Das Geheimnis von Valentino Rossis Moto-GP-Yamaha

Das Geheimnis von Valentino Rossis Moto-GP-Yamaha Reit im Winkel

Kontrollierte Drifts sind in der MotoGP-Weltmeisterschaft der Schlüssel zum Erfolg. Ein begnadeter Jockey wie Valentino Rossi kann sogar auf der scheinbar unterlegenen Werks-Yamaha YZR-M1 zum Sieg reiten – weil die Hubzapfen der Kurbelwelle neuerdings in geändertem Winkel zueinander stehen. Das hilft beim Drift.

Natürlich hatten es Valentino Rossis Fans auf der ganzen Welt insgeheim erhofft: dass ihr Idol auch nach dem spektakulären Wechsel von Honda zu Yamaha siegreich sein würde. Dass der Weltmeister jedoch in so drastischer Form zur erneuten Machtergreifung in der MotoGP-Klasse stürmt, wie er es beim ersten Rennen des Jahres in Welkom/Südafrika tat, versetzte selbst Experten in den Zustand vollständiger Verblüffung. Rossi dominierte auf der Werks-Yamaha YZR-M1 alle vier Trainingssitzungen und gewann anschließend das Rennen, wobei er die 118,776 Wettbewerbskilometer in 43.50,218 Minuten zurücklegte – knapp 20 Sekunden schneller als 2003 auf der alles überragenden Honda RC 211 V.
In der Saison 2003 gelang mit der YZR-M1 gerade mal ein mickriger Podestplatz, als Alex Barros in Le Mans auf Rang drei fuhr. In Welkom lieferten sich Rossi auf der Yamaha und Erzrivale Max Biaggi auf der Honda ein Rennen, das nach einer Analyse
der Datenaufzeichnungen so eigentlich nicht stattgefunden haben dürfte. Ein infernalisches Duo, das eine dreiviertel Stunde lang stürzt, ohne zu fallen, die physikalischen Gesetze scheinbar außer Kraft setzt, hat es im Motorradrennsport selten gegeben. Und Rossi blieb vorn, auf der Yamaha, deren kapriziöses Fahrverhalten Barros im Vorjahr mit unzähligen Stürzen über das Vorderrad sämtliche Nerven gekostet hatte. Verfügen Rossi und seine von Honda zu Yamaha mitgebrachte Techniker-Crew unter der Leitung von Jeremy Burgess über geheime Kräfte?
Die Yamaha YZR-M1 war bis zum Saisonende 2003 eine heikle Diva, die übermütige Aktionen meist mit Abwurf bestrafte. Extrem handlich, fast kippelig, mit sensibler, elektronisch geregelter Motorbremse forderte sie in jedem Moment die volle Auf-
merksamkeit ihres Fahrers. Burgess und sein Team haben nichts anderes getan, als die positiven Eigenschaften der Yamaha zu konservieren und die negativen weitestgehend zu beseitigen. Wobei die konstruktive Eigenheit des Yamaha-Motors, die für das nervöse Fahrverhalten sorgte, erhalten blieb. Der vorn am Zylinder platzierte Steuerkettenspanner beweist, dass sich die Kurbelwelle an Rossis YZR-M1 nach wie vor rückwärts dreht. Das kommt dem Handling zugute, gleichzeitig leidet aber die Kurvenstabilität.
Ein Grund, warum Jeremy Burgess an Rossis Yamaha eine län-
gere Schwinge einsetzte, die Lenkgeometrie Richtung Stabilität trimmte und den Gesamtschwerpunkt anhob.
Beim Motor beließ es Yamaha beim Reihenvierzylinder. Mit ihm hatten die Japaner die technisch einfachste Lösung gesucht und gefunden. Der Vorteil gegenüber den V-Motoren der Kon-
kurrenz: weniger bewegte Bauteile mit nur zwei Nockenwellen samt Antrieb, während die V-Motoren für jede Zylinderreihe zwei Nockenwellen nebst Antrieb benötigen.
Die Nachteile: größere Baubreite, die jedoch auf die Stirnfläche und somit auf die Aerodynamik einen geringen Einfluss hat, da die notwendige, riesige Kühlerfläche bei allen MotoGP-Rennern überwiegend die effektive Breite bestimmt. Ein weiterer Unterschied zu den dominanten V-Motoren von Honda und
Ducati: Konventionelle Reihenmotoren weisen eine gleichmäßige Zündfolge und damit eine kontinuierliche Beanspruchung des Hinterreifens auf. Alle 180 Grad Kurbelwellenwinkel findet ein Arbeitstakt statt, während V4-Motoren, je nach Zylinderwinkel, ihr Drehmoment in ungleichmäßigen Abständen aufs Hinterrad übertragen. Dies verändert zwar nicht die absoluten Leistungs- und Drehmomentwerte, hat jedoch entscheidenden Einfluss auf die Kraftübertragung zwischen Reifen und Fahrbahn und somit auf die Beherrschbarkeit der MotoGP-Raketen beim Beschleunigen aus den Kurven – also dort, wo Rossi und Konsorten ihre spektakulären Drifts in den Asphalt brennen.
Für die Saison 2004 verwandelte Yamaha den Reihenmotor durch einen simplen Trick in einen Antrieb, der sich wie ein
V4-Aggregat verhält. Wie das funktioniert, verdeutlicht ein Blick in den Rückspiegel. 1994 präsentierte Yamaha den Sport-Twin TRX 850, mit einem soliden, aber leider zu schwer geratenen Reihenmotor im schicken Gitterrohrrahmen. Ducati ließ grüßen, und Yamaha grüßte frech zurück. Denn schon damals verpassten die japanischen Konstrukteure ihrem Twin die Charakteristik und den Sound eines 90-Grad-V2-Motors, indem sie die Hubzapfen nicht wie üblich beim Zweizylinder um 360 (Parallel-Twin) oder 180 Grad versetzten, sondern um 90 Grad. Damit ist die Zündfolge identisch mit der eines 90-Grad-V-Twins, wie ihn traditionell Ducati baut. Bereits damals wussten die Yamaha-Leute, dass dieser Kunstgriff nicht nur für kernigen Sound, sondern dank der asymmetrischen Zündabstände auch für verbesserte Traktion sorgt.
