlich Willie G. nennt, was den Fans der Marke nicht verborgen bleibt …
Vieles ist im Umbruch, als die 70er-Jahre enden: Willie G. hat Krawatten abgeschworen und trägt jetzt Vollbart sowie Wuschelfrisur, und AMF hat mangels Gespür für den Motorradbau im Allgemeinen und Harley-Davidson im Besonderen endgültig den Spaß an seiner Motorradsparte verloren. Im gleichen Maße, in dem Harleys Produktionszahlen stiegen, sank die einstmals untadelige Produktqualität. Der Großkonzern beauftragt Corporate Vice President Vaughn Beals damit, einen Käufer für seine Motorradsparte zu finden. Doch Beals beruft ein Meeting der Harley-Top-Manager ein und verkündet ihnen seinen kühnen Plan, gemeinsam die Firma zu übernehmen. 13 Männer wollen sich auf den Deal einlassen - unter ihnen Willie G. „Ich gehe gerade ein großes Risiko ein“, beichtet er daheim seiner Nancy, „aber das ist meine Chance, und ich will sie ergreifen. Es gibt keine Garantie, dass das funktioniert, aber ich glaube an unsere Marke.“ So kommt es, dass am 26. Februar 1981 die Top-Manager um Beals „ihre“ Firma mit Hilfe eines Bankenkonsortiums zum Preis von 80 Millionen US-Dollar erwerben.
Gründung der Harley Owners Group
Die Nachricht, dass der Deal perfekt ist, erreicht Willie G., als er gerade auf einer olivgrünen 81er-Electra-Glide von York nach Daytona aufbrechen will. Stolz überklebt er die Buchstaben AMF an ihrem Tank und auf seinem Shirt. „The Eagle soars -alone“ („Allein steigt der Adler empor“), jubelt man auch in der Juneau Avenue. Erneut hat die Firma mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, da der Motorrad-Boom bereits wieder abflaut, doch zum wiederholten Mal in der Unternehmensgeschichte sichern neue Produkte und neue Ideen das Überleben. Zu den neuen Produkten gehört die Softail, ein Bike im puristischen Look klassischer ungefederter Nachkriegs-Chopper, das jedoch mit verborgenen Federbeinen und dem brandneuen Evolution-Motor technisch vollkommen auf der Höhe seiner Zeit ist. Zu den neuen Ideen zählen die Just-in-Time-Produktion, drastische Maßnahmen zur Qualitätssteigerung sowie die Gründung der Harley Owners Group unter der Ägide von Willie G.s Sohn Bill.

Willie G. behält weiterhin das Ohr direkt am Markt: Unermüdlich pflegt er auf Treffen und Events den Kontakt zur Basis. Und während der wirtschaftliche Erfolg nicht ausbleibt, entwirft sein Styling-Team weitere Softail-Modelle, unter ihnen die Heritage Softail (1987), die Softail Springer (1988) sowie die legendäre Fat Boy (1990). Stilsichere Gestalter wie Ray Drea und Frank Savage werden ihn in den folgenden Jahren und Jahrzehnten dabei unterstützen, selbst kühnste „Rolling Sculptures“ wie die V-Rod zu schaffen - perfekte Synthesen aus „Look, Sound und Feeling“, wie Willie G. sie nennt.
2008 geht für Harleys Designchef ein lang gehegter Traum in Erfüllung: Das 12 000 Quadratmeter große Werksmuseum in Milwaukee öffnet seine Tore. Willie G. erinnert es an seine Kindertage, in denen er mit seinem Bruder in den „Archives“ herumstöbern durfte. Aufgrund des großen Andrangs werden die Eröffnungstickets verlost - und ein alter Herr ist sichtlich gerührt: „Als Mitglied der Familie Davidson könnte mich nichts glücklicher machen.“
Vier Jahre später, am 1. Mai 2012, geht dieser Gentleman, der 49 Jahre als Chefdesigner für Harley-Davidson tätig war, in den Ruhestand. Die 19 verbleibenden Mitarbeiter im Styling-Team werden jetzt von Ray Drea geleitet. Und was wird aus Willie G. selbst? „Ich werde immer zeichnen und malen - das ist mein Leben. Ich mache das, seit ich einen Stift halten kann! Dieser Job war meine Leidenschaft, mein Hobby, meine Art zu leben, und als Markenbotschafter sowie als Chief Styling Officer Emeritus bleibe ich natürlich eng mit der Motor Company verbunden“, verspricht der ebenso alte wie hellwache Geist. „Ich werde Rallyes und Rennen in den USA und auf der ganzen Welt besuchen, und ich habe ein Büro im Harley-Davidson-Museum.“ See you there, Willie G., und alles Gute zum 80. Geburtstag!