Verdammt, wenigstens an Wundern sollte die Zeit etwas spurloser vorbeigehen. Respektvoller. Oder gnädiger. Kommt einem doch vor wie gestern, dass Yamahas FZ 750 Revolution gewordene Ansammlung technischer Finessen alle, aber wirklich alle in ihren Bann zog. Und jetzt steht sie da, mit 130er-Hinterreifen, zu viel Gewicht und Stahlrahmen. Ein altes Motorrad? Nein, ein altes Wunder, und das ist immer noch ein gewaltiger Unterschied.
Aus GSX-R und CBR 900 werden GSX-R und CBR 900: Die moderne Zweiradszene bestaunt das rechnergestützte Kalkül, mit dem Japans Ingenieure bestehende Konzepte in die Nähe der Vollkommenheit entwickeln. Vor nicht allzu langer Zeit jedoch herrschte im Universum der technischen Möglichkeiten die reinste Suchaktion, und niemanden hätte gewundert, morgens beim Frühstück in MOTORRAD zu lesen, Nippons Söhne hätten das Rad ein zweites Mal erfunden. Viel runder. Stöbern: nach PS-trächtigen Lösungen, nach stabilen Chassis-Varianten. Probieren: gewichtsparende Werkstoffe, das Besondere – das, was die andern nicht haben. Pioniertage. Gut 15 Jahre liegen diese Zeiten zurück, und wer heute bei Yamaha automatisch an R1 denkt, kann sich kaum vorstellen, dass just diese Marke damals wie besessen an ihrem Viertakt-Profil feilte.
IFMA 1984 in Köln, Vorstellung der Yamaha FZ 750. Sie haben es getan: Fünf Ventile tanzen über jedem der vier Zylinder. Drei für den Ein-, zwei für den Auslass. Du bist sprachlos. Was ist dagegen ein noch runderes Rad? Gerade eben waren vier zum Maß der Dinge erhoben worden. Erst vor kurzem hat sich Honda dem V-Vier zugewendet, jetzt hält Yamaha dagegen und triumphiert: Reihenvierer, in Ewigkeit, Amen. Aber so kompakt, dass der ganze Block just 415 Millimeter breit baut. Die Zylinderbank um 45 Grad nach vorn geneigt. Du schaust und denkst sofort: logisch. Fragst: Warum ist bis jetzt keiner darauf gekommen? Und in diesem Moment bist du der FZ erlegen, weil ihre technische Konsequenz dich verzaubert.
Denn natürlich ist es logisch, den Motor nach vorn zu neigen, um Bauhöhe zu sparen, um den Schwerpunkt zum Vorderrad und nach unten zu verlagern. Um Ansaugwege zu realisieren, deren Geradlinigkeit elektrisierender wirkt als die denkbar heißesten Kurven. Fallstrom heißt das Zauberwort. Hört sich schon viel potenter an als Flachstrom. Bei geöffnetem Vergaserschieber und Einlassventil kannst du den Kolbenboden betrachten. Heißt es. Bis da, wo sich der Einlasskanal vor seinen drei Ventilen aufspaltet, gibt’s nicht den kleinsten Knick, der das heranströmende Gemisch daran hindern könnte, den Zylinder bis zum Stehkragen zu füllen. Dicke Ansaugschlunde gieren in die Airbox hoch, direkt unter der vorderen Tankhälfte – und nicht versteckt im Rahmendreieck. Dort bunkert die FZ einen Großteil ihrer 21 Liter Sprit. Schwerpunkt gesenkt, schon wieder.
Du kannst nicht aufhören, immer wieder hinzuschauen. 16-Zoll-Vorderrad. Innenbelüftete Scheibenbremsen. Aluschwinge, Rahmenhauptrohre geradlinig vom Lenkkopf zur Schwingenaufnahme. Prospektdaten kreiseln dir durch den Kopf. 100 PS bei 10500 Umdrehungen. Macht 130 PS pro Liter Hubraum. Über 230 Spitze, und wenn da nicht die ebenfalls nagelneue Suzuki GSX-R 750 wäre, dann läge die FZ Lichtjahre vor der gesamten Dreiviertelliter-Konkurrenz. Ganz zu schweigen von Yamahas eigenen Viertaktern: Zwar hatte die Stimmgabel-Marke mit dem Vierventil-Twin XS 500 Mitte der 70er schon mal eine progressive Vorlage gegeben, aber nach technischen Problemen gleich wieder den Rückzug zu konventionellen Zweiventilern angetreten, die sich fortan – siehe XJ 900 – im Grenzgebiet zwischen Sportlern und Tourern tummelten. Die XJ 1100 wagte einen zaghaften Schritt in die Neuzeit, aber ein echter Kompetenzbeweis fehlte immer noch. Der Zweitakt-Spezialist wollte sich freischwimmen. Und die FZ war wie das große DLRG-Abzeichen.
Frühjahr 1985. Die erste FZ taucht beim Motorradtreff auf, kippt auf den Seitenständer, ist Mittelpunkt. Fahrer inklusive. Braucht der Mensch Wasserkühlung? Ich stell’ meine Ventile in ’ner halben Stunde ein, und du? Hast’e schon mal ’ne Kerze gewechselt? Das Neue kämpft gegen die Ewig-Gestrigen, denen der Umstand, dass ihre ohv-Motoren immer anspringen, genügt, um sie als finale Lösungen zu betrachten. Vier Jungs in zaghaft buntem Leder kommen der Sache schon näher, fragen nach Hochgeschwindigkeitspendeln, Beschleunigung. Du hast schon alles gelesen: Über 200 wackelt sie ein wenig mit dem Heck, aber viel weniger als die neue Suzi. Sie braucht 3,3 Sekunden bis 100, und das Tollste: Diese 750er zieht fast so gut durch wie die besten Big Bikes.