Genau das hat Yamaha jetzt offensichtlich in der YZR-M1 umgesetzt, wie der Sound der neuen M1 verrät: nicht mehr schrill und kreischend, sondern dumpf, satt – und nebenbei ein paar Meter vor den echten V-Motoren im Ziel zu hören. Selbst wenn sich Yamaha mit detaillierten technischen Aussagen zurückhält, ist dies ein klares Indiz für einen einschneidenden Eingriff in das Innenleben des Motors, der äußerlich einem ganz normalen Reihenmotor gleicht. Genau zu hören, entspricht die Zündfolge der eines 90-Grad-V4-Motors mit 360 Grad Hubzapfenversatz,
die Hubzapfen der äußeren Zylinder sind folglich um 90 Grad zu den inneren versetzt.
Diese Anordnung soll die Kraftübertragung positiv beein-
flussen. Wird die Beschleunigungsphase eines Motorrads in ein-
zelne Arbeitstakte zerlegt, ist zu erkennen, dass der Dreh-
momentverlauf je nach Zündversatz unterschiedlich ausfällt. So verdeutlicht das Drehkraft-Diagramm auf Seite 164, dass beim konventionellen Reihen-Vierzylindermotor mit 180 Grad Zünd-
abstand die Arbeitstakte der Zylinder eins bis vier gleichmäßige Spitzen über die zwei Kurbelwellendrehungen (720 Grad) erzeu-
gen, die beim Viertakter einem Arbeitszyklus entsprechen.
Anders sieht das beim 90-Grad-V4 mit 360 Grad Hubzapfenversatz aus. In diesem Fall wird durch die kurzen Zündabstände von 90 Grad Kurbelwellenumdrehung Zylinder eins nach etwa der Hälfte seines Arbeitshubs durch den dann zündenden Zylinder drei massiv unterstützt, die Drehmomentspitzen steigen gegenüber dem konventionellen Reihenmotor deutlich an. Exakt dieser Anstieg des Drehmoments ist es, der den Reifen für einen kurzen Moment zum Durchdrehen bringt. Ein Effekt, wie er vergleichbar bei einer Einzylinder-Viertakt-Enduro zu beobachten ist, die in Kurven beim Gasaufziehen kurze, schwarze Striche auf den Asphalt malt.
Pro Radumdrehung wirken bei einem Vierzylinder-MotoGP-Renner in einer 160 km/h schnellen Kurve bei einer Motordrehzahl von 8000/min zwölf Arbeitstakte auf den gesamten Reifenumfang, also etwa alle 17 Zentimeter einer. Werden diese kurzen Intervalle beim V4 asymmetrisch gebündelt, bleibt zwischen den Lastspitzen mehr Weg, in dem sich der Gummi laut Aussage der Michelin-Experten thermisch und mechanisch von der Belastung erholen kann. Mechanisch deshalb, weil jeder Arbeitstakt die Lauffläche des Reifens wie eine Feder vorspannt, die in Sekundenbruchteilen wieder in ihre ursprüngliche Form zurückspringt.
Da sich die wilden Drifts von Rossi und Kollegen in jenem Bereich des pulsierenden Drehmoments am Hinterrad abspielen, hat sich Masao Furusawa, Yamahas Vordenker in Sachen Motorentechnologie, für weniger, aber stärkere sowie für die Piloten besser kontrollierbare Drehmomentspitzen entschieden. Ob das messbare Vorteile bringt oder der jüngste Erfolg nur dem »Rossi-Faktor« zuzuschreiben ist, lässt sich schwer beurteilen: Doch auch seine Markenkollegen Carlos Checa und Marco Melandri konnten die Innovation in bessere Rennergebnisse ummünzen.
Dass Yamaha beim neuen M1-Projekt auch den Fünfventil-Zylinderkopf entsorgt hat, ist die logische Folge vieler Versuchsreihen. Die theoretischen Vorteile – größere freie Querschnitte, geringere oszillierende Massen und dadurch höhere Drehzahlen – wirken sich in der Praxis nicht aus. Die Spitzendrehzahlen aller MotoGP-Motoren stellen mechanisch derzeit überhaupt kein Problem dar. Zudem steht sich die dreigeteilte Strömung beim Eintritt in die Zylinder gegenseitig im Weg. Im Straßenbetrieb hat die Fünfventil-Technik dagegen ihre Berechtigung. Wenn es um Abgaswerte, Verbrauch und hohes Drehmoment im unteren und mittleren Drehzahlbereich geht, spielen fünf Ventile in Verbindung mit kurzen Steuerzeiten und kleinen Ventilhüben ihre Talente aus.
Sollte sich das Paket Rossi/Yamaha YZR-M1 weiterhin als schlagkräftig herausstellen, dürfte die ungewöhnliche Motorentechnik bei den Marketing-Spezialisten und Technikern in Form einer neuen straßenzulässigen YZF-R1 bereits angedacht sein. Womöglich ist sie schon in einem Prototypen umgesetzt. Klar
ist: Der satte Donner eines großvolumigen V4-Brenners würde
mit dem monotonen Einheits-Sound in der Big-Bike-Klasse auf-
räumen. Ob sich die Vorteile beim schrägen Drift mit voller Power dem durchschnittlich talentierten Yamaha-Fahrer tatsächlich erschließen, bleibt hingegen fraglich.

