Bevor Menschen ein Motorrad erwerben, laufen im Hirn komplexeste Abwägungsprozesse ab. MOTORRAD versucht, anhand von fünf konträren Kaufzielen die Kluft zwischen Vernunft und Wahnsinn nachzuzeichnen.
Bevor Menschen ein Motorrad erwerben, laufen im Hirn komplexeste Abwägungsprozesse ab. MOTORRAD versucht, anhand von fünf konträren Kaufzielen die Kluft zwischen Vernunft und Wahnsinn nachzuzeichnen.
Die Verkaufszahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Wir tendieren zum Kauf "vernünftiger" Motorräder, obwohl auf Messen oder Treffs die "unvernünftigen" umringt werden. Das wirft ein Licht auf den Konflikt zwischen Kopf und Bauch, der sich wohl vor jeder Kaufentscheidung in uns abspielt. Warum beeinflussen uns Kriterien wie Preis, Alltagsnutzen und Werterhalt so stark? Was bedeuten uns Design, Sound, Leistung oder Testergebnisse? Was ein spielerisches Handling und was das anspruchsvolle, tägliche Niederringen eines störrischen Bocks? Warum nicht Rock n Roll statt Ratio, warum die kleine Kawa statt der großen Liebe? Fragen, auf die auch Marktforschungsanalysen letztlich keine eindeutige Antwort geben können. In der Zeit vor dem Motorradkauf sind wir mit dem Hexenkessel unserer Gedanken allein. Dann öffnet sich der Riss zwischen Vernunft und Wahnsinn, die Kluft zwischen kühlem Rechnen und heißem Fühlen. Lesen Sie nun fünf exemplarische Geschichten zum Thema Entscheidungsfindung. Vielleicht erkennen Sie sich in der einen oder anderen wieder, spüren das pralle Motorradleben.
In schlaflosen Nächten träumen wir uns als Helden der Straße. Verstand und Tageslicht enthüllen uns andere, manchmal sogar erfreulichere Prioritäten.
Sie kennen das sicher: Sie wollen einschlafen, aber es geht nicht. Tausend Gedanken rasen durch den Kopf, lassen Sie nicht los. Sie wälzen sich hin und her. Womöglich zählen Sie Schäfchen, aber irgendwann kommen sie wieder, die Gedanken, und alles beginnt von vorn.
Auch bei Jens ist es in dieser Nacht so. Die KTM 690 Duke will ihm einfach nicht aus dem Kopf. Sie fesselt ihn, raubt ihm seit Tagen schon die letzten ruhigen Minuten, verfolgt ihn bis in den Schlaf. Dieses radikale Outfit aus scharfen Kanten und geraden Linien, so außergewöhnlich, befremdend und faszinierend zugleich. Wie alle KTM will auch diese Duke so gar nicht dem Mainstream modernen Motorraddesigns folgen. Ihre Formen, ihr Auftritt lassen Jens einfach nicht mehr los. Und dann dieser wohl rabiateste Einzylinder der Welt. Von MOTORRAD auf dem Prüfstand bestätigte satte 70 PS stark. Wow! Allein bei dem Gedanken läuft Jens ein Schauer über den Rücken. Rau soll der Single sein, ohne Umwege direkt, manchmal unerbittlich, aber niemals langweilig und schon gar nicht normal. Konstruiert für den maximalen Spaß, will er von starker Hand gezähmt werden. Nichts zum Rumrutschen oder Gassiführen ist diese KTM.
Alles hat er über die Duke gelesen. Jede Zeile in den einschlägigen Magazinen könnte er über seine KTM runterbeten. Da gibts zum Beispiel die "Unter-3000/min-Falle" die Drehzahl, unter die man den Einzylinder niemals absacken lassen darf, sonst schlägt und hackt die Kette den halben Motor entzwei, und es geht trotzdem nichts vorwärts. Wer mit der Duke tanzen will, muss lernen, mit Drehzahlen umzugehen, sie einzusetzen, permanent, hinauf bis in Regionen, wo andere Einzylinder längst die weiße Fahne schwenken.Jens sieht seine Kumpels vor sich, ahnt ihre Kommentare: Was hastn du da für ein Spielzeug gekauft! Und dann wird er ihnen und ihren vor PS strotzenden GSXen, Fireblades und ZX-10 zeigen, wo der Bartl, nein, wo der Jens den Most holt. Augen werden sie machen, wenn er zum Angriff bläst und zu guter Letzt Kreise um sie zieht. Vor seinen Augen läuft der Film von seiner Hausstrecke ab. Er sieht, wie seine Kumpels sich abmühen, auf dem kurven- und trickreichen Geschlängel zwischen Untermittelsbach und Vorderhinterkufen Boden gutzumachen. Doch Jens und seine Duke lassen sich nicht abschütteln. Der bocksteife Gitterrohrrahmen mit voll einstellbarem WP-Fahrwerk hat die Ruhe weg, und die breiten Schlappen kleben wie Uhu auf der Straße. Den Rest erledigen die satten Bremsen, die stets wie Anker wirken. Jens fackelt nicht lange, pfeffert die 160 Kilogramm Lebendgewicht an den Supersportlern vorbei ins Eck, driftet durch die Kurve, um am Ende mit abhebendem Vorderrad auf und davon zu ziehen. Obwohl Jens Nichtraucher ist, sieht er sich am Ende Zigarette rauchend auf seine Kumpels warten.
