Aprilia Tuono V4 und KTM Super Duke GT im Test
Verdammt schnelle Kofferträger

Wenn die Luft brennen soll, führte bisher kein Weg an der 1290 Super Duke GT von KTM ­vorbei. Nun kommt eine Alternative aus einer Ecke, die wohl keiner vermutet hätte. Aprilia dreht an der Komfortschraube und meldet mit der neuen Tuono Anspruch auf den Sporttourer-Thron. Zeit für eine Express-Ausfahrt.

Aprilia Tuono V4, KTM 1290 Super Duke GT Vergleichstest
Foto: fact

Moment mal, Tuono und Tour? Handelt es sich nicht um das Motorrad, das stolz die Anzahl der Weltmeistertitel im Hause Aprilia vor sich herträgt? Dessen Schaltautomaten man auch mit voller ­Absicht bei Vollgas zum Runterschalten bewegen kann? Das ein Sounderlebnis wie in der Boxengasse der MotoGP verspricht? Kurzum das Motorrad, das seit Jahrzehnten voller Elan behauptet, ein ­Superbike mit Rohrlenker zu sein? Absolut richtig. Es handelt sich aber auch um das Motorrad, das seit Jahren in keinem unserer Vergleichstests auch nur in der Nähe von vorne lag, weil seine Talente trotz immenser Ausprägung doch eher monothematisch waren. Kurzform: fahrdynamisch hui, Rest … nun: nicht ganz so hui. Da erscheint es nicht verkehrt, am "nicht ganz so hui" zu arbeiten.

Unsere Highlights

Tuono rollt ohne Packtaschen-Set an

But worry not, die Vertreter der reinen Tuono-Lehre werden immer noch bedient und greifen zur weiterhin tourifizierungsfreien Factory-Variante der Aprilia Tuono V4. Auch die vermeint­lich gesoftete Basis-Tuono sollte nach ­Studium der Modifikationsliste und allen Erfahrungen, die man als gemeiner Motorradjournalist mit dieser kleinen, feinen Marke nun mal so gemacht hat, noch weit weg vom Nasebohren sein.

Und als wollte unsere Testmaschine genau das mit einem charmant italienischen Schulterzucken bekräftigen, kam sie entgegen aller Wünsche und Versprechungen ohne das erstmals optional angebotene Packtaschen-Set, dafür aber mit viel Termindrama. Fügen Sie an dieser Stelle bitte ein beliebiges, liebenswertes Italien-Klischee ein. Glücklicherweise sind die übrigen ­Änderungen kein Zubehör, sondern serienmäßig. Ebenfalls ein Glück, dass weder der dezent erhöhte Lenker noch der ­vergrößerte Windschild es schaffen, das bislang konsequent verwöhnte Auge zu stören. Höchstens das nicht ganz so ­dezent gewach­sene Soziuspolster samt stabiler Haltegriffe trübt die sehnig-kraftvolle Linie der Aprilia Tuono V4. Vertretbar angesichts der damit verbundenen Vorteile.

Kanten und Sicken bis zum Umfallen

Da muss das Auge bei der KTM 1290 Super Duke GT schon mehr verkraften. Gewiss keine Neuigkeit angesichts des seit Jahren "bewährten" Kiska-Designs im Hause KTM. Kanten und Sicken bis zum Umfallen, ­massiver Tank und ein schlankes Heck, das mit (den ebenfalls optionalen) Koffern aber genau das nicht mehr ist. Die KTM ist eine genauso mächtige wie polarisierende Erscheinung, ihr 20-Kilogramm-Gewichtsnachteil wirkt fast schon optimis­tisch ­neben der viel kompakteren Aprilia. Doch weder die schrullige Optik noch die ­Mehrkilos können die funktionale Brillanz dieses überpotenten Allwetztools verwässern. Die KTM sammelt in unseren Tests Topplatzierungen wie Aprilia (einst) besagte Weltmeistertitel.

Weshalb sie der aufgefrischten Aprilia Tuono V4 ­tiefenentspannt den Vortritt lassen kann. Apropos tiefenentspannt: Genau das ist man auf der Aprilia nach wie vor nicht. Ja, der Lenker ist nun spürbar höher, aber noch lange nicht hoch. Sehr hoch sind ­dafür allerdings immer noch die Fußrasten. In Summe ergibt das mit dem gefühlsechten Sitzkissen ein Arrangement, das in seiner sportlichen Konsequenz immer noch recht einmalig ist im Bereich der ­starken Naked Bikes. Man steigt nicht auf die Aprilia, sondern verschmilzt regelrecht mit ihr, umgreift sie innig und zupft gefühlt mit spitzer Hand und spitzem Fuß direkt an ihren Nervenenden. Und knallt bei größeren Latschen alsbald mit den Fersen an die nun deutlich tieferen Soziusrasten. In die zweite Reihe floss nämlich am meisten Justierung Richtung Tour, jetzt kann das Eisdielen-Hopping guten Gewissens sogar mal von einer Stadt in die andere führen.

