
Seine besten Auftritte hatte Claudio Castiglioni nicht etwa im Scheinwerferlicht der Messen, wenn er das neueste Modell des Hauses mit echt italienischem Pathos als schönstes und bestes Motorrad aller Zeiten pries. Und auch nicht auf den Rennstrecken, wo er in den 90er-Jahren mit den Marken Cagiva und Ducati Triumphe feierte. Am überzeugendsten und gleichzeitig am liebenswertesten wirkte er vielmehr, wenn er im Werk leidenschaftlich mit seinen Mitarbeitern diskutierte - und diese genauso vehement wie er ihre Meinung vertraten, ohne Scheu vor dem Big Boss. „Signor Claudio“ nannten ihn seine Arbeiter und Angestellten vertraulich und vertrauensvoll zugleich. Im hierarchischen und titelsüchtigen Italien, wo sich selbst Chefs von Fünf-Mann-Betrieben mit „Signor Presidente“ anreden und entsprechend hofieren lassen, eine bemerkenswerte Ausnahme.
Castiglioni hatte Höflinge nie nötig, er suchte die offene Diskussion. Selbst Journalisten gegenüber ließ er, so er in ihnen den wahren Funken der Motorradpassion entdeckte, alle geschäftsmäßige Zurückhaltung fahren, ging spätestens beim zweiten Interviewtermin zum Du über und zettelte intensive Diskussionen über Motorräder an. Gemeinsam redete man sich die Köpfe heiß, oft bis tief in die Nacht, und Castiglioni ließ seinen Gegen-über an seinen Ideen für künftige Modelle und Motoren teilhaben. Dank eines einzigartigen Gespürs wusste er instinktiv schon heute, was den Motorradfahrern übermorgen gefallen würde.
Cagiva, Ducati, Husqvarna, MV Agusta: All diese Firmen verdanken ihm ihre Existenz beziehungsweise ihre Wiedergeburt. 1978 gründete er zusammen mit seinem älteren Bruder Gianfranco in Varese, 50 Kilometer nördlich von Mailand, seine erste Motorradmarke. Sie führte den Namen der väterlichen Firma für metallische Kleinteile fort: Cagiva, ein Kürzel für CAstiglioni GIovanni VArese. Zunächst bauten die Brüder nur Motorräder mit kleinem Hubraum, doch 1983 schlossen sie ein Abkommen mit Ducati über die Lieferung von mittel- und großvolumigen Motoren. Für den Hersteller aus Bologna Rettung in höchster Not, denn der stand damals unter Aufsicht staatlicher Verwalter, die sich auf den Bau von Dieselmotoren für die Autoindustrie konzentrieren wollten. Nur dank des Abkommens mit Cagiva blieb die Motorradsparte am Leben. 1985 übernahmen die Castiglionis das Ruder ganz und krempelten die Firma um. Während Bruder Gianfranco sich allmählich aus dem Motorradgeschäft zurückzog, holte Claudio Techniker aus Varese und namhafte Berater zu Hilfe, baute die Entwicklungsabteilung wieder auf und ließ Ducati in neuem Glanz erstrahlen.
Zudem begann er eine Zusammenarbeit, die über 20 Jahre dauern und sich als äußerst fruchtbar erweisen sollte: Er kaufte das kleine Entwicklungszentrum des Bimota-Gründers Massimo Tamburini in San Marino und versicherte sich dessen Unterstützung. Gemeinsam schufen die beiden Zweiradbesessenen in den nächsten Jahrzehnten wahre Meilensteine der Motorradgeschichte, allen voran im Jahr 1994 die Ducati 916, die den Begriff „Supersportler“ neu definierte und bis heute als eines der schönsten Motorräder der Welt gilt. Diesen Titel teilt sie sich mit der 1997 vorgestellten MV Agusta F4, ebenfalls ein Gemeinschaftswerk von Tamburini und Castiglioni, genau wie das Naked Bike Brutale. 1990 schufen die beiden die Cagiva Mito, die den Markt der 125er mit ihrem 32 PS starken Zweitaktmotor, 175 km/h Höchstgeschwindigkeit und der Optik eines Grand Prix-Renners revolutionierte. Ebenfalls auf Castiglionis Initiative entstand 1993 die Ducati Monster, die erste Vertreterin der modernen Naked Bikes, diesmal in Zusammenarbeit mit dem Designer Miguel Galluzzi.
