MOTORRAD-Eigenbau: Mini-Mumm

Das hat uns gerade noch gefehlt: ein agiler und praktischer Kraftprotz, auf dem alle zurecht kommen. MOTORRAD-Tüftler Werner »Mini« Koch hat ihn gebaut, Redakteure und Leser konnten ihn probefahren.

Es startet als Glaubensbekenntnis, erinnert zwischendrin an biblische Mythen und endet wie eine Selbstkasteiung: Werner baut ein Motorrad. Werner baut ein Motorrad, das es so nicht gibt, aber unbedingt geben sollte. Werner ist David und alle anderen Goliath. Werner baut ein Motorrad gegen die Uhr, gegen die komplette Erschöpfung, gegen ... ach überhaupt. Und wir? Wir warten. Auf erste Rauchzeichen aus Werners Keller.
Sichtkontakt durften wir dieses Mal auf der INTERMOT nehmen: Genau wie der ambitionierte Mittelklasse-Allrounder Roadstar (siehe MOTORRAD ../1996) und der Supertwin (../1994), so etwas wie der legitime Vorläufer von Yamahas TRX 850, feierte auch die neueste Kreation (21/1998) ihre Premiere auf einer Messe. Als Rohstoff diente die Yamaha R1, das Ergebnis firmierte unter tourentaugliche Superbikes, oberste Entwicklungsziele waren exzellentes Handling und niedriges Gewicht.
Warum eigentlich niedriges Gewicht? Weil die echten Trips verschlungenen Pfaden folgen. Weil die MOTORRAD-Tourer enge Kurven mögen und gelegentlich ganz schön Gas geben. Kurz: Weil es wieder mal gilt, den Begriff Allrounder aufzupolieren. Es gehört nämlich reichlich Hirnschmalz dazu, ein richtig gutes Motorrad für jenseits aller Rennstrecken zu bauen. Außerdem beweisen die besten Produkte japanischer und europäischer Hersteller, daß sich Leichtbau schon aus Tradition gebietet. Ausnahmen wie das Wehrmachtsgespann oder die Gold Wing bestätigen die Regel, Tausende von Reisekilometern jedoch haben keinerlei Gründe ergeben, diese Ausnahmen zur Regel zu machen.
Zur Leistung. Hat schon mal jemand gehört, daß Leistung schadet? Okay, viele meinen aus guten Gründen, 50 PS reichen. Aber sagen die, daß 150 schaden? Deshalb griff Werner zur R1. Leistet viel, wiegt wenig. Zu hoch gegriffen? »Wartet’s ab«, orakelte er anläßlich erster Sitzproben. Von einsachtundfünfzig bis ellenlang durfte alles antreten, um sich an höhenverstellbarem Lenker und Rasten zu erfreuen. Leise Zweifel keimten allerdings wegen des kleinen hinteren Sitzpolsters. Na, mal sehen.
Als erster durfte MOTORRAD-Techniker Waldemar Schwarz ran, bekennender Liebhaber kräftigen Sportgeräts. Die Verkleidung paßte ihm nicht hundertprozentig. »Ansonsten kann man leider gar nicht meckern«, fügte er hinzu, um dann übergangslos den »beinahe spielfreien Antriebsstrang« anzuhimmeln. An diesem Urteil änderte sich nichts mehr: Dank des Gates-Zahnriemens (siehe Kasten ab Seite 33) überträgt der Vierzylinder-Protz seine 150 PS äußerst geschmeidig und laufruhig aufs Hinterrad. Und die Sache mit der Verkleidung erledigte sich auch: ein Ringschlüssel über die Halterungen gelegt und - schwupps - hochgebogen.
Testerin Monika Schulz - als Hobby-Designerin schon seit der Planungsphase dabei - goutierte die Lackierung in technisch-distanziertem Blau-Silber und mäkelte am Anglizismus im Namen herum. Sportstar Touring. Trotz Meckerns durfte sie mal fahren und schwärmte prompt über Gewichtsverteilung und Handling: Wendemanöver, Spitzkehren, Schleichwege - überall dort, wo schlecht ausbalancierte Bikes umzufallen drohen, beweist die Sportstar stoische Ruhe. Ebenso gelassen schwenkt das 2xx Kilogramm schwere Superbike in Kurven ein. Frappierend behende läßt es sich von einer Biegung zur nächsten umlegen und bleibt stets treu auf Kurs. Dabei kommt der Sportstar allerdings ihr ... Zentimeter breiter Lenker entgegen.
An die Sitzposition guter Reise-Enduros - zwischen tatendurstig und relaxt - fühlte sich Monika Schulz erinnert. »Nur viel besser integriert.« Diesem Urteil stimmten auch Kollegen zu, die mehr als Monis 158 Zentimeter hinter einen Lenker winkeln müssen. Ein weiterer Vorteil für die Kleinen ist zwar nicht Sportstar-typisch, aber erwähnenswert: Durch einen höheren Lenker müssen sie ihre Arme nicht bis zum Anschlag ausfahren. Da bleiben bei engen Kehren und Wenden noch Reserven, um sich mal richtig mit halber Rumpfdrehung umzuschauen.
