100 Jahre MOTORRAD: Immenstadt

100 Jahre MOTORRAD: Immenstadt Kesse Biene

Noch mal echte Meilensteine aus hundert Jahren MOTORRAD live erleben? In Immenstadt ist’s möglich. Praktisch zur Halbzeit unserer Zeitrechnung wurde dort von 1947 bis 1951 die Imme gebaut. MOTORRAD war beim Ausflug der letzten Bienen dabei.

Kesse Biene Eisenschink

Immenstadt, 3. Oktober, zwölf Uhr. Die Diepolzer Dorfmusik marschiert mit blank gewienerten Posaunen über den Klosterplatz, in den Läden knallen die Sektkorken, und man pilgert in langen Kolonnen zum Marienplatz. Es wird gefeiert im 14000-Einwohner-Städtchen im Oberallgäu, und zwar der Imme-Tag. Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre wurde hier dieses besondere Highlight des Motorradbaus gefertigt. Einseitig aufgehängte Räder, mitfedernder Motor, Dreiganggetriebe mit Drehgriffschaltung, 115-Millimeter-Innenbandbremsen – laut Karl-Heinz Philipps vom Club »Imme-Schwarm” hat der grazile Zweitakter einst die gesamte Motorradwelt inspiriert. 1947 entwickelte
Konstrukteur Norbert Riedel den Prototyp einer 99-cm3-Imme, die es dann bei der Immenstädter Riedel Motoren AG von 1949 bis 1951 zu kaufen gab. 4,5 PS bei 5800 Umdrehungen – eine Glanzleistung, gemessen am Stand der Konkurrenz. Spätestens beim Blick auf die Einarmschwinge, die sich über eine Zentralfeder gegen das Rahmenrohr abstützt (eine Lösung, die später als »Cantilever” auftauchte), war selbst am anderen Ende des Globus klar, dass man im Allgäu nicht nur Käse produziert.
Bewundernde Publikumsblicke wandern über den zur Hinterradschwinge ausgebildeten Schwalbenschwanz-Auspuff einer oxydroten Standard-Imme, den possierlichen Tacho im Scheinwerfergehäuse einer rabenschwarzen Imme-Export sowie die
verchromten Felgen und Radnabendeckel einer Imme-Luxus
in Lindgrün. Bei den Mitgliedern des Imme-Klubs wird derweil
heftig debattiert. Gustl Saur, vor über einem halben Jahrhundert Versuchsfahrer der Riedel AG, schwört in Sachen Wettbewerbsfähigkeit auf die Standard-Imme. Kein Tacho, kein Chrom, kein Gramm überflüssiges Gewicht. Stichfestes Argument: der 27. Mai 1951. Damals hat sie das Acht-Stunden-Rennen auf der Stuttgarter Solitude mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 56 km/h absolviert. Ergebnis: Goldmedaille.
Inzwischen versteht man auf dem beschaulichen Marienplatz sein eigenes Wort nicht mehr. Blechernes Zweitaktgeknatter vor der Apotheke am Rathaus, wo die letzten von rund 200 angereisten Klassikern von Clubmitgliedern registriert werden, Blasmusik vor der Metzgerei Rehle, Karaoke bei Radio Frey – in Immenstadt ist der Teufel los. Da – ein zorniger Summton, und der Imme-Schwarm blickt auf: Ex-Rennfahrer Toni Jakob, 78, brummt auf den Platz. »Motor komplett zerlegt, Zylinder ge-
schliffen, Dämpfung überarbeitet, Bremsen erneuert, Batterie gebastelt und eingesetzt, Tank und Schutzbleche lackiert«, entschuldigt Toni seine Verspätung. Und den Clubkollegen ist
klar, dass bei der morgigen Ausfahrt »Ein Stück durch Bayerns Berge” eine frische Brise wehen wird. Die 73-Kilometer-Runde verläuft teilweise auf der Originalstrecke der einstigen gleich-
namigen »schweren deutschen Zuverlässigkeitsfahrt«. Toni ist dort 1951 gegen seine Imme-Freunde angetreten – auf Puch. 580 Kilometer volles Rohr. Ergebnis: Goldmedaille. Seither
nennen sie ihn auch Jackl, den »Bienenfresser”.
Tags drauf rollen zehn hoch motivierte Immen zum histo-
rischen Startplatz am Viehmarkt. Es nieselt, aber egal. Früher ging’s voll durch den Dreck, konstatiert Toni, heute sei die
Strecke immerhin asphaltiert. Gentlemen, start your engines. Es folgt eine anschauliche Lektion von Riedels Prinzip des mit-
federnden Motors, der wie am Ende einer Wippe auf der Einarmschwinge sitzt: Das Hinterteil der Imme schwingt auf und ab und erinnert an einen zum Stich ansetzenden Bienenbürzel. Punkt zehn Uhr Zuschauerlektion Nummer zwei: Gegen die Phonstärke von zehn trompetenden Immen verblasst selbst die Diepolzer Dorfmusik. Die Bienen schwärmen aus.
Bayerns Berge lassen nicht lange auf sich warten. Am Alpsee geht’s in steilen Kurven hinauf in Richtung Diepolz. 35, 30, 25 km/h. Es regnet inzwischen in Strömen, die Bienen brüllen wie die Löwen, doch die Geschwindigkeit sinkt rapide – schließlich sind die Rennfahrer in letzten 50 Jahren nicht schlanker