Kann man eigentlich Dinge lieben? Gegenständen Gefühle entgegenbringen, obgleich die nie erwidert werden? Wenn ja, dann kann man sie auch hassen. Beides liegt bisweilen sogar ganz dicht beieinander.
Machen wir uns nichts vor. Der Deutsche ist innerlich zerrissen. Einerseits ist er fähig zur Hingabe, wenn ihn Dinge in ihrer Radikalität, ihrer Ursprünglichkeit und ihrem Mut zur Unvollkommenheit berühren. Auf der anderen Seite steht sein unübersehbarer Hang zur Sachlichkeit, zum Rationellen, Abgeklärten. Aufs Bike bezogen bedeutet das: Am liebsten würden wir Ducati fahren aber kaufen tun wir doch lieber Yamaha. Oder so ähnlich.
Ganz so einfach ist die Sache allerdings nicht. Denn einerseits verkauft Ducati die 1098 in nicht unbeträchtlichen Stückzahlen, was für einen Restbestand erfrischender Unvernunft im Lande spricht. Und andererseits sind die meisten R1-Fahrer vermutlich in vielen Situationen froh, nicht auf einem Renner aus Bologna zu sitzen. Ein Beispiel für eine solche Situation ist: Nach einer kurzen, aber heftigen Etappe auf der Autobahn fängt unvermittelt die Spritwarnlampe an zu leuchten. Danach geht innerhalb kurzer Zeit der Saft aus, weil selbst die üblichen Tankstellen-Abstände zu lang für die kümmerliche Benzinreserve sind. Gewöhnlich passiert so etwas an einer langen Steigung, die nächste Zapfe ist zirka fünf Kilometer entfernt. Da merkt selbst ein Bodybuilder, wie schwer eine an sich federleichte 1098 werden kann.
Willkommen in der Chopperwelt. Alles, was ein Easy Rider will, kann die wassergekühlte Kawasaki VN 900 Custom. Neuronale Stürme im Belohnungszentrum des Hirns entfacht aber nur Harleys Flacheisen Rocker C.
Dreizehn große Scheine, genau 13495 Euro. Das sind 1300 Kisten Bier, genug für zehn bis 20 Jahre, je nach Durst. Das ist ein Treppenlift, oberste Preiskategorie, für meinen alten Herrn. Gäbe ihm ein neues Lebensgefühl, die steilen Stufen einfach hochzugleiten, die enge Kurve zu nehmen, entspanntes Lächeln im wettergegerbten Gesicht. Die Angst vorm Stolpern, vorm Liegenbleiben mit gebrochenen Knochen, alles passé.
