Same procedure as every year: Das gilt leider nicht nur für den Ablauf des Alpen-Masters, sondern auch für die Wetterkapriolen. Wie 2010 in den Dolomiten kämpft die Testcrew am Stilfser Joch mit Regen, Kälte, nassen Straßen, sogar Schnee. Eine gute Woche lang jagte man jedem kleinsten Loch in den Wolken hinterher. Doch jetzt, am Tag der Entscheidung, beim Frühstück um 6.30 Uhr, strahlend blauer Himmel, der Ortler in gleißendem Sonnenlicht – Wahnsinn. Also schnell den Kaffee runtergespült, hastig das Frühstücksbrötchen eingeworfen und schnell in die Anzüge geschlüpft – wasserdichte Textilanzüge natürlich, man weiß ja nie.
Auf dem Hotelparkplatz warten bereits die fünf Gruppensieger und der Titelverteidiger, die BMW R 1200 GS. Sechs geniale Maschinen, die einen sonnigen Tag voller Spaß und Genuss versprechen. Die Tour führt über Pässe mit unterschiedlichstem Charakter. Wobei die Spielregeln jedem klar sind: Die Punkte der Vorrunden sind gelöscht, ab jetzt geht es im K.-o.-Verfahren weiter, insgesamt sieben Ringrichter entscheiden. An jedem Pass wählt die mit erfahrenen Testprofis besetzte Jury ein Motorrad, das sich aus dem Titelkampf verabschieden muss. So lichtet sich das Feld sukzessive, bis am Ende der Testrunde der Sieger feststeht.
Vom Hotel ausgehend bildet die steile Ostrampe des Stilfser Jochs den ersten, harten Prüfstein. Ein einzigartiges Spitzkehren-Festival mit steilen Geraden, gleich mal eine harte Prüfung für eine 600er. Ob es die CBR als Erste trifft? Sie will aus den Kehren raus ordentlich gezwirbelt werden, um den Anschluss nicht zu verlieren. Überraschend hingegen, wie elegant das Schlachtschiff BMW K 1600 GT die fiesesten Spitzkehren bewältigt. Der Motor zieht schon ab 1000 Umdrehungen heftig voran, der Dampfer lenkt sich völlig easy. Dass die beiden Enduros, GS und SM T, sich ebenso wie die kräftige Speedy hier noch keine Sorgen machen müssen, scheint klar. Dagegen ist die Bellagio ein Wackelkandidat, obwohl sie ihre Kategorie bravourös dominiert hat. Nach vielen Stopps, permanentem Tauschen der Maschinen und ausgiebigen Vergleichsfahrten verteilt Karsten oben am Joch die Zettel für die erste Wahlrunde. Das Ergebnis: Sechs Juroren haben die Guzzi rausgewählt, einer möchte sich schon hier von der K 1600 GT trennen. Ob es Gerry ist, der über das hohe Gewicht und die gewaltigen Abmessungen der GT klagt?
Weiter geht es die Westrampe des Stilfser Jochs runter Richtung Bormio. Immer noch strahlendes Sonnenwetter, herrlich. Die Truppe genießt das grandiose Panorama, die fantastischen Kurvenkombinationen bei tollem Grip. Hier kann man den Maschinen mal die Sporen geben. Die kraftvollen Bikes mit sportlicher Abstimmung und knackigem Handling sind hier voll in ihrem Element, besonders Triumph und KTM. Die SM T überzeugt selbst Kristijan, der eigentlich eher die ruhige Fortbewegung bevorzugt: "Du sitzt so entspannt, und alles geht so leicht."
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Das Retro-Bike Moto Guzzi Bellagio wurde als erste aus dem Finale gewählt.
Eindrücke, die sich aber schnell relativieren könnten. Denn in Bormio biegt der Tross zum Passo Gavia ab. Und der hat einen anderen Charakter als das schroffe Stilfser Joch. Das schmale Asphaltband überrascht immer wieder mit enger werdenden Kurven und trickreichen Wechselkombinationen. Über weite Teile wurde die Fahrbahn in den letzten Jahren zwar neu asphaltiert, dazwischen gibt es aber immer wieder Passagen, die in desolatem Zustand sind und die Fahrwerke voll fordern.
Das sollte der wendigen CBR mit progressiver Federung wohl keine Sorgen machen. Oder doch? "Die ewige Schalterei und die hohen Drehzahlen nerven", konstatiert Eva, als sie von der CBR auf die Speed Triple umsteigt. Auch die Triumph büßt hier viel von ihrer Souveränität ein, Karsten moniert das bockige Fahrwerk und dreht einige Klicks der Druckdämpfung am Federbein raus. Das bringt spürbar etwas, eine Sänfte ist die Triumph aber immer noch nicht.