Du lässt die anderen diskutieren, schleichst um das Motorrad. 40 Kilo schwerer als die GSX-R. Okay, der Stahlrahmen wird einige Kilogramm mehr bringen als das dürre Alu-Geflecht der Suzuki. Ein paar Pfund gehen aufs Konto der Wasserkühlung. Die Halbverkleidung wirkt ein wenig grob, Bremsscheiben und Vier-in-zwei-Auspuff ziemlich massig. Das ganze Motorrad sehr ausgewachsen. Fast schon zu ausgewachsen für einen Sportler. Die anderen sind gerade beim 16 Zoll-Vorderrad angekommen. Der Fahrer betet runter: »...lenkt total weich ein. Nee, nee, nix da mit tückisch Aufstellen beim Bremsen.«
Schluss jetzt. Du musst sie fahren. Der Yamaha-Händler vor Ort kennt deine blaue RD 250 noch ganz genau. Zum Glück kennt er deinen Kontostand weniger exakt: Probefahrt. Und am Ende dieser Probefahrt hat auch deine Stadt ihren Eddie Lawson. Weil du das Biest zähmen konntest. Jawohl, diese Rennmaschine ist dir gefolgt wie ein Lamm. Stop an go bis zum Ortsende, dann die ersten drei Gänge hoch gerissen, auf der Ausfallstraße. Die Wechselkurven im Tal, zack, zack, zack. Alles richtig gemacht. Abends beim Bier kommst du wieder zu dir und musst ganz leise eingestehen, dass man auf diesem Motorrad nicht viel falsch machen kann. Ganz egal, ob in den Wechselkurven der zweite oder dritte Gang anliegt – die FZ flutscht einfach durch. Ob man im Vierten, Fünften oder Sechsten zum Überholen ansetzt - einfach vorbei.
Zehn Prozent höherer Füllungsgrad als bei Vierventilern. Sagt Yamaha. Dazu eine Brennraumgestaltung, die das letzte Quäntchen Energie aus dem Gemisch holt. Theorie und Praxis: Du hast sie gefahren, es funktioniert. Tut ab 1500 Touren, wenn die anderen Vierzylinder noch kraftlos am Gasseil hängen, tut bis 11000. Ab 4000 fängt der Spaß an, ab 6500 tobt der Orkan. Aber du bist nie ausgeliefert. Dieser wunderbar stufenlose Abzug am rechten Lenkerende, der macht dich zum Herrscher über diese Gewalten. Selten hat technischer Fortschritt so viel Fortschritt gebracht, selten war er angenehmer, nützlicher, zivilisierter.
Fünfzehn Jahre sind vergangen, vor sechs wurden in Deutschland die letzten FZ verkauft. Dein kleiner Schrein zu Ehren ihres Entwicklungsleiters steht immer noch, aber schau sie dir an; übergewichtig, untermotorisiert, mit einem Fahrwerk - so rührend zierlich. Aber! Anders als die GSX-R hat die FZ Fahrbarkeit und Leistung vereint. Das ist der Maßstab, nach dem wurden später auch Honda VFR oder Kawasaki GPZ 900 gebaut, und noch jedes Motorrad, das darüber hinausschoss, führte eine Randexistenz. Sie hat wichtige Impulse für den Fahrwerkbau gesetzt. Eine Linie vom Lenkkopf zur Schwingenaufnahme, und die Hauptrohre umfassen den Motor. Klar, heute massive Profile, aber im Prinzip wie bei der FZ. Vor allem: Sie hat bewiesen, wie wichtig Meilensteine sind, Motorräder, die wirklich jeden bewegen. Rund um ihr Erscheinen haben die Motorradfahrer weltweit mehr über Ventilanordnung, Füllungsgrad und zu beschleunigende Massen gelernt als in den 15 Jahren davor und danach. Weil es keinen Stammtisch gab, an dem nicht über die magischen Fünf diskutiert wurde.
Schließlich: Einige Motorradfahrer wollen Variationen immergleicher Traditionsthemen. Andere wollen das technisch Machbare. Gebündelt, möglichst komplett, hochaktuell. Damals FZ, heute R1. Also bewahre deinen Schrein und halte sie in Ehren. Fahr. Aber sei gnädig, denn so alt, dass sie dich freut, nur weil sie fährt, so alt ist die FZ noch nicht. Also stell dir vor, wie die anderen auf der Bahn geeiert haben, vor 15 Jahren, und wie sie bocksteif durch Wechselkurven stolziert sind. Wie du sie ausquetschen musstest, um an ihre 85, 90 PS zu kommen. Schmeiß sie von einer Kurve in die nächste und lach dich schlapp über 200er-Schlappen. Dann: Nimm dir eine der letzten FZ, die mit den FZR 1000-Bremsen, und bilde dir ein, der Rahmen sei eine Spur stabiler. Siehst du: Mehr Tourensportler braucht auch heute noch kein Mensch. Was Wunder.
Technische Daten
Motor: Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, 749 cm3, Bohrung x Hub: 68 x 51,6 mm, 74 kW (100 PS) bei 10500/min, zwei obenliegende Nockenwellen, fünf Ventile pro Zylinder.Fahrwerk:Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen, Telegabel o 38 mm, Zentralfederbein mit Hebelsystem, Doppelscheibenbremse vorn, Scheibenbremse hinten, Bereifung 120/80 x 16 vorn und 130/80 x 18 hinten, Gewicht vollgetankt 241 kg.Fahrleistungen: Beschleunigung von 0 auf 100 km/h solo 3,8 sek, Höchstgeschwindigkeit solo 231 km/h.Preis 1985: 12798 Mark, Bauzeit 1985 bis 1993.
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