Fahrer und Beifahrer auf KTM weicher gebettet

Für größere Gelato-Exkursionen bietet sich aber nach wie vor die Österreicherin an. Sowohl Fahrer als auch Beifahrer werden weicher gebettet, sitzen aufrechter und müssen sich weniger falten. Dass die GT dadurch aber auch weniger direkt zum Fahrer funkt, merkt man schon im Stand. Die fast schon anzügliche Nähe zur Maschine wie auf der Aprilia geht der KTM aufgrund ihrer markentypischen, leicht supermotoresken Ergonomie ab. Deren eher laxe Integration des Themas "Touring" aber auch. Was man für 19.000 Euro an Komfort und Features in ein Motorrad pumpen kann, steckt auch in der KTM: ­semiaktives Fahrwerk, schlüsselloser ­Zugang, Smartphone-Konnektivität samt Navigation, Monster-Display, Strom für Handy und Co., das volle Programm an Fahrassistenz ...

Letzteres hat die Aprilia auch, selbstverständlich abermals feinjustiert, schließlich rühmt man sich in Noale, ganz oben mitzuspielen, was Elektronik angeht. Ansonsten kommt die Tuono aber nach wie vor eher analog und eher spärlich behangen daher. Oder positiver formuliert: fokussiert – Touring hin oder her. Praktische Gimmicks wie einen einstellbaren Kupplungshebel oder einen Tankrucksack gibt es weder für Geld noch gute Worte, dafür auf Wunsch aber Schmiedefelgen und bremsenkühlende Karbon Air Scoops.

Aprilia Tuono V4, KTM 1290 Super Duke GT Vergleichstest
fact
Die KTM-Koffer sind top integriert und kinderleicht zu (de)montieren, ein Integralhelm muss allerdings mitunter reingequetscht werden, damit sie richtig schließen.

Das gibt die Tuono-Ausrichtung schon mal vor. Noch eindrücklicher macht das ein Druck auf den Starterknopf, der jetzt endlich nicht mehr irritierenderweise auch für die Fahrmoduswahl zuständig ist. Jedenfalls: Der kurze, heisere V4-Aufschrei garantiert immer noch Gänsehaut und stellt schon mal alle Sensoren auf Habacht. Danach grummelt es mit 95 Dezibel gerade noch tiroltauglich vor sich hin, was sich spätestens ab 5.000 Umdrehungen aber als veritable Finte entpuppt. Dann nämlich öffnet die Auspuffklappe und damit das Tor zur besagten Boxengasse. Unglaublich sexy. Leider aber auch unglaublich laut. So sehr diese kehlige Soundkulisse den Petrolhead auch beseelen kann: Es ist zu viel, keine Frage. Und auch der ständige Wechsel zwischen "geht klar" und "geht gar nicht" wirkt unharmonisch. Genau wie die Leistungsentfaltung des V4, die direkt proportional mit der Lautstärke verbunden ist.

Massives Loch zwischen 3.000 und 5.000/min

Die Euro-5-Tuono hat nämlich ein massives Loch zwischen 3.000 und 5.000 Umdrehungen, um danach fast zweitaktartig zu explodieren. Der V4 reißt dann befreit und schwerelos mit schierer Gewalt durch sein riesiges Drehzahlband, nur unterbrochen durch die minimale Gedenksekunde, die der Quickshifter braucht, um die sechs Gangstufen reinzuhämmern. Wer dieses Furioso auf der Landstraße erleben will, ist aufgrund des fiesen Lochs aber entweder nur in zu niedrigen Gängen oder viel zu schnell unterwegs, in jedem Fall aber immer grenzwertig laut. Ein paar Gänge hochschalten und passend zum neuerlichen Tourengewand dahinmäandern? Kann man machen, aber dann rappelt der turbinenhafte Vierer bei etwa 4.000 Umdrehungen mechanisch unangenehm, bei jedem Gasanlegen schiebt sich das leichte Spiel im Antriebsstrang in den Vordergrund, die ­Tuono-Kraft schmeckt nur noch nach 600er, und der Schaltautomat lässt sich viel Zeit für jeden Gangwechsel. Zudem nuckelt der 1100er selbst beim Bummeln noch ungehemmt am teuren Lebenssaft. Die Folge: ­eine im Vergleich nicht allzu tourentaug­liche Reichweite. Die große Tuono war – ganz im Sinne ihrer Supersportbasis – schon immer ein Motorrad, das mit jedem Extragrad am Gasgriff an Brillanz zulegt, die neue Motorabstimmung macht diese Ambition aber auch notwendiger als je zuvor.