geworden. Willi Danowskis Imme zickt, lässt das Tempo unter die 20-km/h-Marke fallen. Noch fünf Kilometer. Danowski gibt nicht auf, weiß, wozu die Bienen fähig sind. Zu Zeiten der Riedel AG hat er mittels Rampen 12,30 Meter weite Sprünge hingelegt. Nach zehn Kilometern das erste Etappenziel: Bergbauernmuseum Diepolz, auf 1037 Meter Höhe. Danowski hat aufgeholt und betritt mit kaum zwei Minuten Verspätung das Foyer. Die Mannschaft ist komplett, die erste Hürde geschafft. Bei Diepolzer Bergkäse-Häppchen erster technischer Erfahrungsaustausch. Das Vokabular ist begrenzt: Zündkerze, Zündspule. Viel mehr kann kaum kaputt gehen an dem filigranen Ding.
Oder doch? Zehn Kilometer weiter, bei Bischlecht, spuckt Walter Ecksteins Imme das Polrad der Lichtmaschine aus.
Und kurz vor Harbartshofen erwischt es um ein Haar den Toni. Zündspule, was sonst. Letztes Aufbäumen bis zur Sammelstelle vor Oberstaufen. Programmpunkt: Schrauben nachziehen. Beim
offiziellen Empfang am Rathaus will man ja anständig vor
der Kurdirektion stehen. Bilanz: zwei Auspuffmuttern und eine
Sattelbefestigung gelöst, eine Lampenschraube ganz abgeschüttelt. Vorm Rathaus entbrennt erneut hitziges Palaver: Zündkerze, Zündspule – eh klar. Aber auch: Vierzehnerschlüssel, Achterschlüssel, Zange. Während die Kurdirektion dem Imme-Vorstand einen »Überraschungsrucksack« überreicht, frickelt und diskutiert der Rest der Mannschaft draußen weiter. Schließlich fällt mangels Ersatzzündspule eine schwere Entscheidung: Toni, der Bienenfresser, scheidet aus.
Noch eine Runde durch Oberstaufen, danach geht’s hinaus aufs Land. 800 Meter vor Steibis: Chance für Fritz Daum, dessen Vordermann den Abzweig verfehlt. Daum beschleunigt mit seiner tacholosen Ur-Imme im ersten Gang, bis das Trommelfell vibriert, übernimmt die Führung, leitet den Schaltvorgang ein – und wird von Imme-Vorstand Philipps frech überholt und ausgebremst. Daum hat’s vergeigt, röchelt nach gescheitertem Schaltversuch mit 15 Sachen im Ersten die Bergpiste hoch. Steigung rund 20 Prozent.
Mittagspause in Steibis. Der Filettopf mit Spätzle und Salat plus Getränk bringt satte 500 Gramm Mehrgewicht aufs Rad! Macht nix, heute geht’s ja nicht um die Goldmedaille. Und außerdem jetzt erst mal bergab. »Da nimmt sie alle Steigungsprozente”, weiß Imme-Fahrer Xaver Fink. Bleibt nur noch die Sache mit dem Bremsen. Steibis, Schindelberg – in Jagdbomber-Formation donnern die Immen mit 70 Sachen den Berg hinab. Mit einem Bremsweg von elf Metern aus 50 km/h, da ist man sich einig, seien die einst sensationellen Innenbandbremsen bei sachgemäßer Handhabung noch immer äußerst wirkungsvoll. Nur die Ersatzteilfrage ist kitzlig. Nach Konkurs der Riedel AG entdeckten die Allgäuer Bauern die einseitig aufgehängten 19-Zoll-Räder der Imme-Restbestände für ihre Milchwagen und warfen die heute so raren Bremsbänder auf den Müll. Xaver Fink hatte Glück. Vor zwei Jahren entdeckte er beim Hindelanger Oberjoch-Rennen zwei Imme-Räder inklusive Bremsbänder, -nocken und -hebel – an der Weckruf-Kanone im Fahrerlager.
Während Xaver erzählt, wie er die Kanone im Tausch gegen eine neue erstanden hat, dengelt die Sturmspitze des Schwarms bereits zurück in Richtung Oberstaufen und an der Konstanzer Ach entlang nach Thalkirchdorf. Wieselflink geht’s durch noch so enge Kurven – die Imme ist in ihrem Element. Vorletztes Etappenziel: Gasthof Traube, Thalkirchdorf. Die Mannschaft trifft ohne weitere Zwischenfälle ein, der Jubel im Fahrerlager ist groß. Wie 1950, als die Imme-Fahrer bei der »schweren Gelän-
defahrt durch Bayerns Berge« sage und schreibe fünf Gold-
medaillen und zwei Silbermedaillen errangen. Und den Mannschaftspreis mit goldenem Schilde noch obendrauf. Glorreiche Zeiten. Von den damals rund 12000 lebenden Immen sind
inzwischen gerade noch 300 bis 500 Stück am Brummen.
Endlich bleibt Zeit, den »Überraschungsrucksack« aus Oberstaufen auszupacken: Kuhglöckchen treten zum Vorschein, Aufkleber, Bonbons und drei Flaschen Schnaps. Willi Danowski
leitet unverzüglich eine Versteigerung unter den Mitgliedern ein. Ergebnis: 22 Euro für die Vereinskasse – ergibt etwa sechs Zündkerzen. Der Fortbestand der Art ist damit gesichert.

Kontakt: Imme-Schwarm e.V. in Immenstadt, Telefon 08323/950-80

Spiel im Sommerwind...

Wie diese Mär begonnen hat, das sah man auf dem Titelblatt.Ein Mädchen auf der Imme fuhr einst ganz allein durch die Natur.Doch dem Geschick ist nicht zu traun, die Luft entwich, sie mußte baun!Da kam ein Wandersmann daher, den strahlt’ sie an, da strahlte er!Den Schaden heilte er im Nu, der Liebesgott schaut lächelnd zu.Und da sie beide jung an Jahren, sind weiter sie zu zweit gefahren.

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