Realität wurden diese faszinierenden Motorräder nur, weil Castiglioni seinen Mitarbeitern weitgehend freie Hand ließ. Ohne Kostenkalkulation durften sie nach Herzenslust entwickeln, Teile ordern und oft genug sogar produzieren. „Vom unternehmerischen Standpunkt gesehen bin ich eher eine Niete“, gestand er vor einigen Jahren im Gespräch mit MOTORRAD. „Ich kann mich für Zahlen einfach nicht begeistern.“
Das rächte sich. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens, Anfang der 90er-Jahre, gehörten ihm Cagiva, Ducati, MV Agusta, Husqvarna und Moto Morini, ein wahrer italienischer Motorradpool, der eigentlich alle Sparten hätte bedienen können. Doch eine kluge Geschäftsstrategie war Castiglionis Sache nie, er geriet mit seinen Firmen immer wieder tief in die roten Zahlen. Was nicht nur seinem wenig entwickelten Sinn für Zahlen, sondern auch einer wahrhaft maßlosen Großzügigkeit geschuldet war. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Freudentaumel nach dem Sieg Italiens bei der Fußball-WM in Deutschland kreierte er 2006 das Sondermodell MV Agusta Brutale 910 R Italia - und verehrte sämtlichen Spielern und Trainern der Nationalmannschaft je ein Exemplar. Ein teurer Spaß, zumal er die Aktion noch nicht einmal PR-mäßig ausschlachtete.
Zudem riss ihn seine Begeisterung für den Rennsport immer wieder zu Investitionen hin, die er sich im Grunde nicht leisten konnte. Mit Husqvarna räumte er in der Motocross-WM ab; in Castiglionis Ägide, die von 1987 bis 2007 dauerte, fuhr die Marke satte 55 ihrer insgesamt 78 WM-Titel ein. Mit der Cagiva Elefant mischte er bei der Rallye Paris-Dakar mit, wo Edi Orioli 1990 und 1994 zweimal siegte. Seine eigentliche Passion aber galt den Straßenrennen. Schon seit 1982 trat er mit Cagiva im Grand Prix an, und als Eddie Lawson 1992 auf dem 500er-Vierzylinder in Ungarn endlich den ersten Sieg einfuhr, ließ Castiglioni in der Boxengasse seinen Freudentränen freien Lauf. Dass John Kocinski dann 1994 sogar um den Titel mitfuhr und die kleine Marke Cagiva den Riesen aus Japan Paroli bot, war ihm eine enorme Genugtuung. Noch mehr gelang ihm mit Ducati. Als treibende Kraft hinter der Gründung der Superbike-WM legte er den Grundstein für den bis heute anhaltenden sportlichen Erfolg der roten Renner aus Bologna.
Doch all diese Rennsport-Aktivitäten kosteten viel - zu viel. Und so musste er sein eigenes Imperium nach und nach wieder zerschlagen. Ducati verkaufte er Mitte der 90er-Jahre an den US-Fonds TPG, was ihn schwer traf: Nach eigener Aussage setzte er danach nie wieder einen Fuß ins Bologneser Werk. Die Marke Moto Morini, für die er Tourer- und Custom-Pläne hatte, die aber nie verwirklicht wurden, gab er damals ebenfalls ab. Husqvarna ging 2007 in den Besitz von BMW über.
Als der notgedrungene Verkauf von Ducati sich abzuzeichnen begann, konzentrierte sich Castiglioni voll auf eine andere italienischen Edelmarke: MV Agusta, 1992 erworben, Gerüchten zufolge nach einer gewonnenen Partie Poker gegen den Grafen Rocky Agusta - eine Anekdote, die er augenzwinkernd stehen ließ. Und er schaffte es tatsächlich, Italiens berühmtester Marke neues Leben einzuhauchen. Ohne Turbulenzen ging das aber auch hier nicht ab: Zweimal verkaufte Castiglioni die Marke, einmal an Proton, einmal an Harley-Davidson, und zweimal kaufte er sie für kleines Geld wieder zurück. Schmerzlich blieb für ihn bis zum Schluss, dass es ihm nicht gelang, MV wieder auf den Rennstrecken dieser Welt heimisch zu machen. Sein langjähriger Freund Giacomo Agostini, der bereits bei Cagiva als Teamchef fungiert hatte, stand für dieses Abenteuer auf Abruf bereit.
Dazu ist es nicht mehr gekommen, doch auch so hinterlässt Cas-ti-g-lioni seinem Sohn Giovanni ein beeindruckendes Erbe, darunter den Dreizylinder MV Agusta F3, der auf der Mailänder Messe im letzten Jahr für Furore sorgte. Neben der Familie und den Freunden trauert nun eine ganze Branche um eine ihrer Schlüsselfiguren. Mit Castiglioni geht nicht nur ein genialer Motorradentwickler, sondern auch ein Unternehmer, der sich für seine Beschäftigten tatsächlich verantwortlich fühlte. „Er gab uns immer das Gefühl, Teil seiner Projekte zu sein“, hieß es in der bewegenden Erklärung der MV-Mitarbeiter, die während der Beerdigung verlesen wurde. „Und er hat nie vergessen, dass das Wichtigste für eine Firma ihre Arbeiter, Manager und Angestellten sind. Addio, Signor Claudio.