Schon steht an der kargen Passhöhe des Gavia die nächste Wahlrunde an. Kurzer Prozess, keine Diskussionen, man ist sich sicher. Karsten sammelt die Zettel ein, vier Tester haben die CBR rausgekickt, nun würden sich zwei von der GT trennen.
War der Aufstieg zum Gavia eher eine fahrerische Herausforderung, so ist der Abstieg ins Tal ein wahrer Genuss. Man kann sich gar nicht sattsehen an der prächtigen Landschaft. Da fällt es schwer, sich auf den Job, die Maschinen zu konzentrieren. Überraschend taucht eine Gruppe von Steinböcken direkt am Straßenrand auf, die sich gar nicht an den Motorrädern zu stören scheint. Doch gerade hier ist Konzentration angesagt, auf der teils uneinsehbaren, schmalen Straße wird es bei Gegenverkehr selbst für ein Motorrad eng. Und man kennt das: Autos kommen immer im falschesten Augenblick.
Unten im Tal verfinstert sich der Himmel zusehends, auf breiter Straße rollt der auf vier Bikes dezimierte Trupp durchs Tal. Wenn es ums Kilometerfressen geht, sind die beiden BMW unschlagbar. Andrea lobt den Sechszylinder. Ein Motorrad wie von einem anderen Stern, mehr Komfort geht nicht. Die Reisequalitäten einer GS sind ja hinlänglich bekannt. Das Repertoire der KTM SM T bietet nicht ganz die Bandbreite, aber zumindest der Fahrer sitzt entspannt, und ein rudimentärer Windschutz wird auch geboten. Dagegen geht es auf der Speedy eher sportlich-spartanisch zu.
Die Abzweigung zum Passo della Foppa kann man leicht verfehlen. Ein kleiner, idyllischer Pass im Wald, auf den sich nur wenige Touristen verirren, um diese Jahreszeit ist hier praktisch autofreie Zone. Ein Paradies für die beiden Enduros, die sich leicht durch die vertrackten Kurvenkombinationen steuern lassen und hier noch einmal Punkte für die nächste Wahlrunde sammeln. Am Pass drängen sich die Juroren zur Wahlrunde unter das knappe Dach des Passschilds, denn in diesem Augenblick setzt der erwartete Regen ein.
Wahlleiter Karsten verkündet das Ergebnis: Drei Stimmen fielen auf die K 1600 GT, vier auf die Speed Triple, uff, knapp für die Triumph. Daran war der Regen wohl nicht ganz unbeteiligt, denn mit Sportreifen, harter Federung und etwas verzögerter Gasannahme hinterließ die Speedy auf den letzten Kilometern bei Nässe keinen überzeugenden Eindruck.
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Im Finale findet sich die KTM 990 SM T im BMW-Sandwich zwischen K 1600 GT und R 1200 GS wieder.
Schwein gehabt also für den BMW-Sechser – vorerst. Die verregnete Etappe vom Passo del Foppa über Bormio zum Passo di Foscagno wird eher zur Verbindungsetappe. Dort an der Zollkontrolle zur Freihandelszone Livigno will keiner lange im Regen stehen. Kurz das Häkchen machen und weiter – aber ohne die große Touren-BMW. Doch mit ihrem Wahnsinns-Drehmoment und unglaublichem Handling hat sie selbst Sportfreak Sergio begeistert.
Nun also der Titelverteidiger gegen den Herausforderer, BMW gegen KTM – in strömendem Regen. Mittlerweile hat die Testtruppe Livigno passiert, ist durch den Munt-la-Schera-Tunnel wieder in der Schweiz und nähert sich dem Ofenpass. Es könnte alles so schön sein – würde es hier nicht aus wie Kübeln schütten. Krisensitzung im Restaurant "Süsom Give". Testchef Thöle macht einen zaghaften Versuch, die Finalwertung vorzuziehen. Gut zwei Stunden später fällt die Entscheidung: Abbruch, Fortsetzung hier am nächsten Tag.
Am Tag darauf kann die GS zeigen, was sie drauf hat. Vor allem auf dem letzten Stück, dem Aufstieg zum Umbrail mit dem ganzen Spektrum an Straßen und Pisten kann sie ihre Allround-Qualitäten unter Beweis stellen. Was der KTM noch fehlt: etwas mehr Fahrkomfort, etwas mehr Ausstattung, bessere Fahreigenschaften mit Beladung und bei Nässe. Aber sie kontert unter guten Bedingungen mit höherem Fahrspaß, direkter Lenkung und besserem Handling. So kommt es zum denkbar knappsten Ergebnis: vier zu drei, eine Stimme mehr für den alten und neuen König der Berge, die BMW R 1200 GS.