Als unser Werner sich leidlich von Wahn und Werkbank erholt hatte, stellte er seine Sportstar einem gewagten Experiment: Eine Gruppe von Lesern, bekannt seit der Aktion Leser testen Tourer (siehe MOTORRAD 21/1998), sollte das Bike testen. Felderprobung nennt sich so was. Das Feld der Ehre lag dieses Mal im Weserbergland, dahin ging«s über die Autobahn, und dortselbst überraschte der Windschutz. Niemand hätte dieser abgesägten R1-Front, wie beschrieben geliftet und mit höherer Scheibe versehen, solche Funktionalität zugetraut. Eine Vergleichsfahrt mit der 600er Yamaha Fazer bei Tempi zwischen 150 und knapp 200 km/h attestierte unserem Werner jedenfalls mehr aerodynamisches Gespür als den Yamaha-Entwicklern.
Klar, daß die Sportstar mit ihrem gegenüber der R1 verlängerten Radstand stur geradeaus lief. Bis der sehr exakt anzeigende und gut ablesbare Fahrradtacho 250 anzeigte. Das mußte reichen, denn - bei allem Vertrauen - sie ist eben doch ein Prototyp. Außerdem wird«s da oben raus ungemütlich mit dem breiten Lenker. Sein eigentliches Terrain findet dieser Bastard sowieso auf Landstraßen. Und Fred Kaas, als FZR-Besitzer an potente Yamaha-Motoren gewöhnt, stürzte sich gleich lustvoll auf die kleinen Sträßchen jenseits von Hannoversch-Münden. Als die Gruppe ihn wieder eingefangen hatte, delirierte er über zehn Jahre Fortschritt, und nur Werner, der die stur wirkende FZR stemmen mußte, wußte, was gemeint war.
Die epochale Leistungsentfaltung des aktuellen Yamaha-Trieblings wurde bereits hinreichend oft beschrieben. Hier sei nur noch einmal erwähnt, daß dieser Four sensationellen Schub bereits ab niedrigsten Drehzahlen liefert, sich schon deshalb und auch wegen seiner Laufruhe als Kraftquell für Tourer empfiehlt. Was er oberhalb von 8000 oder 9000 Touren produziert, läßt sich auf Landstraßen nur schwerlich erfahren, aber darauf kommt«s hier auch nicht an. Der wassergekühlte Tausender gibt seine Kraft an ein ordentlich schaltbares und gut gestuftes Sechsganggetriebe ab, die Sekundärübersetzung entspricht fast exakt jener der R1. Was bedeutet: Mit schärferen Waffen wurde auf öffentlichen Straßen noch nie gekämpft.
Und nun kommt Christina Weidner, ganz anmutige Bescheidenheit, und möchte im Tausch für ihre Kawa GPZ 500 so ein tierisches Bike fahren. Was passiert? Nichts. Das heißt, Christina sitzt auf, wendet, fährt los. Findet sofort ihre Linie, hat nicht eine Sekunde lang Angst vor der mehr als doppelten Leistung. Womit wieder mal bewiesen wäre: Leistungsstarke Bikes sind Frauensache. Und: Wichtigstes Kriterium für leichtes Motoren-Handling ist eine weiche, gut kalkulierbare Leistungsentfaltung. So ein R1-Four, das ist ein ganz sanfter Riese, leicht und lustvoll zu bändigen. »Außerdem gibt«s da diesen stufenlos regulierbaren Gasgriff«, beruhigte Werner alle, die vor der Papierform erschraken.
Viel Lob erntete er während der folgenden Kreisstraßen-Kilometer für das voll einstellbare Fahrwerk und dessen konkrete Rückmeldungen. Kein Lenkerschlagen, sauberste Spurhaltung. Der eine oder andere mahnte noch mehr Komfort an, mußte sich aber vom Erbauer sagen lassen, daß damit eben die Rückmeldungen ungenauer würden. »Und dafür ist die Karre dann doch zu schnell.« Keine Kritik gab«s für die hochpräzise agierende Vorderradbremse, was jene nipponesischen Bremsideologen Lügen straft, die alle Nicht-Rennfahrer am liebsten in Teig greifen lassen.
Am Heck allerdings, da müßte Werner nachbessern. Zwar äußerte Dauersozia Doro Schicker keinerlei Sitzbeschwerden, hätte aber gern was Solides zum Festhalten. Und fast alle Vornsitzenden bemängelten die stark nach vorn abfallende Sitzbank. »Werner, hörst Du, die Sitzbank?« Doch Werner schwebte vor lauter Vaterstolz längst über allen Bänken. Sah eine muntere Sportstar-Schar die Welt erobern. In allen Größen. »Guck dir nur mal die 600er Fazer an. Mit großem Tank, Zahnriemen und mehr Windschutz ein prima Tourer. Noch ‘ne andere Sitzbank drauf und ...« Stopp, Werner!

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Erscheinungsdatum 15.09.2023