Zwischen Harley-Davidson Rocker C und Kawasaki VN 900 Custom liegen nicht nur 13495 Euro, Bier-Orgien, Treppenlifte oder andere Investments. Es liegen nicht nur technologische Gräben zwischen Akashi in Japan und Milwaukee in den USA, sondern vor allem ein fischbratpfannen großes Gebilde, das wie ein Stück komprimierter Maschendrahtzaun vorn zwischen den Schleifen des Kawa-Rahmens prangt. Eine rechteckige Platte vorm Kopf, ein engstirniges Metallraster im Millimeterpapier-Design, ein Wasserkühler. Der regelt nicht nur den Wärmehaushalt des japanischen 55-Grad-V2, sondern auch die Gefühlswelt des Betrachters, indem er Authentizität aus dem Motorrad herausspült. Die verrippten Zylinder, alles Blendwerk. Der Blick auf das chromglänzende Herz der Maschine von vorn, verstellt von einer Fliegenklatsche, aus deren Feinrippstruktur nach wenigen Kilometern Insektenleichen ragen. Die Chromoberflächen, gewissermaßen das Hautorgan des Choppers, haben nicht die Tiefe des fast dreimal so teuren US-Pendants. Losgelöst davon ist die Kawa ein korrektes Motorrad. Erwachsen, lässig, ein Gleiter mit ordentlichem Fahrwerk und lebendigem Zweizylinder. Verdammt viel Motorrad für 7700 Euro. Alles, was Cruisen ausmacht, geht mit der Kawa. Zurücklehnen, über die Boulevards, durch die Landschaft fließen. Wenn überhaupt ein Japaner Langgabel-Lorbeeren gesammelt hat, dann Kawasaki. Beispiele? Die V2-Hubraumkönige VN 1500 und VN 2000. Rechtschaffen funktionierende Maschinen, denen man nicht viel vorwerfen kann, chromblitzende Trümmer, die weit weg von Leistungsfetischismus vor sich hinbollern. Das Einzige, was an allen VNs abtörnt, ist die Kühler-Bratpfanne vorn. Damit provozieren diese Japan-Chopper den Eklat, bewirken, dass bei mir Gefühl über Vernunft siegt.
Liegen zwischen Moto Morini Granpasso 1200 und BMW R 1200 GS wirklich Welten? Ist wirklich klar, welche Maschine für Vernunft und welche für Wahnsinn steht?
Mehr Vernunft geht wohl kaum noch. Wie sonst kann ein Motorrad über Jahre hinweg die Spitzenposition der deutschen Zulassungscharts für sich pachten, wenn es dafür nicht rationale Gründe gibt? Und zwar jede Menge. Auf den Punkt gebracht: Die GS ist nicht deswegen so erfolgreich, weil sie betörend aussieht oder toll klingt, sondern weil sie hierzulande als Eier legende Wollmilchsau gilt, die man außerdem noch reiten kann.
Du triffst die mächtige Gelände-Kuh vorm Eiscafé Venezia in Bielefeld, am Szenetreff Glemseck bei Stuttgart, vor der Rechtsanwaltskanzlei in München oder gleich im Rudel an der Tibethütte auf dem Stilfser Joch. Und jeder Fahrer könnte dir aus der Lameng eine Litanei an Gründen herunterbeten, warum seine GS das beste Motorrad der Welt ist. Selbst den eigentlich prohibitiven Preis von locker über 15000 Euro konfiguriert mit ein paar netten Teilen aus der üppigen Aufpreisliste der Bayern wird der GS-Fahrer mit links wegdiskutieren können. Geringer Wertverlust, Unterhalt, Nachfrage, Preis-Leistungs-Verhältnis und so weiter.
Und diese Argumentationskette hat ohne Frage eine Logik, die jeden Zweifel im Keim erstickt. Mit der GS kannst du eben fast alles machen: die große Urlaubstour zu zweit mit vollem Gepäck, der hastige Solo-Autobahntrip übers Wochenende, das spritzige Hausstreckenduell mit dem Spezl auf der Fireblade. Und wenn einen der Hafer sticht, darf es auch mal eine kleine Offroad-Eskapade sein. Außerdem gibt es Features wie ABS, ASR, ESA. Argumente, die selbst BMW-Kritikaster überzeugen müssen. Und ganz nebenbei gewinnt die Boxer-GS die Vergleichstests ihrer Kategorie. Rational spricht alles für sie. Aber es gibt da noch die andere Seite, die nicht vom Kopf gesteuert wird, sondern aus dem Bauch kommt. Selten wird als Erstes über die Lippen des typischen GS-Piloten kommen: "Ich hab sie gekauft, weil ich sie geil finde." Das sagt eher der stolze Besitzer einer Moto Morini Granpasso 1200. Zwar bemüht sich die Morini ganz tapfer, all das zu können, was die GS-BMW so erfolgreich gemacht hat. Schließlich ist das schon fast ein gattungsspezifischer Auftrag, Reise-Enduros wollen ja die Alleskönner unter den Motorrädern sein. So ist auch eine italienische Reise-Enduro wie die Granpasso quasi der Vernunft verpflichtet: Urlaubreise zu zweit, sportliches Duell, täglicher Weg zur Arbeit, alles mit ihr genauso gut machbar wie mit der GS. Oder zumindest beinahe so gut, denn in der MOTORRAD-1000-Punkte-Wertung, die die Allround-Qualitäten einer Maschine abbildet, hat die Morini gegen eine GS keine Chance. Was bleibt dem Morini-Käufer daher anderes übrig, als emotional zu argumentieren?
... oder der perfekte Seitensprung.