Dagegen gibt sich KTMs Über-V2 fast anspruchslos. Bauartbedingt braucht der lang übersetzte Rumpeltwin je nach Gang gut 2.500 bis 3.500 Touren, um die Kette nicht unnötig zu quälen: And that’s it. Ab jetzt sind Gangwahl und Drehzahl irrelevant, jeder Gasbefehl lässt den Hammer unter gutturalem Gepolter und mit unanständiger Macht fallen. Generell ist ihr ­antriebsseitiges Nervensystem auffällig ­reaktiv. Verzögerungen und Denkpausen wie bei der Aprilia gibt es nicht. Die Gasannahme ist auf Wunsch ("Track") digital direkt, das ­Getriebe knackig kurz und der Schalt­automat superschnell. Und supersensibel, kleinste Berührungen können halbe Schaltvorgänge und ergo kurze Aufenthalte im Getriebe-Nirwana auslösen. Obacht am Schaltfuß also. All das geschieht mit weniger Drama und Eleganz als bei herzhaft bewegter Tuono, dafür aber mit verlässlicher, unmittelbarer Kraft. Und zwar so viel, dass Reifen und Traktionskontrolle sichtlich mehr zu tun haben als an dem famos grippenden Wutausbruch aus Italien.

Tuono liefert klareres Feedback

Passend zum hemdsärmeligen Charakter lässt es auch das Chassis des Ösi-Traktors ein wenig an Eleganz vermissen. Die Dämpfungsreserven sind wie alles andere an der KTM üppig bemessen, da geht auch bei härtester Dauer-Doppelbekurvung nichts in die Knie. Erstaunlich ist, wie handlich die schwere Super Duke GT um die Ecken zirkelt, solange es nicht allzu tief runtergeht, die aufrechte Geometrie scheint sich hier auszuzahlen. Werden die Schräglagen größer, steigt der Kraftaufwand ein wenig. Sowohl am Kurveneingang, wo beim frechen Reinbremsen ein gewisses Aufstellmoment bedacht werden muss, als auch beim Kurvenausgang, wenn die Fuhre nicht nur wieder aufgerichtet, sondern sogleich wieder auf die andere Seite gewuchtet werden muss. Keine Sorge, alles machbar, schließlich sind wir hier immer noch in der Topliga mit Topmaterial. Die Orange hat hier ­eigentlich nur zwei Probleme: das etwas ruppig ansprechende Federbein, das auch noch im komfortabelsten ("Comfort") der drei nah beieinanderliegenden Fahrwerkmodi jede kurze Asphaltfalte merklich an den Rücken rumpelt. Und die Aprilia.

Aprilia Tuono V4, KTM 1290 Super Duke GT Vergleichstest
fact

Motoren gewinnen Herzen, Chassis gewinnen Rennen. Beides zusammen gewinnt Weltmeisterschaften. Ich erwähnte ja bereits die prominent angebrachten 54 Titel der Italiener. An diesem seit Jahren kaum veränderten Layout samt konventioneller Basis-Federware zeigt sich die Weltklasse der zugrunde liegenden RSV4-Plattform. Die Tuono liefert klareres Feedback, liegt in jedem Fahrzustand satter, lässt sich präziser einlenken, stellt sich beim Brem­sen weniger auf, reagiert auf Korrekturen neutraler und rollt trotz strafferem Setup, aber dank feiner ansprechenden Feder­elementen smoother über Straßen-Unbill ­jeder Art. Kurzum: ganz großes Kino für dynamikaffine Feingeister. Und nach langer Testabstinenz einer Basis-Tuono mal wieder ein glühendes Manifest dafür, dass es abseits von ernsthaften Trackday-Ambitionen und Applauskurven-Fame keiner Factory mit elektronischer Öhlins-Hardware und Hypersport-Gummis bedarf.

Zumal man Windschild und Lenker der Wald-und-Wiesen-Tuono bei der entspannten abendlichen Highspeed-Highway-Heimfahrt doch missen würde. Beides vollbringt hier natürlich weniger Wunder als an der etwas zappeligeren KTM, aber nun: haben oder nicht haben. Jetzt noch ein paar beheizte Griffe und … okay, okay. Noch heißt sie ja nicht Tou(r)no.

Fazit

  1. KTM 1290 Super Duke GT: Der Brutus aus Österreich hat wieder zugeschlagen, viel­seitigere Monster-Power ist schwer zu finden. Vor allem die Alltagsqualitäten bringen den Sieg. Trotzdem ist die GT noch unterhaltsam kantig und damit voll auf Hauslinie.
  2. Aprilia Tuono V4: Immer noch kein Testsieger, aber das wird Interessenten kaum jucken. Dafür erweitert die Tuono spürbar ihr Einsatzspektrum, ohne den Markenkern zu vergessen: maximale Dynamik und Emotion. Nur das neuerliche Leistungsloch stört immens.
Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023