Kurbelwellenkröpfung 180 Grad (M1-Motor 2003)

Bei konventioneller Bauart sind die Hubzapfen eines Vierzylinder-Reihenmotors um 180 Grad versetzt, was
zu symmetrischen Zündabständen von 180 Grad und einem ausgewogenen Massenausgleich mit geringem Vibrationsaufkommen führt. Die Zündfolge: eins, drei, vier, zwei. Wobei der erste Zylinder gegenüber zur Kraftübertragung (Primärantrieb), in Fahrtrichtung gesehen links, liegt. Die Kurbelwelle dreht sich beim M1-Motor rückwärts, wodurch deren Kreiselkräfte die der Räder zum Teil aufhebt. Dadurch wird das Motorrad handlicher, aber auch nervöser.

Kurbelwellenkröpfung 90 Grad (M1-Motor 2004)

Um die Zündfolge und somit die
Charakteristik eines 90-Grad-V4-Motors zu erreichen, arbeitet der neue M1-Motor mit einem Versatz der Hubzapfen von 90 Grad. Dabei laufen die Kolben von Zylinder eins und vier sowie zwei und drei parallel. Zylinder drei zündet nur 90 Grad nach Zylinder eins. Dann folgt eine Pause von 270 Kurbelwellengrad, bis Zylinder vier
und 90 Grad später Zylinder zwei zünden. Nachteil: Die freien Massenkräfte erster Ordnung sind im Gegensatz zu oben beschriebenem Motor nicht ausgeglichen, wodurch sich die Vibrationen verstärken.

Kraftabgabe im Vergleich

Um den Unterschied zwischen den beiden Motorbau-
arten zu verdeutlichen, wird das Antriebsmoment in
seine einzelnen Abläufe unterteilt. Beim konventionellen Motor mit 180-Grad-Versatz (grün) erzeugt der Ver-
brennungsdruck der einzelnen Zylinder über Pleuel und Hubzapfen ein Drehmoment, das sich symmetrisch alle 180 Grad wiederholt.
Beim Motor mit 90-Grad-Versatz (rot) dagegen steigt
das Drehmoment von Zylinder eins (1) nach dem Überschreiten des ersten Maximums durch den 90 Grad
später einsetzenden Arbeitstakt von Zylinder drei deutlich an. Vor Erreichen des unteren Totpunktes (UT) setzt
die Verlustleistung ein, die beim Ausschieben der Altgase und der Verdichtung des Frischgases entsteht und ein Bremsmoment erzeugt. Auch hier ist eine wellenförmige Überlagerung erkennbar (3). Zylinder zwei und vier
folgen 270 Grad später und erzeugen einen identischen Drehmomentverlauf.

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